.Dan Cotter !!`П!XПXXX0P Q 4 4:@ S 4:S!! П /  M #CF #CF  CF C CF  CF  CF  CF  CF C CF  CF  CF  CF K@F #CK@F #CK@F #CK@F #CK@F #CK@FHK C@F@HK C@F@HK C@F@IKC@F@ @#CF @#CFFIH BF IH BF CI  BF I  C B F F %$#@#[@&*'?+Os!18"@B#88"@B#88"R@B 088"R@B 888B088B888B`$ B %p6 7Bh- -$"" %&*$$8L !@:#@B# !@:#@B# !I@:#[@B 0 !I@:#[@B 8 :B0 :B8 9Bh- #3B p6 #347B0 ??? (%"y"q@#FI#: 10*F@#KRR Z@9  0)F$P#&@%m@H8!@B#88!@B#88!I@B 088!I@B 888B088B88`8$ B , Y @#[F Y @#[F!"RK'KZ1  BRېF? ,J"R Y@@F* J"R YCI(  @ F (h !:(!3h !:(!2琴")!IIK'?SZ2 BRېF*J"R@F+K#[@F")!II'?SZ2 BRېF #CF #CF #@ F(#)#BїBЗB8 (ڀF!!!ɈB F FI FI FI" FIHFO8cHycCFOcH`ÀFO``:{FOxaaF F#CII F#CK@F#CF F#CII F#CK@F#CF K C@F#[CF#[CF#CF#CF@#CF@#@FK C@FK C@F AF F AF FCH CF@CH CBF@HF@AHF@HF@HF@HF@HF@AHF@HF@HF@HF@HF@AHF@HF@HF@HF@HF@AHF@HF@HF@HF@'@@#[ 170BӀF'@@#[Lx x$#C017BӐF'@@#[Lx x$#C017BӐF'RKRDxx$#C207BӐF'RKRDxx$#C207BӐF@𴂰'@@#[% xkFTkF\+@3@nF3TkF\+&kFT0( kFnF6vx\63C02(17BF#K@CF#BK0@CF#K0@CF##;@CB#[@BBCAF#?#@CF# A AF# A AA#CAF# A AA#CAF# A AA#CAF# #CA AF# #CA AACAF# #CA AA[CAF# #CA AA#CAF# #CA AF# #CA AA[CAF# #CA AACAF# #CA AA#CAFbCyC N6XVCN6XNC&bN3XSCKXKC&b N K1XaC  I XbCJXRBzC0XxCȀF bCyC N6XVCN6XNC&cN3XSCKXKC&c N K1XaC  I XbCJXRBzC0XxCȂF @# L!XQC  K1XUC* XRBzC XxCF!IE" pB"JpO#ppK# qG#KqqA"q rKr rrHx s@xHsF𵆰!"$ '&%="c" I|" Iv" I\" IV"!2H!1"2HHHH1H(!H!H!H<!H8H!H!~H:!}H6 #P"!"!sH2!!  !I ! !  !I y! ! ! 1 !I d! n! z! 1 2"! }2" )x!2" '1rl #P"x!0u #d"!  $ #P"x!0T #d"!  0BH #h3B!P!F-h-PBx?B`$p6#i3B& ( )90  |.||| < Y @#[F#"!I{#"IHt# "IHl"#,"H݄\2B"\*06$H@]( HI@x@ Z0 8 HIx@ Z0 8`$5,x?H H\B<<'$d )"2!1 "#!R!Hz7BR S  N )x0h I]\0$70h] **8< !IK$OJdx[ZC0 BR۰F%&$! 0:G0$ &h- - b 8!(8Jh(!8\ +)(0F$)a $B! ! ! !(8 I h8 \~**( (88 \~**(I0 h0 \~**y#*\T3 BۀF!I xE*#JxB* ъxO*xO* yK*JyG*ъyB*yA*zOzzz {JpI{QpF'81w AL% ( 0(8 @(8  (8C@ (8F (85 ( x0 p x(%p8r ( `x0`p`x(ep8 _ (8 S (8"G~ @| @|!A}!A}"B~"B~#C#C @| @|!A}!A}"B~"B~#C#C @| @|!A}!A}"B~"B~#C#C @ | @|  ! A }!A}  " B ~"B~  # C #C @| @|!A}!A}"B~"B~#C#C @| @|!A}!A}"B~"B~#C#C @| @|!A}!A}"B~"B~#C#C @| @|!A}!A}"B~"B~#C#CJJJJJJJnJJJJJJ&n&&JJJJJJJJJJJJJJJJJJnJnJJJ&&JJJJnJnJJJJJnJJJJJnJJJJ&JJJJJ&&JnnJJn&&J&&&nJJ&&nnnJ&JnJnn&nJJJn&ےJ&JJJJJJJJJ&&&Jn&nےJnJJJnJJ&JJ&JnJn&JJ&&JJnnn&nJJ&J&&nJJJnJnn&nJ&nnJ&JJJJJ&JJ&&nn&Jn&nnے&&ےJn&&n&n&&nnn&J&JJ&nJ&J&JJJJJJJJJJJJ&J&JJJJJJJJJ&&nnJn&nn&&&&nJ&&J&JJJJ&n&&JJJJJ&&J&JJ&JJJn&&JJJJJ&nnJJnJJ&&JJJJJ&n&&&nJ&JJJJJ&&&nJJJJJ&&Jn&JJJJJ&Jn&n&&JJJے&&n&nnJnnJJnJ۷nnnJJnJJJJJnJnJnJJJJnJJJJJJnnJ۷nJn۷JJJJJnJJJJJnJnnJnnJJnJJn۷JnnJJn۷JnJJnJnJJnJJnJJJnJnnnJnnJJnJJJnJJJJnJJJnJJnnJJnnJJJnnnJJJJnnJJnJnnJJnJJJnJJJJJJnJJnJJnJJJnnJnJnJ۷JJJJJJJJ۷JnJnJJnJJnnJ۷   !"#$%&'()*+,-./0123456789:;<=>?@ABCDEFGHIJKLMNO  !"#$%&'()*+,-./0123456789  !"#$%&'()*+,-./0123456789:;<=>?@ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ[\]^_`abcdefghijklmnopqrstuvwxyz{|}~|xtplhd_[WSOJFB=950,(# }yuqnjfc_\YUROKHEB?<:741/,*'%#!  !#%'*,/147:TVX|| ~Clive Barker: Das erste Buch des Blutes converted by taubstumm Cllve Barker wurde 1952 In Liverpool geboren. Fast alles, was er zunchst schrieb, war frs Theater bestimmt. Komdien, moderne Historienspiefe und Grand-Guignol-Stcke. Die dieser Gattung eigene Mischung aus komischen, dramatischen und phantastischen Elemen- ten spiegelt sich auch in Barkers Kurzgeschichten und Erzhlungen sowie in seinen Illustrationen. Fr die ersten drei Bnde des Buchs des Blutes erhielt Clive Barker 1985 den World Fantasy Award;frdie darin enthaltene Geschichte Im Bergland: Agonie der Stdte den Brl- tish Fantasy Award als beste Short Story. Zur Zeit sind drei Filme nach Erzhlungen und Drehbchern Barkers im Entstehen. Von Cllve Barker ist auerdem als Knaur-Taschenbuch erhltlich: Spiel des Verderbens (Band 1800) Vollstndige Taschenbuchausgabe 1989 1987 by Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., Mnchen Titel der Originalausgabe: Clive Barker's Books of Blood volume 1 Aus dem Englischen von Peter Kobbe Illustrationen im Textteil Johanna Nilsson Umschlaggestaltung Adolf Bachmann Umschlagillustration Marion + Doris Arnemann Druck und Bindung Ebner Ulm Printed in Germany 5 4 3 2 1 ISBN 3-426-01830-6 Clive Barker: Das erste Buch des Blutes Scanned by Doc Gonzo Knaur Fr meine Mutter und meinen Vater Blutbcher sind wir Leiber alle; wo man uns aufschlgt; lesbar rot. Inhalt Vorwort Das Buch des Blutes Der Mitternachts-Fleischzug Das Geyatter und Jack Schweineblut-Blues Sex, Tod und Starglanz Im Bergland: Agonie der Stdte Danksagung Vorwort Drinnen hatten sich die Kreaturen bereits ber ihr Nachtmahl hergemacht. Eine, sah er, zerrte gerade den blauen sen Happen eines Frauenauges aus der Hhle. Eine andere hatte eine Hand im Mund. Sind Sie noch da? Hier eine weitere Kostprobe von dem, worauf Sie sich bei Clive Barker gefat machen drfen: Jeder einzelne, ob Mann, Frau oder Kind, war augenlos in diesem brodelnden Turm. Sie sahen nur durch die Augen der Stadt. Sie waren gedankenlos, aber dazu bestimmt, die Gedan- ken der Stadt zu denken. Und sich selbst, in ihrer schwer dahinstapfenden, gnadenlosen Kraft, hielten sie fr unsterb- lich. Riesenhaft und wahnverwirrt und unsterblich. Sie sehen, da Barker als Visionr ebenso stark ist wie als Schilderer des Grlichen. Und noch ein Zitat, wieder aus einer anderen Erzhlung: Was wre denn eine Auferstehung ohne ein bichen was zum Lachen? Ich zitiere das ganz bewut als Warnung fr verzagte Gemter. Sollten Sie eine eher anheimelnde, beruhigende Variante der Horrorliteratur bevorzugen, die sowohl irreal genug ist, um sie nicht allzu ernst nehmen zu mssen, als auch vertraut genug, um das Risiko auszuschalten, da Ihnen bei der Lektre Ihre Vorstellungswelt aus den Fugen gert und Ihre vermeintlich sicher eingelullten Alptrume urpltzlich zum Leben erwa- chen, dann sind diese Geschichten nichts fr Sie. Wenn Sie andererseits Erzhlungen satt haben, die Sie in wohligen Einschlafgrusel hllen und deren Ende zugleich garantiert, da die Nachttischlampe noch an ist, ganz zu schweigen von der Parade guter, ordentlich erzhlter Geschich- ten, die nicht mehr zu bieten haben als Anleihen bei besseren Horrorautoren, von denen die Bestseller-Leserschaft noch nie etwas gehrt hat, dann werden Sie - wie ich - geradezu beglckt sein, zu entdecken, da sich Clive Barker innerhalb der Horrorliteratur der letzten Jahre als der unzweifelhaft originellste Autor erweist, und da er der im besten Sinne zutiefst schockierende Autor ist, der heute in diesem Genre arbeitet. Der Horrorstory wird hufig unterstellt, sie sei reaktionr. Gewi, manche ihrer exzellentesten Gestalter mu man so einstufen, aber diese Tendenz hat auch jede Menge unverant- wortlichen Bldsinn hervorgebracht; und es besteht kein Anla, weshalb sich das ganze Genre rckwrts orientieren sollte. Im Bereich der Phantastik sollten nur die Regeln des eigenen intuitiven Gesprs gelten, und die Clive Barkers funk- tionieren souvern, versagen nie. Zu behaupten (wie dies manche Horrorautoren meines Erachtens apologetisch tun), da sich die Horrorliteratur letztendlich mit dem befat, was uns an die Kategorien des Normalen erinnert, und sei es auch nur dadurch, da sie das bernatrliche und Fremdartige als das Abnorme vorfhrt, kommt etwa der Behauptung gleich (und dies ist offenbar die Meinung ziemlich vieler Verlagslek- toren), da die Horrorliteratur unbedingt von durchschnittli- chen Alltagsmenschen und ihrer Konfrontation mit dem abso- lut Fremden zu handeln habe. Dem Himmel sei Dank, da es niemand gelang, Poe von dergleichen zu berzeugen, und dem Himmel sei Dank fr Autoren von der Radikalitt eines Barker. Nicht, da er traditionellen Themen notwendigerweise abge- neigt wre, aber wenn er sie durchspielt, erscheinen sie in vllig neuer Gestalt. Sex, Tod und Starglanz etwa ist die ins Extrem vorangetriebene Geschichte vom Phantom im Theater. Aber die Erzhlung lotet ihr vertrautes Sujet tiefer aus als ihre Vorgnger und gelangt zu einer Schlufolgerung voll schwar- zem Humor und unheimlichem Optimismus. Das gleiche liee sich von Im Bergland: Agonie der Stdte sagen, einer beng- stigenden Vision des Grausigen, doch befinden wir uns hier zudem in der provozierenden Domne von Barkers radikaler sexueller Aufgeschlossenheit. Welche (Un-)Mglichkeiten im einzelnen diese und andere seiner Erzhlungen nahelegen, berlasse ich Ihrem Urteil. Ich habe Sie ausdrcklich gewarnt, da diese Bcher nichts sind fr ein schwaches Gemt und eine zartbesaitete Phantasie, und man tut gut daran, sich das vor Augen zu halten, wenn man sich an eine Erzhlung wie Der Mitternachts-Fleischzug heranwagt, eine Horrorgeschichte in Technicolor, die ihre Herkunft vom Zombiezeichentrickfilm nicht verleugnet, aber geistreicher und lebendiger ist als alle ihre filmischen Pen- dants. Barkers Erfindungsreichtum erinnert an die groen phantasti- schen Maler, und tatschlich fllt mir kein anderer zeitgenssi- scher Autor dieses Genres ein, dessen Werk so unberhrbar danach verlangt, illustriert zu werden. Und noch mehr Erzh- lungen gibt es: den verstrenden Schweineblut-Blues oder Das Buch des Blutes, die den prekren Balanceakt vollziehen zwischen analytischer Klarheit und Voyeurismus, ein Risiko, dem sich jede Behandlung des Themas Sadismus aussetzt Nun aber glaube ich, wird es langsam Zeit, da ich Clive Barker Platz mache. Fast siebzigtausend Wrter von ihm halten Sie jetzt in Hnden: den ersten Teil seiner Auswahl der besten Erzhlungen aus einem Schaffenszeitraum von achtzehn Monaten. Abends schrieb er die Geschichten, tagsber Theaterstcke (die, neben- bei gesagt, vor vollen Husern gespielt werden). Ich halte diese Erzhlungen fr eine erstaunliche Leistung und fr das seit vielen Jahren aufregendste Debt im Bereich der Horrorlite- ratur. Ramsey Campbell* * Geb. 1946 in Liverpool; Prsident der British Fantasy Society, Horror- und Fantasyautor; zweimaliger Preistrger des World Fan- tasy Award sowie des British Fantasy Award A. d. . Auch die Toten haben Straen. Unbeirrbar durchschneiden die Bahnen ihrer Geisterzge, ihrer Traumwaggons das dland hinter unserem Leben und befrdern einen nicht enden wollenden Strom abgeschiedener Seelen. Ihr Gestampfe und Geratter wird hrbar an den kaput- ten Schandorten der Welt, aus Spalten, die der Greuel, die Gewalttat und die Verworfenheit schlugen. Ihre Fracht, die ruhelos irrenden Toten, wird sichtbar, wenn das Herz nah am Zerspringen ist, und Bilder, die besser verborgen blieben, treten unabweislich vors Auge. Auch Wegweiser haben sie, diese Straen, und Brcken und Parkstreifen. Mautstrecken haben sie und Kreuzungen. Und gerade an diesen Kreuzungen, wo die Massen der Toten beim berqueren einander durchdringen, schwappt diese ver- botene Verkehrsader am ehesten ber - in unsere Welt hinein. uerst dicht ist der Verkehr an den Knotenpunkten, und die Stimmen der Toten sind so schrill wie nirgends sonst. Hier sind die Trennwnde zwischen der einen Wirklichkeit und der dahinter liegenden vom Vorbeiziehen unzhliger Fe ausge- hhlt. Eine derartige Kreuzung auf der Transitstrecke der Toten befand sich Tollington Place 65. Ein einzelstehendes Haus mit Backsteinfassade - imitiertes achtzehntes Jahrhundert - an der Nummer 65 war wirklich nichts Auffallendes. Das alte, unscheinbare Gebude war der billigen Pracht, die es einst fr sich beansprucht hatte, lngst entkleidet und schon seit ber zehn Jahren unbewohnt. Nicht aufsteigende Feuchte hatte die Bewohner aus Nummer 65 vertrieben, nicht die Fulnis in den Kellern oder das Absin- ken der Grundmauern, wodurch sich in der Front des Hauses ein Spalt geffnet hatte, der von der Trschwelle bis zur Dachrinne verlief, sondern das Getse des Durchgangsver- kehrs. Im oberen Stockwerk verebbte der Lrm niemals. Er trieb Risse in den Stuck der Wnde und lie das Geblk sich verziehen. Er rttelte an den Fenstern. Er rttelte auch an den Nerven. Tollington Place 65 war ein Spukhaus, und keiner konnte sich lang drin behaupten, ohne allmhlich verrdrt zu werden. Irgendwann in seiner Geschichte war in diesem Haus etwas Grliches vorgefallen. Keiner wute zu sagen, wann oder was. Aber selbst fr den unerfahrenen Beobachter war die bedrckende Atmosphre des Hauses, besonders des oberen Stockwerks, ganz unverkennbar. An Blut erinnerte und Blut verhie irgend etwas in der Luft von Nummer 65, ein Geruch, der sich in den Nebenhhlen einnistete und auch den strksten Magen umdrehte. Das Gebude und sein Inventar wurden vom Ungeziefer, von den Vgeln, sogar von den Fliegen gemieden, Keine Assel kroch in der Kche, kein Spatz nistete im Speicher. Gleichgltig, welche Gewalttat hier verbt worden war, sie hatte das Haus aufgebrochen, so wie ein Messer einen Fisch- bauch aufschlitzt; und aus diesem Einschnitt, dieser Wunde im Diesseits, meldeten die Toten sich zu Wort und traten ans Licht. So jedenfalls ging das Gercht... Die Untersuchungen in Tollington Place 65 gingen in die dritte Woche, drei Wochen eines nie dagewesenen Erfolges auf dem Gebiet des bersinnlichen. Das Institut fr Parapsy- Aologie der Universitt Essex hatte einen Zwanzigjhrigen namens Simon McNeal, ein unbeschriebenes Blatt auf diesem Gebiet, als Medium eingesetzt und dabei nahezu zweifels- freies Beweismaterial fr ein Leben nach dem Tode festhalten knnen. Im obersten Zimmer des Hauses, einem erschreckend engen, schlauchfrmigen Gela, hatte der junge McNeal allem Anschein nach die Toten herbeizitiert, und auf seine Veran- lassung hin hatten sie ausfhrlich Zeugnis von ihren Besu- chen abgelegt, indem sie mit hunderterlei Handschriften die fahlen ockerfarbenen Wnde beschrieben. Anscheinend schrieben sie, was immer ihnen gerade einfiel. Ihren Namen natrlich und ihr Geburts- und Sterbedatum. Erinnerungsfet- zen und Segenswnsche fr ihre noch lebenden Nachkom- men, merkwrdige unvollstndige Stze, die auf gegenwr- tige Qualen hinwiesen und verlorene Freuden betrauerten. Manche Handschriften waren unbedarft und hlich, manche zierlich geschwungen und weiblich. Obszne Zeichnungen und halbfertige Witze standen neben romantischen Gedicht- zeilen. Eine grob hingekritzelte Rose. Kstchen vom Schiffe versenken. Eine Einkaufsliste. Berhmtheiten waren zu dieser Klagemauer gekommen - Mussolini etwa, John Lennon und Janis Joplin -, aber auch Namenlose, Vergessene hatten sich neben den Groen einge- tragen. Das Ganze glich einem Anwesenheitsappell unter den Toten, und er nahm mit jedem Tag an Umfang zu, als habe die Mundpropaganda unter den verlorenen Horden um sich gegriffen und sie aus dem Schweigen herausgelockt, damit sie in diesem armseligen Zimmer ein Zeichen ihrer geheiligten Gegenwart hinterlieen. Nach einem arbeitsreichen Leben auf dem Feld psychologischer Forschung war Doktor Florescu mit den harten Tatsachende des Mierfolges wohlvertraut. Es hatte schon fast wieder etwas Angenehmes, sich praktisch mit der Gewiheit zufriedenzuge- ben, da sich greifbare Beweise niemals einstellen wrden. Jetzt, da sie sich einem pltzlichen und sensationellen Erfolg gegenbersah, war sie freudig erregt und verwirrt zugleich. Sie sa wie schon die ganzen drei unglaublichen Wochen im grten Zimmer des mittleren Stockwerks, eine Treppe tiefer als das Schreibe-Zimmer, und lauschte mit einer An Ehrfurcht dem tumultartigen Lrm aus dem Obergescho; sie wagte kaum zu glauben, da es ihr erlaubt war, Zeuge dieses Wunders zu sein. Winzige Brocken hatte man schon vorher aufge- schnappt, eher qulend halbgewisse Andeutungen von Stim- men aus einer anderen Welt, aber dies war das erste Mal, da jener Bereich mit Nachdruck Gehr verlangte. Im Stockwerk ber ihr hrte der Lrm auf. Mary sah auf die Uhr: Es war sechs Uhr siebzehn abends. Aus irgendeinem den Besuchern wohlbekannten Grund hielt die Verbindung nie viel lnger an als bis sechs. Mary wlbe noch bis halb sieben warten und dann raufgehen. Wie's wohl diesmal abgelaufen war? Wer wohl heute alles in dieses sch- bige Zimmer gekommen war, um seine Zeichen zu hinter- lassen? Soll ich die Kameras aufbauen? fragte Reg Fuller, ihr Assi- stent. Bitte, murmelte sie, ganz verwirrt vor Erwartung. Bin gespannt, was heute dabei rauskommt. Geben wir ihm noch zehn Minuten! Gut. Oben lie sich McNeal in die Ecke des Zimmers fallen und betrachtete die Oktobersonne durch das winzige Fenster. Er fhlte sich ein bichen eingesperrt, so ganz allein an diesem verdammten Ort, aber er lchelte noch immer vor sich hin, jenes schwache, leicht verklrte Lcheln, das selbst das wissen- schaftlichste Herz zum Schmelzen brachte - besonders das von Doktor Florescu. O ja, die Frau war betrt von seinem Lcheln, seinen Augen, dem verlorenen Gesichtsausdruck, den er fr sie parat hatte... Es war ein schnes Spiel. Wirklich, anfangs war es nichts anderes gewesen - nur ein Spiel. Jetzt wute Simon, da sie um grere Einstze spielten; was wie eine Art Lgendetektor-Test angefangen hatte, hatte sich in einen durchaus ernsthaften Wettstreit verwandelt: McNeal gegen die Wahrheit. Die Wahrheitwar einfach: Erwar ein Schwindler. Er selbst schrieb mit winzigen Bleistiftminen- stummeln, die er unter seiner Zunge verbarg, all diese Gei- sterschriften an die Wand. Er polterte laut und schlug um sich und schrie aus keinem anderen Anla, als dem blanken Ver- gngen an diesem Unfug: Und die unbekannten Namen, die er niederschrieb? Er mute lachen, wenn er nur daran dachte: Die Namen hatte er aus dem Telefonbuch. Ja, es war wirklich ein schnes Spiel. Sie versprach ihm so viel, sie kderte ihn mit Ruhm und bestrkte ihn in jeder Lge, die er sich ausdachte. Sie verhie ihm Reichtum, umschwrmte Auftritte im Fernsehen, ein Hofiertwerden, wie er es noch nie gekannt hatte. Solange er die Geister zum Vorschein brchte. Wieder lchelte er sein Lcheln. Sie nannte ihn ihren Mittler: einen unschuldigen berbringer von Botschaften. Bald wrde sie hier sein, die Augen auf seinem Krper, whrend er mit trnenerstickter Stimme ihre rhrende Aufregung ber eine neue Serie hingekritzelter Namen und Unsinnsworte unter- malte, Er hatte es gern, sich nackt oder fast nackt von ihr betrachten zu lassen. Smtliche Sitzungen liefen so ab, da er nur eine kurze Unterhose anhatte, um irgendwelche verborgenen Hilfsmittel auszuschlieen. Eine lcherliche Vorsichtsmanahme. Alles, was er brauchte, waren lediglich die Minenstummel unter seiner Zunge - sowie gengend Energie, um sich eine halbe Stunde lang auszutoben und sich dabei die Seele aus dem Leib zu schreien. Er schwitzte. Die Furche seines Brustbeins glnzte vor Nsse, Das Haar klebte an seiner bleichen Stirn. Heute war es eine ziemliche Knochenarbeit gewesen. Er freute sich darauf, bald hier rauszukommen, sich grndlich zu waschen und sich eine Zeitlang in Bewunderung zu sonnen. Der Mittler schob die Hand in seine Unterhose und spielte trge an sich herum. Irgendwo im Zimmer sa eine Fliege in der Falle - womglich waren es mehrere. Fr Fliegen eigentlich zu spt im Jahr, aber er konnte sie irgendwo in der Nhe hren. Sie surrten und rasten gegen das Fenster oder um die Glhbirne. Er hrte ihre winzigen Fliegenstimmen, aber er kmmerte sich nicht weiter darum, war zu sehr von seinen Gedanken an das Spiel in Anspruch genommen und vom reinen Wohlgefhl, sich selbst zu streicheln. Wie sie surrten, diese harmlosen Insektenstimmen, surrten und sangen und klagten. Wie sie klagten, Mary Florescu trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Ihr Ehering sa heute lose, sie sprte, wie er sich mit dem Klopf- rhythmus bewegte. Manchmal sa er fest, manchmal lose: eines dieser kleinen Geheimnisse, die sie nie genau analysiert, sondern einfach hingenommen hatte. Heute sa er sogar sehr lose: Schon glitt er ihr fast vom Finger. Sie dachte an Allans Gesicht. Allans liebes Gesicht. Durch ihren Ehering hindurch sah sie es wie tief unten in einem Schacht aufscheinen. Sollte sie sich seinen Tod so ausmalen: da es ihn hinweggetragen hatte und immer weiter wegtrug, einen Schacht hinab tief in die Finsternis ? Sie schob den Ring zurck, damit er besser hielt. Durch die Kuppen des Zeigefingers und des Daumens sprte sie beinahe den suerlichen Geschmack des Metalls auf ihrer Zunge, als sie es berhrte. Eine merkwrdige Empfindung, eine Art Sinnestuschung. Um die Bitterkeit wegzusplen, dachte sie an den Jungen. Wie von selbst tauchte sein Gesicht auf, ganz wie von selbst, und berstrmte ihr Bewutsein mit seinem Lcheln und seiner noch nicht mnnlichen unaufdringlichen Krperlichkeit, Wie bei einem Mdchen, wirklich - seine Rundungen, die frische Reinheit seiner Haut - die Unschuld. Noch immer spielten ihre Finger mit dem Ring, und die suerliche Geschmacksempfindung verstrkte sich. Sie blickte auf. Fller machte die Apparate betriebsfertig. Um seinen schon leicht kahlen Kopf flimmerte und wogte die Aura eines fahlen grnen Scheins. Pltzlich wurde ihr schwindlig. Fller sah nichts und hrte nichts. Er war, den Kopf ber die Kameras gebeugt, ganz in seine Arbeit vertieft. Mary starrte ihn immer noch an, sah den Lichthof um ihn, sprte, wie fremdartige Empfindungen in ihr aufstiegen und sie durch- schauerten. Pltzlich schien die Luft zu leben: Die nackten Molekle des Sauerstoffs, Wasserstoffs, Stickstoffs umdrng- ten sie in vertraulicher Umarmung. Die Aura um Fullers Kopf erweiterte sich, ihre Strahlen vervielfltigten sich in jedem Gegenstand des Zimmers. Auch die abnorme Empfindungsf- higkeit ihrer Fingerspitzen erweiterte sich. Sie konnte beim Ausatmen die Farbe ihres Atems sehen: ein pink-orangefarbe- ner zauberischer Schimmer in der sprudelnden Luft. Sie konnte ganz deutlich die Stimme ihres Schreibtisches, an dem sie sa, hren, das verhaltene Jammern seiner kompakten Gegenwart. Die Welt tat sich auf, strzte Marys Sinne in einen Taumel und le sie regellos die Funktionen vertauschen. Mit einemmal war sie fhig, die Welt als System zu begreifen, nicht als politisches oder religises, sondern als System der Sinne: ein System, das das lebende Fleisch genauso einschlo wie das trge Holz ihres Schreibtisches und das schale Gold ihres Eherings. Und mehr noch. Mehr als Holz und Gold. Der Spalt, der zu einer Verkehrsader fhrte, klaffte auf. Im Kopf hrte sie Stimmen, die aus keinem lebenden Mund kamen, Sie blickte nach oben, oder genauer: irgendeine Macht ri ihr gewaltsam den Kopf zurck, so da sie pltzlich zur Decke hinaufschaute. Die war von Wrmern bedeckt. Nein, das war unsinnig! Aber die Decke schien lebendig zu sein, ein Madenle- ben zu fhren - sie pulsierte, tanzte. S'ie konnte den Jungen durch die Decke hindurch sehen. Er sa auf dem Boden und hielt sein aufgerichtetes Glied in der Hand. sein Kopf war zurckgeworfen wie ihrer. Er war hingegeben in seinen Taumel wie sie. Ihr neues Sehvermgen nahm das zuckende Licht in und um seinen Krper wahr - es umkreiste die Leidenschaft, die in seinen Eingeweiden sa, und seinen Kopf, der vor Wollust zerschmolz. Und eine ganz andere Einsicht erschlo sich ihr, die Verlogen- heit, die in ihm steckte, das Fehlen jeglicher Begabung genau dort, wo sie etwas Wunderbares vermutet hatte. Er hatte gar nicht die Macht, mit Geistern in Verbindung zu treten, und er hatte sie auch nie gehabt, das sah sie nun ganz genau. Er war ein kleiner Lgner, ein Lgenbubi, ein ser, blasser Lgen- bubi ohne das Gefhl oder die Einsicht zu begreifen, was er zu tun gewagt hatte. Jetzt war das Ma voll. Die Lgen waren ausgesprochen, die Tricks waren durchgespielt, und die Menschen auf der Ver- kehrsader, ber den Tod hinaus gekrnkt ber diese Verfl- schung und Verspottung, schwirrten um den Spalt in der Wand und forderten Genugtuung. Diesen Spalt hatte sie geffnet: Sie hatte ahnungslos an ihm herumgefingert und -gefummelt und ihn langsam aufklaffen lassen. Ihr Verlangen nach dem Jungen hatte das bewirkt: Ihr endloses An-ihn-denken, ihre Frustration, ihre Geilheit und ihr Ekel vor dieser Geilheit hatten den Spalt immer weiter auseinandergezogen. Von allen Krften, die das System erfahr- bar machten, waren die Liebe und mit ihr verschwistert die Leidenschaft und wiederum mit beiden verschwistert der Ver- lust die mchtigsten. Und sie, war sie nicht die Verkrperung von allen dreien? Sie liebte, und sie begehrte, und sie sprte berdeutlich die Vergeblichkeit von beidem. Sie war gnzlich verstrickt gewesen in eine Hllenqual des Gefhls, die sie vor sich verleugnet hatte, weil sie glaubte, den Jungen einfach nur als ihren Mittler zu lieben. Das stimmte nicht! Das stimmte nicht! Sie wollte ihn haben, wollte ihn jetzt haben, tief in ihr. Nur, da es jetzt zu spt war. Der Verkehr lie sich nicht mehr verleugnen: Er forderte, ja er forderte freien Zugang zu diesem kleinen Luder. Sie war gnzlich unfhig, das zu verhindern. Nur einen winzi- gen grauenerfllten Seufzer brachte sie noch zustande, als sie sah, wie sich die Verkehrsader weit vor ihr auseinanderfaltete, und sie begriff, da das keine alltgliche Kreuzung war, an der sie standen. Fuller hrte den Laut. Frau Doktor? Er schaute von seinen Apparaten auf, und sein Gesicht, von einem blauen Licht bergssen, das sie aus den Augenwinkeln erkennen konnte, hatte einen prfenden Aus- druck angenommen. Haben Sie was gesagt? fragte er, Mit einem Vllegefhl im Magen dachte sie daran, wie das hier unweigerlich enden mute. Die thergesichter der Toten waren ganz deutlich vor ihr. Sie konnte die Tiefe ihres Leids sehen, und sie konnte Mitgefhl empfinden fr ihre hrbare Qual. Sie sah deutlich, da die Bahnen, die sich am Tollington Place kreuzten, keine alltglichen Durchgangsstraen waren. Was sie da erblickte, war nicht der sorglose, dahintrdelnde Verkehr der blichen Toten. Nein, dieses Haus fhrte zu einer Strecke, die nur von den Opfern und den Vollstreckern der Gewalt beschritten wurde: den Mnnern, den Frauen, den Kindern, die unter all jenen Qualen gestorben waren, die auszudenken ein menschliches Hirn berhaupt in der Lage war, und in deren Bewutsein die Umstnde ihres Todes unauslschlich einge- brannt waren. Beredsamer als alle Worte verkndeten ihre Augen die Hllenschmerzen, und ihre Geisterkrper waren noch von den Wunden gezeichnet, an denen sie gestorben waren. Auch konnte sie im zwanglosen Nebeneinander mit den Unschuldigen deren Schlchter und Folterer erblicken. Diese Ungeheuer, diese rasenden, geistesverwirrten Blutvergieer lugten herber ins Diesseits: beispiellose Kreaturen, nicht auszusprechende, verbotene Mirakel unserer Gattung, schnat- terten und heulten ihr irres Kauderwelsch. Jetzt bemerkte sie der Junge ber ihr. Sie sah, wie er sich in dem stillen Zimmer leicht umwandte; er begriff, da die Stimmen, die er hrte, keine Fliegenstimmen, da die Klagen keine Insektenklagen waren. Pltzlich war ihm klar, da er in einer winzigen Ecke der Welt gelebt hatte, und da alles brige, die Dritte, Vierte und Fnfte Welt gegen seinen Rcken anbrande- ten, voller Fregier und unwiderruflich. Der Anblick seines Entsetzens teilte sich ihr auch als Geruch und Geschmack mit. Ja, sie schmeckte ihn, wie sie es sich immer ersehnt hatte, aber nicht ein Ku vermhlte ihre Sinne, sondern sein wachsendes Entsetzen. Es ergriff von ihr Besitz. Ihr Einfhlungsvermgen war allumfassend. Der angsterfllte Blick war ihrer so gut wie seiner, ihre ausgedrrten Kehlen schnarrten dasselbe kleine Wort: Bitte! Das das Kind lernt. Bitte! Das Zuwendung und Geschenke bringt. Bitte! Das selbst die Toten, ja doch, selbst die Toten kennen und befolgen mssen. Heute wrde dergleichen Pardon nicht gegeben, das wute sie sicher. Diese kummervollen Geister waren auf der Transit- strecke in Verzweiflung gealtert, muten sie doch die Wunden, mit denen sie gestorben waren, weiter tragen, und die Raserei, die sie zu Schlchtern gemacht hatte. Sie hatten seinen Leicht- sinn erduldet und seine Unverfrorenheit, all den albernen Schnickschnack, seine Pfuschereien, die ihr Martyrium zum Spiel heruntermachten. Sie wollten die Wahrheit verknden. Fuller starrte sie aus der Nhe an, und sein Gesicht schwamm jetzt in einem Meer aus pulsierendem orangefarbenem Licht. Sie sprte seine Hnde auf ihrer Haut. Sie schmeckten nach Essig. Geht es Ihnen nicht gut? fragte er mit einem Atem wie aus Eisen. Sie schttelte den Kopf. Nein, es ging ihr nicht gut, nichts ging gut. Mit jeder Sekunde klaffte der Spalt weiter auf: Durch ihn konnte sie einen anderen Himmel sehen, das schieferfarbene Firmament, das finster drohend die Transitstrecke berwlbte und die vordergrndige Wirklichkeit des Hauses erdrckte. Bitte, sagte sie und verdrehte die Augen hinauf zur Decke, deren Substanz sich auflste. Weiter auf. Und noch weiter. Die zerbrechliche Welt, in der sie lebte, geriet bis zum Bersten unter Druck. Pltzlich zerbrach sie wie ein Damm, und die schwarzen Fluten strmten herein und berschwemmten das Zimmer. Fller wute, da irgendwas nicht in Ordnung war (das zeigte sich an der Farbe seiner Lichtaura, an der jhen Angst), aber er begriff nicht, was los war. Sie fhlte, da ein Schauer ber seinen Rcken lief; sie sah, wie sein Gehirn sich im Wirbel drehte. Was geht hier vor? sagte er. Die rhrende Dringlichkeit dieser Frage brachte sie fast zum Lachen. Eine Treppe hher im Schreibe-Zimmer zerschellte der Was- serkrug. Fuller wandte sich von ihr ab und rannte zur Tr. Aber whrend er sich dieser nherte, wurde sie von einem Rtteln und Beben geschttelt, als schlge die ganze Hllenbrut von der anderen Seite dagegen. Der Trgriff rotierte und rotierte. Der Lack warf Blasen. Der Schlssel erstrahlte in Rotglut. Fller wandte sich um. Doktor Florescu verharrte noch immer in dieser absonderlichen Haltung, den Kopf im Nacken, die Augen aufgerissen. Er streckte die Hand nach dem Griff aus, aber die Tr ffnete sich, noch ehe er ihn berhren konnte. Der Korridor dahinter war vllig verschwunden. Das vertraute Interieur war der bis zum Horizont reichenden Aussicht auf die Hauptverkehrsader gewichen. Der Anblick ttete Fller auf der Stelle. Dieses Panorama berstieg das Fassungsvermgen seines Bewut- seins - einer solchen berbelastung, die jeden einzelnen Nerv durchzuckte, war er nicht gewachsen. Sein Herz stand still; ein totaler Umschwung zerstrte die Ordnung seines Organismus; die Blase hielt nichts mehr, das Gedrm hielt nichts mehr, die Glieder erbebten und fielen in sich zusammen. Als er zu Boden sank, begann sein Gesicht Blasen zu werfen wie die Tr, und sein Leichnam wurde durchgerttelt wie sie. Schon war er tote Materie: fr diese Schmach so tauglich wie Holz oder Stahl. Irgendwo weiter stlich schlo sich seine Seele dem schmer- zensreichen Verkehrsstrom auf seinem Weg zur Kreuzung an, auf der er einen Augenblick zuvor gestorben war. Mary Florescu wute, da sie allein war. ber ihr wand sich kreischend der wunderbare Junge, ihr schnes betrgerisches Kind, whrend die Toten rachschtig ihre Hnde auf seine unverbrauchte Haut loslieen. Sie kannte ihre Absicht: Sie konnte sie in ihren Augen sehen - es war nichts Befremdliches daran. Jede Geschichtsschreibung kannte in ihrer berliefe- rung diese besondere Marter. Er sollte zur Aufzeichnung ihrer Botschaften an die Nachwelt dienen. Er sollte ihr Schrifttrger, ihr Buch, das Gef ihrer Lebensbeichten sein. Ein Blutbuch. Ein Buch aus Blut. Ein Buch, in Blut geschrieben. Sie dachte an die unentzifferbaren Schriftstcke, die aus toter Menschen- haut gefertigt worden waren: Sie hatte sie gesehen und berhrt. Sie dachte an die Ttowierungen, die sie gesehen hatte: Bei Monsterschauen bekommt man manche zu Gesicht, andere einfach auf der Strae bei entblten Arbeitern, die quer ber den Rcken eine Nachricht an ihre Mutter eingesto- chen tragen. Ein Buch des Blutes schreiben, dafr gab's sehr wohl Belege. Aber auf diese Haut, auf diese schimmernde Haut - mein Gott, darin lag das Verbrecherische. Er schrie, als die marternden Glasnadeln des zersplitterten Kruges gegen sein Fleisch schnellten und es aufbrachen. Sie fhlte seine Hllenqualen, als wren es ihre gewesen, und gar so schrecklich waren sie nicht... Doch er schrie. Und wehrte sich und berschttete seine Angreifer mit obsznen Verwnschungen. Sie blieben unge- rhrt. In Schwrmen umdrngten sie ihn, taub gegen alles Bitten oder Flehen, und bearbeiteten ihn mit dem bereifer von Kreaturen, die zu lange zum Schweigen verurteilt waren. Mary lauschte dem allmhlich schwcher werdenden Gejam- mer seiner Stimme, und sie wehrte sich gegen die lhmende Angst in ihren Gliedern. Sie fhlte, da sie irgendwie in das Zimmer hinaufgelangen msse. Gleichgltig, was hinter der Tr oder auf der Stiege war, er brauchte sie, und nur das zhlte. Sie erhob sich und sprte, wie ihr das Haar vom Kopf hochwir- belte und wie die Schlangenstrhnen der Gorgo Medusa abstand. Die Wirklichkeit verschwamm - ein Boden unter ihr war kaum auszumachen. Die Dielen des Hauses waren aus Geisterholz, und darunter brandete ghnend siedende Finster- nis gegen sie an. Sie sah zur Tr und war unablssig von einer stumpfen Schlfrigkeit befangen, die sich so schwer abscht- teln lie. Offensichtlich wollten sie sie da oben nicht haben. Mglicher- weise, dachte sie, frchten sie mich sogar ein wenig. Diese Vorstellung gab ihr Entschlukraft; warum sonst hatten sie's drauf abgesehen, sie einzuschchtern, wenn ihnen nicht ihre bloe Anwesenheit, da sie nun einmal dieses Loch im Diesseits aufgetan hatte, bedrohlich war? Die blasenberzogene Tr stand offen. Dahinter war die Wirk- lichkeit des Hauses gnzlich dem heulenden Chaos der Ver- kehrsader gewichen. Sie trat hinaus und konzentrierte sich ganz auf den Weg; ihr Fe berhrten immer noch festen Boden, auch wenn ihre Augen ihn nicht mehr ausmachen konnten. Der Himmel ber ihr war preuisch-blau, die Strae war breit und windig, auf beiden Seiten drngten sich die Toten. Sie kmpfte sich voran wie durch eine lebende Men- schenmasse, whrend die glotzenden, verbldeten Gesichter den Eindringling voller Ha anstarrten. Jetzt war's aus mit dem Bitte. Sie sagte nichts mehr; knirschte nur mit den Zhnen, vermied es, die Verkehrsader anzusehen, soweit es eben ging, und zwang ihre Fe auf der Suche nach der Treppe, von der sie wute, da sie da war, vorwrts. Sie strauchelte, als sie daranstie, und ein Geheul stieg auf aus der Menge. Sie htte nicht sagen knnen, ob sie ber ihre Unbeholfenheit lachten oder Alarm schlugen, weil sie bereits so weit gekommen war. Erste Stufe. Zweite Stufe. Dritte Stufe. Obwohl von allen Seiten an ihr gezerrt wurde, setzte sie sich allmhlich gegen die Menge durch. Droben, durch die Zim- mertr hindurch konnte sie sehen, wie ihr kleiner Schwindler hingestreckt unter dem Schwrm seiner Angreifer in der Ecke lag. Seine Unterhose hing um die Fugelenke: Die Szene hatte etwas von einer Vergewaltigung. Er schrie nicht mehr, aber sein Blick war verstrt vor Entsetzen und Qual. Wenigstens lebte er noch. Die natrliche Flexibilitt seines jungen Bewut- seins hatte sich halbwegs mit dem Schauspiel, das sich vor ihm auftat, abgefunden. Pltzlich ri es ihm den Kopf herum, und er schaute sie an, direkt durch die Tr. In dieser Grenzsituation brachte er eine echte Begabung zutage, nur einen Bruchteil von der Marys, aber hinreichend, um mit ihr in Verbindung zu treten. Ihre Blicke begegneten sich. In einem See aus blauer Finsternis, ringsum eingesumt von Vertretern einer Welt, die sie weder kannten noch begriffen, begegneten sich ihre glhenden Her- zen und schmolzen ineinander. Es tut mir leid, sagte er leise. Es war unendlich bejammerns- wrdig. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Er sah weg, sein Blick ri sich von ihrem los. Sie war sicher, da sie fast auf der obersten Stufe sein mute, wenngleich ihre Fe dem Augenschein nach nur auf Luft traten und sie die Gesichter der Reisenden von oben, von unten und von beiden Seiten umstarrten. Aber ganz vage konnte sie den Umri der Tr, die Dielen und das Geblk des Zimmers sehen, in dem Simon lag. Er war jetzt von Kopf bis Fu eine einzige blutige Masse. Sie konnte die Zeichen, die Hierogly- phen, auf jedem Zentimeter seines Leibes, seines Gesichts, seiner Glieder sehen. Einen Moment lang schien er blitzartig in eine halbwegs klare Perspektive zu rcken, und sie konnte ihn in dem leeren Zimmer sehen; die Sonne schien durchs Fenster, und der zersplitterte Krug lag neben ihm. Aber dann versackte ihre Konzentration wieder, und sie sah die unsichtbare Welt sichtbar werden. Er war wieder aufgehngt in der Luft, wh- rend sie ihn von allen Seiten beschrieben, ihm die Kopf- und Krperhaare ausrissen, um die Schreibflche zu subern; und sie schrieben in seine Achselhhlen, sie schrieben auf seine Augenlider, sie schrieben auf sein Geschlecht, in die Furche seiner Hinterbacken, auf seine Fusohlen. Beiden Sehweisen waren lediglich die Wunden gemeinsam. Ob sie ihn nun von den Schreibenden bedrngt oder allein im Zimmer sah, er blutete unaufhrlich. Jetzt hatte sie die Tr erreicht. Sie streckte ihre zitternde Hand aus, um den Griff in seiner kompakten Wirklichkeit zu berh- ren, aber selbst unter Aufwendung all ihrer Konzentrationsf- higkeit nahm dieser keine klareren Konturen an. Nur auf ein Geisterbild konnte sie ihre Aufmerksamkeit richten, doch das gengte. Sie packte den Griff, drckte ihn nieder und ri die Tr des Schreibe-Zimmers auf. Er war da, direkt vor ihr. Nicht mehr als zwei, drei Meter von Besessenheit geschwngerter Luft trennten sie. Wieder schau- ten sie sich in die Augen, und ein vielsagender Blick, wie er in der Welt der Lebenden genauso verstanden wird wie in der der Toten, ging vom einen zum anderen. Mitleid war in diesem Blick und Liebe. Die vorgetuschten Tatsachen schwanden dahin, die Lgen zerfielen zu Staub. An Stelle des kalt dosier- ten Gelcheis des Jungen trat eine sanfte Warmherzigkeit - die sich in ihrem Gesicht widerspiegelte. Und die Toten drehten, verngstigt vor diesem Anblick, die Kpfe weg. Ihre Gesichter spannten sich, als wrde die Haut bis zum Zerreien ber die Knochen gezogen. Blutergufarben verfinsterte sich ihr Fleisch, ihre Stimmen wurden melancho- lisch angesichts der bevorstehenden Niederlage. Sie streckte die Hand aus, um ihn zu berhren, und sie mute sich nicht mehr gegen die Horden der Toten wehren; allseits fielen sie ab von ihrer Beute wie sterbende Fliegen, die vom Fenster purzeln. Sie berhrte ihn zart im Gesicht. Ihn berhren hie ihn segnen. Tranen fllten seine Augen und liefen seine aufgeritz- ten Wangen hinab, vermischten sich mit dem Blut. Die Toten hatten jetzt keine Stimmen mehr, nicht einmal Mnder. Sie verloren sich entlang der Verkehrsader, und ihre Bosheit fiel der Verdammnis anheim. Schicht um Schicht gewann das Zimmer allmhlich seine vertraute Gegenstndlichkeit zurck. Die Bodenbretter wur- den unter seinem vom Schluchzen geschttelten Krper sicht- bar, jeder Nagel, jede befleckte Diele. Die Fenster traten klar ins Bild, und drauen hrte man Kindergeschrei auf der dm- merigen Strae. Der Transitweg hatte sich dem lebenden Menschenauge vollstndig entzogen. Seine Reisenden harten ihr Gesicht der Finsternis zugewandt und waren hingeschwun- den ins Vergessen; nur ihre Zeichen und Talismane hatten sie in der greifbaren Welt zurckgelassen. Auf dem mittleren Treppenabsatz der Nummer 65 wurde der qualmende und blasenberste Krper Reg Fullers achtlos von den Fen der Reisenden durchschritten, wenn sie die Kreu- zung berquerten. In dem Gewhl kam schlielich auch Ful- lers eigene Seele vorbei und schaute hinunter auf das Fleisch, das ihn einst beherbergt hatte, dann drngten ihn die Massen weiter seiner Verurteilung entgegen. Einen Stock hher kniete im dunkel werdenden Zimmer Mary Florescu neben dem kleinen McNeal und streichelte seinen blutbesudelten Kopf. Sie wollte erst aus dem Haus gehen, um Hilfe zu holen, wenn sie vllig sicher war, da seine Schinder nicht zurckkehren wrden. Ganz still war es, bis auf das Summen eines Jets, der sich in der Stratosphre seinen Weg Richtung Sonnenaufgang bahnte. Sogar der Atem des Jungen ging nun ruhiger und gleichmig. Keine Lichtaura umstrahlte ihn. Alle Sinne arbeiteten normal. Gesicht. Gehr, Tastsinn. Der Tastsinn. Sie berhrte ihn jetzt, wie sie es nie zuvor gewagt hatte, strich mit den Fingerspitzen ganz, ganz leicht ber seinen Krper, lie ihre Finger ber die von Erhebungen aufgerauhte Haut gleiten wie eine Blinde beim Lesen der Blindenschrift. Jeder Millimeter seines Krpers war in vielen Handschriften mit winzig kleinen Wrtern bedeckt. Selbst unter dem Blut konnte sie die peinlich genauen Linien, die die Wrter in ihn geritzt hatten, wahrnehmen. Sie konnte sogar beim verdmmernden licht gelegentlich einen Satz lesen. So war es ohne den leise- sten Zweifel, und sie wnschte, mein Gott, sie wnschte so sehr, sie wre nicht darauf gestoen. Und doch, nach einem Leben bloer Erwartung, hier war sie endlich: die Offenbarung des Lebens jenseits des Fleisches, ins Fleisch selbst geschrieben. Der Junge wrde berleben, soviel war sicher. Schon trocknete das Blut, heilten die abertausend Wunden. Immerhin war er gesund und stark: Er wrde keinen schwerwiegenden krperli- chen Schaden davontragen. Natrlich war seine Schnheit fr immer dahin. Von jetzt an wrde er bestenfalls Neugier erwek- ken und schlimmstenfalls Abscheu und Grausen hervorrufen. Aber sie wrde ihn beschtzen, und er wrde mit der Zeit lernen, sie zu verstehen und ihr zu vertrauen. Unauflsbar waren ihre Herzen aneinandergebunden. Und in absehbarer Zeit, wenn die Worte auf seinem Krper verschorft und vernarbt wren, wrde sie ihn lesen. Mit grenzenloser Liebe und Geduld wrde sie den Geschichten nachspren, die die Toten auf ihm erzhlt hatten. Der Bericht auf seinem Unterleib, abgefat in zierlicher Kur- sivschrift. Die Lebensbeichte, die sich in gestochen eleganten Druckbuchstaben ber Gesicht und Kopfhaut hinzog. Die Geschichte auf seinem Rcken und die auf seinem Schienbein, auf seinen Hnden. Sie wrde sie alle lesen, alle verffentlichen, noch die aller- letzte Silbe, die unter ihren anbetenden Fingern aufglnzte und hervorsickerte, damit die Welt die Geschichten erfhre, die die Toten erzhlen. Er war ein Blutbuch und sie sein einziger bersetzer. Mit Anbrach der Dunkelheit stellte sie ihre Wache ein und fhrte ihn, nackt, in die lindernde Nacht hinaus. Und hier sind die ins Buch des Blutes geschriebenen Geschich- ten. Ertragreiche Lektre, lieber Leser, wenn's beliebt! Sie sind eine Karte jener dunklen Transitstrecke, die ber den Bezirk des Lebens hinaus zu unbekannten Reisezielen fhrt. Wenige werden sich fr sie entscheiden mssen. Die meisten werden friedlich lampenhelle Straen entlanglaufen und aus ihrem Dasein hinausgebetet und hinauskaressiert werden. Aber eine kleine Schar, eine auserwhlte kleine Schar wird vom kalten Grausen heimgesucht werden, weggerissen und fortge- schleppt auf die Transitstrecke der Verdammten. Also dann ertragreiche Lektre, lieber Leser! Noch eins: Am besten macht man sich aufs Schlimmste gefat, und ratsam ist es, erst einmal die Gangart zu erlernen, ehe einem die Luft fr immer wegbleibt. Fr Leon Kaufman war die Stadt keine unbekannte Gre mehr. Die Hochburg der Wonnen, so hatte er sie immer genannt in den Tagen seiner Unschuld. Aber da hatte er noch in Atlanta gewohnt, und New York war damals eine Art gelobtes Land gewesen, in dem alles nur Erdenkliche mglich war. Jetzt wohnte Kaufman schon dreieinhalb Monate in der Stadt seiner Trume, und die Hochburg der Wonnen war augen- scheinlich alles andere als wonnig. War's wirklich nur ein gutes Vierteljahr her, seit er aus dem Port-Authority-Busbahnhof herausgetreten war und die 42. Strae Richtung Broadway-Kreuzung hinaufgeschaut hatte? Ganz schn kurz die Zeit fr den Verlust so vieler lieb geht- schelter Illusionen. Jetzt war ihm schon der bloe Gedanke an seine kindische Arglosigkeit peinlich. Er zuckte frmlich zusammen, wenn er sich dran erinnerte, wie er dagestanden und hinausposaunt hatte: New York, ich Hebe dich. Liebe? Nie und nimmer. Allenfalls war's blinde Betrung gewesen. Und jetzt, nach nur dreimonatigem Zusammenleben mit dem Gegenstand seiner Anbetung, nachdem er seine Tage und Nchte in ihrer Gegenwart zugebracht hatte, hatte die Stadt den Schmelz ihrer Vollkommenheit eingebt. New York war eine Stadt wie jede andere. Er hatte sie erwachen sehen, morgens, wie eine Schlampe, die sich die Ermordeten aus den Zwischenrumen ihrer Zhne und die Selbstmrder aus den Strhnen ihrer Haare pult. Er hatte sie spt nachts gesehen, wenn ihre schmutzigen abgelegenen Straen schamlos dem Laster huldigten. Er hatte sie am heien Nachmittag beobachtet, trag und widerwrtig, ungerhrt von den Greuelszenen, die sich zu jeder Stunde im Wrgestau ihrer Passagen abspielten. Sie war keine Hochburg der Wonnen. Tod brachte sie hervor, nicht Lust. Jeder, mit dem er zu tun hatte, war irgendwie mit Gewalt in Berhrung gekommen; das gehrte hier einfach zum Leben. Es war fast schon schick, jemand gekannt zu haben, der eines gewaltsamen Todes gestorben war. Das war wie ein Beweis dafr, da man in dieser Stadt lebte. Aber Kaufman hatte New York fast zwanzig Jahre lang aus der Ferne geliebt. Seit er erwachsen war, hatte er nahezu aus- schlielich auf die Verwirklichung seiner Liebesbeziehung hin- gearbeitet. Es war demnach nicht einfach, diese Leidenschaft abzuschtteln, als ob er sie nie tief empfunden hatte. Noch gab es Stunden, ganz frh vor dem Einsetzen der Polizeisirenen oder bei Anbruch der Dmmerung, in denen Manhattan immer noch ein Wunder war. Wegen dieser Augenblicke und seinen Trumen zuliebe legte er noch immer den vorhandenen Zweifel zu ihren Gunsten aus, selbst dann, wenn ihre Manieren alles andere als damenhaft waren. Sie machte einem diese verzeihende Nachsicht nicht leicht. Whrend der wenigen Monate, seit Kaufman in New York lebte, waren ihre Straen vom Blutvergieen geradezu ber- schwemmt worden. Genaugenommen waren es nicht so sehr die Straen selbst, sondern die Tunnelstrecken unter diesen Straen. Schlachthaus U-Bahn lautete das Schlagwort des Monats. Allein in der vorigen Woche war ber drei Metzeleien berichtet worden. Man hatte die Leichen in einem der U-Bahn-Waggons der Linie Avenue of the Americas entdeckt; sie waren aufge- schnitten und teilweise ausgeweidet, ganz so, als wre ein tchtiger Schlchter bei seiner Arbeit unterbrochen worden. Das Blutbad war so durch und durch professionell, da die Polizei jeden aktenkundigen Mann verhrte, der in seiner Vergangenheit irgendeine Verbindung zum Metzgergewerbe aufwies. Die Fleischverpackungsbetriebe im Hafengebiet stan- den unter berwachung, die Schlachthuser wurden fieberhaft nach Spuren untersucht. Die schnelle Ergreifung des Tters wurde in Aussicht gestellt, gelang aber nicht. Dieses Leichentrio war nicht das erste, das man in einem solchen Zustand vorfand; genau an dem Tag, an dem Kaufman ankam, war in der Times eine Geschichte aufgetaucht, die noch immer den Gesprchsstoff fr blutrnstigen Brotratsch lieferte. Es hie, da ein deutscher Tourist, der sich spt nachts im U-Bahn-System verirrt hatte, in einem Zug auf eine Leiche gestoen war. Beim Opfer handelte es sich um eine gut gebaute, attraktive, dreiigjhrige Frau aus Brooklyn. Voll- kommen nackt; alles war ihr abgenommen worden. Jedes Fitzchen Kleidung, jegliches Stck Schmuck, sogar die Knopf- clips an ihren Ohrlppchen. Befremdlicher als die Entkleidung war aber, da die Kleidungs- stcke feinsuberlich und penibel zusammengelegt in einzelne Plastiktten auf der Sitzbank neben der Leiche deponiert wor- den waren. Das war nicht die Handschrift eines drauflosschneidenden Chaoten. Das hatte Stil und Methode: Ein Wahnsinniger mit ausgeprgtem Ordnungssinn steckte dahinter. Und weiter: Noch befremdlicher als die sorgsame Zurschau- stellung der Leiche war die grausige Besessenheit, mit der diese durchgefhrt worden war. Den Pressemeldungen zufolge, wenn auch von der Kriminalbehrde nicht besttigt, war der Krper aufs grndlichste rasiert worden. Jedes Haar war ent- fernt worden: vom Kopf, von der Schamgegend, aus den Achselhhlen; alles geschoren und bis aufs Fleisch blankge- schabt. Selbst die Augenbrauen und Wimpern hatte man dem Opfer ausgezupft. Und schlielich war dies Stck Fleisch nackter als nackt mit dem Kopf nach unten an einem der in der Dachwlbung des Waggons angebrachten Haltegriffe aufgehngt worden. Ein schwarzer, mit einer schwarzen Plastiktte ausgeschlagener Plastikeimer war unter den Leichnam gestellt worden, um das stndig aus den Wunden strmende Blut aufzufangen. In diesem Zustand, entblt, rasiert, aufgehngt und praktisch kreidebleich ausgeblutet, hatte man den Krper von Loretta Dyer gefunden. Es war ekelerregend, es war sauberste Arbeit, und es verwirrte zutiefst. Keine Vergewaltigung hatte stattgefunden, und nichts lie auf eine Schinderei schlieen. Die Frau war schnell und zweck- dienlich wie ein Schlachtvieh zu Tode gebracht worden. Und noch immer lief der Schlchter frei herum. Die Stadtvter hatten, weise wie sie waren, eine vollstndige Nachrichtensperre ber das Gemetzel verordnet. Es hie, da der Mann, der den Krper gefunden hatte, in New Jersey in Schutzhaft sei, auer Reichweite fr neugierige Journalisten. Aber alles Vertuschen hatte nichts gefruchtet. Ein lsterner Cop hatte die wichtigsten Einzelheiten gegenber einem Reporter der Times durchsickern lassen. Jeder in New York kannte jetzt die scheuliche Geschichte von den Abschlachtun- gen. Sie war Gesprchsthema in jedem Delikatessenladen und jeder Bar und, selbstredend, in der U-Bahn. Aber Loretta Dyer war nur die erste gewesen. Nun war man unter genau den gleichen Umstnden auf jene drei weiteren Leichen gestoen, obwohl diesmal die Arbeit offensichtlich gestrt worden war. Nicht alle drei Krper waren rasiert, auch die Schlagadern waren nicht durchtrennt, um die Leichen ausbluten zu lassen. Besonders augenfllig war aber folgender Unterschied: Kein ahnungsloser Tourist war zufllig mit dem Anblick konfrontiert worden, diesmal kndete ein Bericht in der New York Times von der Entdeckung. Kaufman ging den Bericht durch, der auf der Titelseite der Zeitung abgedruckt war. Ihn interessierte die Geschichte, ganz im Unterschied zu dem Mann gleich neben ihm an der Theke des Delikatessenladens, nicht bermig. Er empfand lediglich ein leichtes Ekelgefhl, immerhin Grund genug, seinen Teller mit zu hart gekochten Eiern beiseite zu schieben. Das war einfach wieder ein Beleg fr die morbide Verkommenheit seiner Stadt. Er konnte sich an ihrer Krankheit nicht weiden. Und doch - man war ja ein menschliches Wesen - lieen sich die bluttriefenden Details auf der Seite da vor ihm nicht ganz verdrngen. Der Artikel war ohne Effekthascherei geschrie- ben, aber die ungeknstelte Klarheit des Stils machte das Thema nur noch bengstigender. Auch er fragte sich unwill- krlich, welcher Mensch hinter den Abscheulichkeiten stecken mochte. Lief da ein Psychotiker frei herum, oder waren es mehrere, von denen jeder versuchte, das ursprngliche Mord- muster zu kopieren? Womglich war dies nur der Anfang des Grauens. Vielleicht folgten weitere Morde, bis sich endlich der Mrder, bermtig oder ausgebrannt, doch zu weit vorwagen und gefat werden wrde. Bis dahin wrde die Stadt, Kauf- mans angebetete Stadt, in einem eigenartigen Schwebezustand zwischen Hysterie und Hingerissensein leben. Gleich neben Kaufman stie ein brtiger Mann seinen Kaffee um. Scheie! sagte er. Kaufman rckte auf seinem Hocker zur Seite, um dem Kaffee auszuweichen, der von der Theke heruntertrpfelte. Scheie, sagte der Mann nochmals. Nix passiert, sagte Kaufman. Mit leicht verchtlichem Gesichtsausdruck sah er den Mann an. Der ungeschickte Kerl machte jetzt Anstalten, den Kaffee mit einer Serviette aufzusaugen, die bei diesem Versuch zu Pampe wurde. Unwillkrlich fragte sich Kaufman, ob dieser Tlpel mit rosi- gen Backen und ungepflegtem Bart fhig wre, einen Mord zu begehen. Gab's irgendein Zeichen in diesem vollgefressenen Gesicht, irgendeinen Hinweis in der Form seines Kopfes oder der Bewegung seiner kleinen Augen, die sein wahres Wesen verraten htten? Jetzt sagte er was. Mg'n Sie 'n neuen? Kaufman schttelte den Kopf. Kaffee, 'n einfachen. Schwarz, sagte der Bldmann zu dem Mdchen hinter der Theke, das gerade das kalte Fett aus dem Grill kratzte. Sie schaute auf. Hm? Kaffee. Wohl schwerhrig? Der Mann grinste Kaufman an. Schwerhrig, sagte er. Kaufman bemerkte, da ihm im Unterkiefer drei Zhne fehlten. Sieht bs aus, eh? sagte der Mann. Was meinte er damit? Den vergossenen Kaffee? Seine Zahn- lcken? Drei Leute, aufgeschlitzt. Einfach so. Kaufman nickte. Gibt einem zu denken, sagte der andere. Logisch. Schtze, da wird alles vertuscht, oder? Die wissen, wer's war. Lcherliches Geschwafel, dachte Kaufman. Er nahm seine Brille ab und steckte sie in die Tasche: Die Konturen des brtigen Gesichts verschwammen. Wenigstens das war ein Fortschritt. Dreckskerle, sagte der Mann. Schei-Dreckskerle, die ganze Bande. Jede Wette, sag' ich Ihnen, da hier was ver- tuscht wird. Was denn? Die haben Beweise, nur uns lassen sie beschissenerweise im dunkeln rumtappen. Irgendwas ist da am Werken, was Un- menschliches. Kaufman begriff. Der Bldmann wollte auf eine Verschw- rungstheorie hinaus. Dergleichen hatte er sich schon oft anhren mssen: ein Allheilmittel. Schaun Sie, die klonen rum mit ihren Retorten, und dann gert ihnen das Zeugs auer Kontrolle. Die knnten Wahn- sinnsmonster zchten, wei doch jeder. Irgendwas ist da drunten am Werken, ber das sie uns nichts sagen wollen. Sie vertuschen alles, meine Rede. Jede Wette, sag' ich Ihnen. Kaufman fand die Unbeirrbarkeit des Mannes gar nicht ohne. Monster auf der Pirsch. Sechs Kpfe, ein Dutzend Augen, Warum nicht? Darum nicht. Das htte seine Stadt von Schuld freigesprochen: Damit wre sie aus der Klemme. Und Kaufman war zutiefst berzeugt, da die Monster, auf die man in den U-Bahn- Tunnels stoen wrde, durch und durch menschlich waren. Der Brtige warf sein Geld auf die Theke, erhob sich und lie seinen fetten Hintern vom fleckigen Plastikhocker gleiten. Wahrscheinlich so ein Schei-Cop, sagte er und nahm Anlauf zu einem letzten Deutungsversuch: Wollte 'nen Schei-Helden machen, is' aber 'n Schei-Monster dabei raus- gekommen. Er grinste verzerrt. Jede Wette, hngte er noch dran und stapfte ohne ein weiteres Wort schwerfllig hinaus. Kaufman atmete langsam durch die Nase aus und sprte, wie die Anspannung in seinem Krper abebbte. Er hate solche Begegnungen, bei denen er sich sprachlich wie gelhmt und kraftlos fhlte. Und, weil er gerade daran dachte, er hate diese Sorte Mensch: den rechthaberischen, sturen Rohling, eine typische Ausgeburt New Yorks. Es ging auf sechs, als Mahogany erwachte. Der morgendliche Regen hatte sich mit Anbruch der Abenddmmerung in ein leichtes Nieseln verwandelt. Die Luft roch so rein, wie sie's in Manhattan allenfalls werden konnte. Er rkelte sich auf seinem Bett, warf die schmuddelige Decke ab und stand auf zur Arbeit, Vor dem Badezimmerfenster tropfte der Regen auf den Kasten der Klimaanlage, sein rhythmisches Gepltscher klang durch die ganze Wohnung. Mahogany schaltete den Fernseher ein, um das Gerusch zu bertnen; es war ihm vllig gleich, welches Progamm gerade lief. Er ging zum Fenster. Sechs Stockwerke tiefer stauten sich in der Strae Verkehr und Menschen. Nach harter Tagesarbeit war ganz New York auf dem Weg nach Hause: zum Spiel, zur Liebe. Menschen fluteten aus den Bros und in die Autos. Manche waren nach der schweitreibenden Arbeit in einem schlecht gelfteten Bro sicher ziemlich gereizt; andere schlenderten, gutmtig wie Schafe, die Ave- nues hinunter heimwrts, begleitet von einem nicht enden wollenden Strom aus Leibern. Wieder andere wurden eben jetzt in der U-Bahn aneinandergepfercht, blind fr die Graf fiti an den Wanden, taub fr das Gemurmel ihrer Stimmen und das kalte Getse im Tunnel. Sich das auszumalen, machte Mahogany Freude. Er war schlielich keiner vom blichen Haufen. Er konnte an seinem Fenster stehen, auf Tausende von Kpfen da unten schauen und sich sagen, da er ein Auserwhlter war. Natrlich hatte auch er unumstliche Termine einzuhalten, wie die Leute auf der Strae. Aber seine Arbeit hatte mit deren sinnloser Plackerei nichts zu tun, sie glich eher einer heiligen Pflicht. Auch er mute fr sein Leben sorgen und schlafen und schei- en wie sie. Aber ihn trieb nicht zwangslufiger Gelderwerb an, er gehorchte den Forderungen der Geschichte. Er stand in einer groen Tradition, die noch weiter zurck- reichte als die Geschichte Amerikas. Er war ein schleichender Jger der Nacht: wie Jack the Ripper, wie Gilles de Retz, eine fleischgewordene Verkrperung des Todes, ein Gespenst mit menschlichem Antlitz. Er war einer, der den Schlaf heimsuchte und Schreckensngste erweckte. Die Leute dort drunten konnten sein Gesicht nicht kennen; auch wrden sie's nicht der Mhe wert finden, ihn zweimal anzusehn. Sein Blickstrahl aber wrde sie sich greifen und sie sorgsam abwgen, um dann nur die gereif testen Exemplare aus der vorbeiziehenden Parade zu erlesen, denn nur die ganz Gesunden und die Jungen waren auserwhlt, unter seinem gebenedeiten Messer zu fallen. Manchmal drngte es Mahogany, der Welt seine wahre Identi- tt zu verknden, aber er hatte Verpflichtungen, und die lasteten schwer auf ihm. Ruhm konnte er sich nicht erhoffen. Ihm war ein Leben hinter den Kulissen bestimmt, und nur der Stolz war's, der nach Anerkennung drngte. Und berhaupt, so fragte er sich, begrt denn das Rind ehrerbietig den Fleischer, wenn es in die Knie bricht? Alles in allem, er war's zufrieden. Teil jener groen Tradition zu sein, das war genug und mute immer genug bleiben. Seit neuestem jedoch gab es Ermittlungen. Natrlich waren sie nicht auf sein Versagen zurckzufhren. Man konnte unmg- lich ihm die Schuld anlasten. Aber es waren schlimme Zeiten. Das Leben war nicht so einfach wie noch vor zehn Jahren. Freilich, er war genau um diese Spanne lter geworden, und das machte die Aufgabe strapaziser; und immer strker lastete die Verpflichtung auf seinen Schultern. Er war ein Auserwhlter, und dieses Privileg machte das Leben schwierig. Hin und wieder fragte er sich, ob es nicht an der Zeit sei, sich zu berlegen, einen jngeren Mann fr seine Aufgaben auszubil- den. Man wrde notwendigerweise die Stadtvter konsultieren mssen, aber frher oder spter mute er einen Ersatz finden, und es wre, das fhlte er, ein strfliches Brachliegenlassen seiner Erfahrung, keinen Lehrling aufzunehmen. Er konnte so viele meisterlich beherrschte Techniken weiterge- ben. Die Finessen seines auerordentlichen Gewerbes: die beste Art, sich anzuschleichen, zu schneiden, zu entblen, auszublu- ten; das beste geeignete Fleisch; die einfachste Art, das Restliche loszuwerden; so viele Details, ein so groes Sachwissen. Mahogany schlenderte ins Bad und lie die Dusche laufen. Als er unter den Strahl stieg, sah er an seinem Krper hinunter, auf den leichten Bauchansatz, die grau werdenden Haare auf seiner einsinkenden Brust, die Narben und Pusteln, die seine blasse Haut verunzierten. Er wurde alt. Dennoch, heute nacht hatte er wie jede andre Nacht sonst auch eine Aufgabe zu erledigen,.. Kaufman eilte mit seinem Sandwich hastig in die Eingangshalle zurck, schlug den Kragen runter und strich sich den Regen aus den Haaren. Die Uhr berm Aufzug zeigte sechzehn nach sieben. Bis zehn wrde er durcharbeiten, keinesfalls lnger. Der Aufzug befrderte ihn in den zwlften Stock zum Pappas- Brotrakt. Bedrckt zockelte er durch das Labyrinth leerer Schreibtische und zugedeckter Maschinen zu seinem kleinen Hoheitsbereich, in dem das Licht noch brannte. Die Frauen, die die Bros reinigten, tratschten drauen auf dem Flur: ansonsten war's hier oben wie ausgestorben. Er zog den Mantel aus, schttelte von ihm den Regen ab, so gut er konnte, und hngte ihn auf. Dann setzte er sich vor die Stapel von Auftrgen, mit denen er sich den Groteil der letzten drei Tage herumgeschlagen hatte, und begann mit der Arbeit. Nur noch einen Abend wrde die Plackerei dauern, dann wre der grbste Teil der Arbeit bewl- tigt, da war er sich sicher, zumal es ihm zu dieser Tageszeit ohne den unablssigen Lrm der Schreibkrfte und Maschinen um ihn herum leichter fiel, sich zu konzentrieren. Er wickelte sein Sandwich aus-Schinken auf Vollkornbrot mit extra Mayonnaise - und richtete sich auf den langen Abend ein. Jetzt war es neun. Mahogany war fr die Nachtschicht gekleidet. Er hatte den blichen gedecktfarbenen Anzug an, dazu die suberlich gebundene braune Krawatte und die silbernen Manschetten- knpfe (ein Geschenk seiner ersten Frau), die in den Umschl- gen seines makellos gebgelten Hemds steckten; sein schtte- res Haar glnzte vor l, seine Ngel waren geschnitten und poliert, sein Gesicht von Klnischwasser gertet. Seine Tasche war gepackt: die Handtchter, die Werkzeuge, seine Kettenpanzerschrze. Er prfte sein Erscheinungsbild im Spiegel. Man konnte ihn, fand er, noch immer fr einen Mann um die fnfundvierzig, allenfalls fnfzig halten. Als er sein Gesicht musterte, rief er sich seine Verpflichtung ins Gedchtnis. Vor allem hie es vorsichtig sein. Bei jedem Schritt seines Weges heute nacht ruhten Augen auf ihm, die sein Auftreten beobachteten und ihre Schlsse daraus zogen. Er mute daherkommen wie ein Unschuldiger und durfte keinen Verdacht erregen. Wenn die nur wten! dachte er. Die Leute auf der Strae, die an ihm vorbeigingen, -rannten, -sprangen, die mit ihm zusam- menprallten, ohne sich zu entschuldigen, die seinem Blick voll Verachtung begegneten, die seinen massigen Krper belchel- ten, der sich in dem schlecht sitzenden Anzug unpassend und verquer ausnahm. Wenn die nur wten, was er machte, was er war und was er bei sich trug! Aufgepat! sagte er zu sich und drehte das Licht aus. Die Wohnung war dunkel. Er ging zur Tr und ffnete sie, gewohnt, in der Schwrze voranzuschreiten, in der er sich wohlfhlte. Die Regenwolken hatten sich gnzlich verflchtigt. Mahogany ging seinen Weg die Amsterdam runter, Richtung U-Bahn- Station an der 145. Strae. Heut nacht wrde er wieder die Avenue-of-the-Americas-Linie nehmen, seine Ueblings- strecke, und oft die ergiebigste. Die U-Bahn-Stufen hinunter, die Tarifmarke in der Hand. Durch die automatischen Trschleusen. Jetzt hatte er den Geruch des Tunnels in der Nase. Freilich nicht den der tiefen Tunnels. Die hatten einen ganz eigenen Duft. Aber selbst die schale, elektrisierende Luft dieser hochgelegenen Strecke lie sein Selbstvertrauen wieder erstarken. Der x-fach ausge- tauschte Atem von einer Million Fahrgsten zirkulierte in diesem Stollengehege und mischte sich mit dem Atem weit lterer Geschpfe, Wesen mit Stimmen so sanft wie Tpferton, deren Gelste abscheulich waren. Wie er das liebte. Den Duft, die Finsternis, das Getse. Er stand auf dem Bahnsteig und sondierte kritisch die anderen Fahrgste. Bei einem oder zwei Krpern berlegte er, ob er ihnen folgen solle. War doch ziemlich schundiges Material: kaum der Pirsch wert. Ausgebrannter Krperschrott, schwam- mig, abgeschlaftt. Leiber, zugrundegerichtet durch Aus- schweifung, durch Abstumpfung. Als Profi machte ihn das ganz krank, obwohl er Verstndnis hatte fr verweichlichende Schwchen, die die besten Menschen versauten. Er hielt sich ber eine Stunde in der Station auf und schlenderte zwischen den Bahnsteigen umher, whrend die Zge ein- und abfuhren, und die Leute mit ihnen. So wenig erste Wahl drunter. Sah ganz danach aus, als msse er von Tag zu Tag lnger warten, bis sich verwertbares Fleisch auftreiben lie. Es war jetzt fast halb elf, und er hatte nicht ein einziges Exemplar zu Gesicht bekommen, das wirklich optimal zum Schlachten getaugt htte. Egal, sagte er sich, es war ja noch Zeit. Sehr bald wrde die Welle der Theaterbesucher anrollen. Unter denen waren immer einer oder zwei saftig durchwachsene Krper. Diese wohlgenhrten Intelligenzler, hielten die Fahrmarke umklam- mert und schwafelten dogmatisch ber die Zerstreuungen der Kunst - oh doch, da war sicher was zu holen. Wenn nicht - und es gab Nchte, da sah es so aus, als wrde er niemals etwas Geeignetes finden -, dann mute er sich weiter ins Stadtzentrum wagen und dort ein Liebespaar abpassen, das so spt noch unterwegs war, oder ein, zwei Sportler auftreiben, die gerade vom Trainieren kamen. Die gaben mit Sicherheit stets gutes Material ab, nur da man bei solch kerngesunden Schlachtstcken stets mit dem Risiko einer Gegenwehr rech- nen mute. Er erinnerte sich, wie er vor einem Jahr oder frher zwei schwarze Bcke gefangen hatte, der eine so um die vierzig Jahre lter als der andere, Vater und Sohn vielleicht. Sie hatten sich mit Messern zur Wehr gesetzt, und ihn hatte man darauf sechs Wochen lang ins Krankenhaus gesteckt. Es war ein harter Nahkampf gewesen, und er hatte anschlieend an seinen Fhigkeiten gezweifelt. Schlimmer noch, er war nachdenklich geworden: Wie wohl seine Meister mit ihm verfahren wren, wenn er eine tdliche Verletzung davongetragen htte. Htte man ihn seiner Familie in New Jersey berstellt und ihm ein angemessenes christliches Begrbnis verschafft? Oder htte man seinen Kadaver in die Finsternis geworfen, zu ihrer hchstpersnlichen Verwendung? Mahogany fiel die Schlagzeile einer liegengelassenen New York Post auf dem Sitz ihm schrg gegenber ins Auge: POLIZEI IM GROSSEINSATZ - JAGD AUF KILLER. Er konnte ein Lcheln nicht unterdrcken. Seine um Versagen, Weichwer- den und Tod kreisenden Gedanken lsten sich in nichts auf. Schlielich war er dieser Mann, dieser Killer, und heute nacht war der Gedanke daran, ergriffen zu werden, einfach lcher- lich. War denn seine Lebensaufgabe nicht von den hchsten Autoritten abgesegnet? Kein Polizist konnte ihn festhalten, kein Gerichtshof verurteilen. Eben jene Trger von Recht und Gesetz, die aus seiner Verfolgung ein solches Spektakel mach- ten, dienten seinen Meistern um keinen Deut weniger als er; fast wnschte er sich, von irgendeinem windigen Cop gefangen und im Triumph vor den Richter geschleppt zu werden, nur um den Ausdruck auf ihren Gesichtern mit ansehen zu knnen, wenn das Machtwort aus der Finsternis heraufkam, da Maho- gany ein Schtzling sei, erhaben ber jedes geschriebene Gesetz. Es war jetzt halb elf vorbei. So allmhlich trudelten die Theaterbesucher ein, aber noch war nichts Annehmbares unter ihnen. Er wollte sowieso lieber den Hauptansturm vorbeilassen und dann einfach einem oder zwei erlesenen Stcken bis ans Ende der Strecke folgen. Geduldig wartete er den rechten Augenblick ab wie jeder wohlberatene Jger. Kaufman war gegen elf, eine Stunde spter, als er eigentlich hatte Schlu machen wollen, immer noch nicht mit der Arbeit fertig. berdru und frustrierende Langeweile machten die Aufgabe nachgerade schwieriger, und die Bltter voller Zahlen begannen vor ihm zu verschwimmen. Um zehn nach elf warf er seinen Fller hin. Mit den Handballen rieb er sich die brennen- den Augen, bis in seinem Kopf die Farben tanzten. Schei drauf, sagte er. In Gesellschaft gebrauchte er nie solche Ausdrcke. Aber hin und wieder zu sich selber Schei drauf zu sagen, das hob die Stimmung ungemein. Er bahnte sich den Weg zum Flur, den noch feuchten Mantel berm Arm, und steuerte den Aufzug an. Seine Glieder waren schwer, wie betubt, und die Augen konnte er kaum offenhalten. Es war klter drauen, als er angenommen hatte. Die Luft rttelte ihn ein wenig auf aus seiner dumpfen Benommenheit. Er ging Richtung U-Bahn an der 34. Strae. Einen Expre nach Far Rockaway erwischen. In einer Stunde daheim sein. Weder Kaufman noch Mahogany wuten es, aber an der Ecke 96. Strae und Broadway hatte die Polizei jemanden verhaftet, den sie fr den U-Bahn-Kler hielten, war er ihnen doch in einer Auenbezirkslinie in die Falle gegangen. Ein kleiner Mann europischer Abstammung hatte, Hammer und Sge in Hnden, eine junge Frau im zweiten Waggon in die Enge getrieben und gedroht, sie im Namen Jehovas in zwei Teile zu zerlegen. Es zwar zweifelhaft, ob er imstande gewesen wre, seine Drohung wahr zu machen. So wie die Sache lief, kam er gar nicht dazu. Whrend die brigen Passagiere (einschlielich zwei Marineinfanteristen) zusahen, verpate das potentielle Opfer dem Mann einen Futritt in die Hoden. Er lie den Hammer fallen. Sie hob ihn auf und zertrmmerte ihm den Unterkiefer und das rechte Jochbein, bevor noch die Marine- infanteristen einschreiten konnten. Als der Zug an der 96. hielt, war dort die Polizei schon auf die Verhaftung des U-Bahn-Schlchters vorbereitet. Sie strmten in wilder Horde den Waggon, schrien, wie von Dmonen besessen, und machten sich vor Angst fast in die Hosen. Der Schlchter lag mit demoliertem Gesicht in einer Ecke des Waggons. Triumphierend karrten sie ihn davon. Die Frau nahm nach der Vernehmung die Marineinfanteristen mit nach Hause. Der Vorfall sollte sich als zweckdienliche Ablenkung heraus- stellen, obwohl Mahogany zu diesem Zeitpunkt noch nichts von ihm wissen konnte. Es kostete die Polizei den Groteil der Nacht, die Identitt des Festgenommenen zu ermitteln, haupt- schlich deswegen, weil er mit seinem zerschmetterten Unter- kiefer nur ein nuscheliges Gesabber zustandebringen konnte. Erst morgens um halb vier erkannte ein gewisser Captain Davis bei seinem Dienstantritt in dem Mann einen im Ruhestand lebenden Blumenhndler aus der Bronx namens Hank Vasa- rely. Hank wurde immer wieder verhaftet, der Vorwurf lautete jedesmal: gemeingefhrliches Verhalten und exhibitionisti- sche Handlungen, begangen im Namen Jehovas. Aber der Schein trog: Er war so gefhrlich wie der Osterhase. Das war nicht der U-Bahn-Schlchter. Aber bis die Cops das endlich herausgebracht hatten, war Mahogany schon lange mit seiner Arbeit fertig, Es war viertel zwlf, als Kaufman in die Expre-Linie, die bis zur Mott-Avenue durchfuhr, einstieg. Im Waggon waren zwei weitere Fahrgste: eine Schwarze mittleren Alters in purpur- rotem Mantel und ein blasser aknegeplagter Jugendlicher, der das Leck-meinen-weien-Arsch-Graffiti an der Decke mit dro- gengeweiteten Pupillen anstarrte. Kaufman war im ersten Waggon. Er hatte eine Fahrt von fnfunddreiig Minuten Dauer vor sich. Angenehm eingelullt vom rhythmischen Geschaukel des Zuges, fielen ihm die Augen zu. Es war eine langweilige Fahrt, und er war mde. Weder sah er die Lichter im zweiten Waggon flackernd ausge- hen noch Mahoganys Gesicht, der durch die Verbindungstr der beiden Waggons starrte und nach noch mehr Fleisch Aus- schau hielt. An der 14. Strae stieg die Schwarze aus. Niemand stieg ein. Kaufman ffnete kurz die Augen, nahm den leeren Bahnsteig an der 14. wahr und schlo sie dann wieder. Die Tren gingen zischend zu. Er trieb in jenem warmen Niemandsland zwischen Wahrnehmungsbereitschaft und Schlaf dahin, und durch sei- nen Kopf schwirrten Trume, die noch nicht ganz Gestalt angenommen hatten. Es war ein gutes Gefhl Der Zug war wieder in Fahrt und ratterte tiefer in die Tunnels hinab. Mglicherweise bekam Kaufman auf dem Hintergrund seines dahindmmernden Bewutseins halbwegs mit, da die Tren zwischen erstem und zweitem Waggon aufgeschoben wurden. Mglicherweise registrierte er den pltzlichen Schwall Tunnel- luft und da der Lrm der Rder einen Augenblick lang lauter war. Aber er nahm lieber nichts davon zur Kenntnis. Mglicherweise hrte er sogar das Gescharre und Gerangel, als Mahogany den jungen Burschen mit dem Drogenblick ber- wltigte. Aber das Gerusch war zu weit weg und die Verhei- ung des Schlafs zu verfhrerisch. Er dste weiter. Aus irgendeinem Grund kreisten seine Trume um die Kche seiner Mutter. Sie hackte Rben - ratsch - und lchelte so lieb beim Hacken - ratsch. Er war wieder ganz klein in seinem Traum und schaute zu ihrem strahlenden Gesicht hinauf, whrend sie arbeitete. Ratsch. Ratsch. Ratsch. Mit einem Ruck ri er die Augen auf. Seine Mutter ver- schwand. Der Waggon war leer, der junge Mann war fort. Wie lang war er eingeduselt? Er konnte sich nicht daran erinnern, da der Zug an der 4. Strae West gehalten htte. Er stand auf, den Kopf noch wie in Schlaf getaucht, und kippte fast vornber, da der Zug heftig schwankte. Anscheinend hatte der Fahrer einen ganz beachtlichen Zacken Geschwindigkeit zuge- legt. Wahrscheinlich war er scharf drauf, endlich heim zu kommen ins bequeme Bett seiner Frau. Der Zug legte sich jetzt mordsmig ins Zeug; echt, es war verdammt bengstigend. Vor das Fenster zwischen den beiden Waggons war eine Blende runtergezogen, die, soweit er sich erinnerte, vorher nicht unten gewesen war. In Kaufmans ernchtertem Schdel brei- tete sich leichte Beunruhigung aus. Angenommen, er hatte ziemlich lange geschlafen, und der Schaffner htte ihn im Waggon bersehen. Womglich waren sie schon an Far Rock- away vorbei, und der Zug sauste im Eiltempo zu irgend so einem Depot fr die Nacht. Schei drauf, sagte er laut. Sollte er nach vorn gehen und den Fahrer fragen? Aber sich zu erkundigen: Wo sind wir denn? war wirklich 'ne saublde Frage. Was konnte er wohl zu dieser nachtschlafenden Zeit anderes zur Antwort kriegen als eine Flut von Beschimp- fungen? Dann wurde der Zug allmhlich langsamer. Eine Station. Ja, eine Station. Der Zug rollte aus dem Tunnel und ins schmutzige Licht der Station an der 4. Strae West. Er hatte keine Haltestelle verschlafen. Aber wo war dann der Junge geblieben? Entweder hatte er sich nicht an die Aufschrift an der Waggon- wand gehalten, die den Durchgang zwischen den Waggons wahrend der Fahrt untersagte, oder er war berhaupt gleich vor ins Fahrerabteil gegangen. Wahrscheinlich vergngt er sich gerade zwischen den Fahrerbeinen, dachte Kaufman und ver- zog die Oberlippe. So was kam durchaus vor. Schlielich war man in der Hochburg der Wonnen, und jeder hatte einen Anspruch auf ein bichen Liebe in der Dunkelheit. Kaufman schob die berlegung mit einem Achselzucken von sich. Was ging's ihn an, wo der Junge geblieben war? Die Tren schlssen sich. Niemand war eingestiegen. Der Zug schlingerte aus der Station hinaus, und die Lichter flackerten, als er mit einem starken Energieschub wieder Geschwindigkeit zulegte. Kaufman sprte, wie die se Schlafsucht ihn erneut berkam, aber die pltzliche Angst, sich zu verirren und verloren zu sein, hatte Adrenalin in seinen Organismus gepumpt, und seine Glieder zitterten vor nervlicher Anspannung. Auch seine Sinne waren berwach. Selbst durchs Geratter und Gerumpel der Rder auf den Schie- nen hrte er aus dem nchsten Waggon herber das Gerusch zerreienden Tuchs. Rissen sich da welche das Hemd vom Leib? Er stand auf und griff nach einer Halteschlaufe, um nicht umzufallen. Das Fenster zwischen den Waggons war vollkommen zuge- hngt, aber er starrte mit gerunzelter Stirn darauf, als knnte er pltzlich mit Rntgenaugen sehen. Der Waggon schaukelte und rollte. Der Zug war wieder voll in Fahrt. Und wieder das Aufschlitzgerusch. War's eine Vergewaltigung? Mit allenfalls milder voyeuristischer Neugier bewegte er sich den hin- und herschwankenden Waggon entlang Richtung Verbindungstr und hoffte, einen Spalt im Vorhang zu entctek- ken. Seine Augen waren noch immer aufs Fenster geheftet, und seiner Aufmerksamkeit entgingen die Blutspritzer, in die er trat. Bis... ...er mit dem Absatz ausrutschte. Er sah zu Boden. Sein Magen registrierte das Blut beinah eher als sein Hirn, und der Schinken auf Vollkornbrot kam ihm halbwegs die Speiserhre hoch und fing sich hinten im Rachen. Blut. Mehrmals schlang er wie in Atemnot die abgestandene Luft in sich hinein und schaute weg - wieder zum Fenster hin. Sein Kopf sagte: Blut. Nichts wrde dies Wort zum Verschwin- den bringen. Hchstens ein oder zwei Meter waren jetzt zwischen ihm und der Tr. Er mute nachsehen. Blut war an seinem Schuh, und eine dnne Spur lief zum nchsten Waggon, aber er mute trotzdem nachsehen. Er mute. Er machte noch zwei Schritte auf die Tr zu und suchte sorgfltig den Vorhang ab, er suchte nach einem Fehler im Gewebe: Ein herausgezogenes Fdchen wre schon genug gewesen. Und - da war ein winziges Loch. Er drckte ein Auge an die Scheibe, Sein Bewutsein weigerte sich anzuerkennen, was seine Augen hinter der Tr sahen. Er verwarf das Schauspiel als widernatr- lich-absurd, als getrumten Nachtmahr. Sein Verstand sprach ihm die Wirklichkeit ab, aber sein Fleisch war sich ihrer gewi. Sein Krper erstarrte vor Entsetzen. Seine Augen konnten mit unbeweglich offenen Lidern die grausige Szene hinter dem Vorhang nicht ausblenden. Er stand an der Tr, whrend der Zug weiter dahinratterte, whrend sein Blut aus seinen Glied- maen zurckstrmte und sein Hirn aus Sauerstoffmangel ins Taumeln geriet. Grelle Lichtflecke schoben sich blitzartig vor seine Vision und lschten die Scheulichkeit aus. Dann wurde er ohnmchtig. Er war bewutlos, als der Zug in Jay Street ankam. Er war taub fr die Ankndigung des Fahrers, da alle Passagiere, die weiter wollten als bis zu dieser Station, umsteigen mten. Wenn er sie gehrt htte, dann htte er ihren Sinn angezweifelt. Es gab berhaupt keinen Zug, der alle Fahrgste in Jay Street absetzte; die Linie ging ber den Aqueduct Race Track und am Kennedy- Airport vorbei bis zur Mott Avenue. Er htte gefragt, welcher Zug das denn sei. Nur da er's bereits wute. Die Wahrheit hing im nchsten Waggon, Verschanzt hinter eine blutige Ketten- panzerschrze lchelte sie zufrieden vor sich hin. Das hier war der Mitternachts-Fleischzug. Es gibt bei einer totenhnlichen Ohnmacht keine Melatte fr die Zeit. Es konnten Sekunden oder Stunden gewesen sein, die vergingen, ehe Kaufmans Augen wieder aufflackerten und sein Bewutsein sich auf die neue Lage einpendelte, in der er sich befand. Er lag jetzt unter einer der Sitzbnke an die vibrierende Waggonwand gepret, vor Blicken geschtzt. Bislang war das Schicksal auf seiner Seite, dachte er: Irgendwie mute das Geschaukel des Waggons seinen bewutlosen Krper auer Sichtweite manvriert haben. Er dachte an das Grauen in Waggon zwei - und schlang Erbrochenes wieder hinunter. Er war allein. Wo der Schaffner auch sein mochte (vielleicht ermordet), er konnte ihn unmglich zu Hilfe ru f en. Und der Fahrer ? Lag er tot berm Steuerungssy- stem? Durchraste der Zug eben jetzt einen unbekannten Tun- nel, einen Tunnel ohne eine einzige Station, dank derer man die Strecke htte identifizieren knnen, seiner Zerstrung ent- gegen? Und wenn's keinen Zusammenprall gab, bei dem er umkam, dann gab es jedenfalls den Schlchter, der immer noch drauf- loshackte, nur die Dicke einer Tr von Kaufman entfernt. Da fhrte kein Weg dran vorbei: Der Name auf der Tr war Tod. Der Lrm war ohrenbetubend, besonders wenn man am Boden lag. Kaufmans Zhne schlackerten in ihren Kieferf- chern, und sein Gesicht war von der Vibration fhllos-starr; selbst die Schdeldecke tat ihm weh. Dann sprte er, wie ganz allmhlich die Kraft in seine erschpf- ten Glieder zurckpulste. Vorsichtig streckte er die Finger und ballte sie zur Faust, um die Durchblutung wieder in Gang zu bringen. Und mit dem Krpergefhl war auch erneut der Brechreiz zur Stelle. Er hatte weiterhin den schauerlichen Gewaltakt im nchsten Waggon vor Augen. Natrlich hatte er schon Foto- grafien von Mordopfern gesehen, aber das nebenan war kein x- beliebiger Mordfall. Er war im selben Zug wie der U-Bahn- Schlchter, dieses Ungeheuer, das seine Opfer enthaart und nackt mit den Fen nach oben an den Halteschlaufen auf- knpfte. Wie lange wrde es dauern, bis der Killer durch diese Tr trat und sein Leben forderte? Wenn der Schlchter ihn nicht erle- digte, dann wrde es die bloe Bedrohung tun, dessen war er sich sicher. Er hrte eine Bewegung hinter der Tr. Jetzt bernahm der Instinkt das Ruder. Kaufman zwngte sich tiefer unter die Sitzbank und krmmte sich zu einer kleinen Kugel zusammen, das speibel-weie Gesicht zur Wand gekehrt. Dann legte er die Hnde ber den Kopf und drckte seine Augen so fest zu wie ein Kind in namenloser Angst vorm Schwarzen Mann. Die Tr wurde aufgeschoben. Klick. Wusch, Luft, in jhem Schwall von den Gleisen rauf. Sie roch anders als jede, die Kaufman vorher gerochen hatte - und klter. Das war wie... wie Urluft, was ihm da in die Nase stieg; feindselige und unergrndliche Luft. Sie lie ihn erschauern. Die Tr schlo sich. Klick. Der Schlchter war ganz nah, Kaufman wute das. Es konnte nicht anders sein; allenfalls stand er Zentimeter weit entfernt von dem Platz, an dem er lag. Schaute er jetzt gerade auf Kau f man s Rcken runter ? Bckte er sich gerade, das Messer in der Hand, um Kaufman aus seinem Versteck herauszuschlen wie eine Schnecke, die man aus ihrem Haus herauspult? Nichts geschah. Er sprte keinen Atem auf seinem Nacken, Sein Rckgrat wurde nicht aufgeschlitzt. Lediglich das Getrappel von Fen nah bei seinem Kopf; dann das gleiche Gerusch, als sie sich wieder entfernten. Kaufman stie den Atem, den er in den Lungen zurckgehalten hatte, mit rauhem Zischen zwischen den Zhnen hervor. Mahogany war beinah enttuscht, da der Schlafende an der 14. Strae West ausgestiegen war. Er htte heute nacht zu gern noch eine weitere Nummer absolviert, damit er was zu tun hatte, whrend sie weiter hinabfuhren. Aber nein: Der Mann war fort. So gesund hatte der Kandidat ohnehin nicht ausge- sehn, sagte er sich, war wohl ein blutarmer jdischer Buchhal- ter. Das Fleisch htte nicht die Bohne Qualitt gehabt. Maho- gany ging durch den Waggon zur Fahrerkanzel. Den Rest der Strecke wrde er dort zubringen. Mein Gott, dachte Kaufman, jetzt bringt er den Fahrer um. Er hrte, wie die Tr zur Kanzel aufging. Dann die Stimme des Fleischers: leise und heiser. Gr dich. Gr dich. Die kannten sich. Alles erledigt? Alles erledigt. Die Banalitt dieser einsilbigen Begrung verstrte Kaufman zutiefst. Alles erledigt? Was sollte das heien: Alles erledigt? Die nchsten paar Worte bekam er nicht mit, weil der Zug gerade ber einen Schienenabschnitt rollte, der besonders viel Lrm machte. Kaufman konnte es nicht mehr aushaken: Er mute jetzt hinschauen. Vorsichtig-ngstlich entknulte er sich und guckte ber die Schulter zum Ende des Waggons. Die Beine des Schlchters und den unteren Teil der offenen Kanzeltr, mehr konnte er nicht sehen. Verdammt. Er wollte wieder das Gesicht des Ungeheuers sehen. Jetzt hrte er Gelchter. Er kalkulierte die Risiken seiner Lage: die Mathematik des Schreckens. Wenn er weiter blieb, wo er war, wrde der Schlchter ber kurz oder lang zu ihm runtergucken - und Hackfleisch aus ihm machen. Andererseits liefe er, wenn er sich aus seinem Versteck herausbegab, Gefahr, gesehen und gejagt zu werden. Was war schlimmer: unttig zu bleiben und sich dem Tod festgenagelt in einem Loch auszusetzen oder gleich sich ihm in die Arme zu werfen und seinem Vollstrecker mitten im Waggon gegenberzutreten? Kaufman war von seinem Kampfgeist selber berrascht: Er wrde sich rauswagen. Unendlich langsam kroch er unter der Sitzbank hervor und behielt whrenddessen jede Minute den Rcken des Schlch- ters im Auge. Als er endlich herauen war, begann er, Rich- tung Verbindungstr zu kriechen. Jeder Schritt, den er machte, war eine Tortur, aber der Schlchter war anscheinend viel zu sehr in seine Unterhaltung vertieft, um sich umzudrehen. Kaufman hatte die Tr erreicht. Er stand langsam auf und versuchte dabei unablssig, sich auf den Anblick vorzubereiten, dem er in Waggon zwei ausgesetzt sein wrde. Die Klinke war jetzt fest in seiner Hand; und er schob die Tr auf. Der Lrm der Rder verstrkte sich, und eine Woge klammer Luft mit einem Gestank, der nicht von dieser Welt war, drang zu ihm herauf. Todsicher mute das der Fleischer hren, oder riechen? Todsicher mute er sich umdrehen... Aber nein. Kaufman schob sich wie ein Reptil, das sich hutet, durch den Schlitz und in das Blutgemach auf der anderen Seite. Die Erleichterung machte ihn unvorsichtig. Er lie die Tr hinter sich nicht richtig zuklinken, und das Rtteln des Zuges lie sie wieder aufgleiten. Mahogany steckte den Kopf aus der Kanzel und starrte auf die Tr am Ende des Waggons. Was 'n da los, verdammter Schei? fragte der Fahrer. Hab' blo die Tr nicht richtig zugemacht. Das war's. Kaufman hrte den Schlchter auf die Tr zukommen. Er duckte sich, ein Knuel panischer Verwirrung, drckte sich gegen die Verbindungswand und empfand pltzlich deutlich den Entleerungsdrang seiner Drme. Die Tr wurde von der anderen Seite her zugezogen, und die Schritte entfernten sich wieder. Weder in Sicherheit, wenigstens einen Atemzug lang. Er ffnete die Augen und wappnete sich fr den Anblick des Schlachtpferchs vor ihm. Vor dem gab's kein Entrinnen. Der durchdrang jeden seiner Sinne: der Geruch freigelegter Eingeweide, den Anblick der Krper, das Gefhl der Flssigkeit am Boden unter seinen Fingern, das Gerusch der Halteschlau- fen, die unter dem Gewicht der Leichen chzten, selbst noch die Luft, sie schmeckte salzig vor Blut. Er war ringsum vom Tod umfangen in diesem Verschlag, der durch die Finsternis raste. Aber jetzt blieb der Brechreiz aus. Bis auf eine gelegentliche Regung wtendsten Abscheus war keine Empfindung mehr brig. Er ertappte sich sogar dabei, wie er die Krper mit einer gewissen Neugier eingehend betrachtete. Das ausgeweidete Frischfleisch in nchster Nhe war der ber- rest des pickeligen Burschen, den er in Waggon eins gesehen hatte. Der Krper hing verkehrt herum und schwang im Rhythmus des Zuges vor und zurck, ganz im Einklang mit seinen drei Genossen: ein obszner Totentanz. Seine Arme baumelten lose aus den Schultergelenken herab, die zwei bis fnf Zentimeter tiefe Einschnitte aufwiesen, damit die Krper ordentlicher hingen. Jedes anatomische Detail des Halbwchsigen schaukelte hypno- tisch. Die Zunge, die aus dem offenen Mund heraushing. Der Kopf, der taumelig am durchschlitzten Hals baumelte. Selbst der Penis des Burschen pendelte schlaff auf seiner enthaarten Schamgegend hin und her. Aus der Wunde am Kopf und der durchtrennten Halsschlagader pulsierte immer noch Blut in einen schwarzen Eimer. Ein Hauch von Eleganz lag ber dem Ganzen: die Handschrift sauber verrichteter Arbeit. Weiter weg von diesem Krper waren die Leichen zweier junger weier Frauen und eines dunkelhutigen Mannes aufgehngt. Kaufman beugte den Kopf zur Seite, um sich ihre Gesichter anzusehn. Sie waren blankund kahl. Das eine Mdchen war eine Schnheit. Er war sich ziemlich sicher, da der Mann Puertori- caner war. Allen waren die Kopf- und Krperhaare abrasiert worden. In der Luft lag noch der beiende Geruch der Schur, Kaufman glitt aus seiner Hockstellung an der Wand hoch, zur gleichen Zeit drehte sich einer der Frauenkrper um die eigene Achse und bot eine Ansicht der Rckenpartie dar. Auf diesen Gipfel des Grauens war er nicht vorbereitet. Das Fleisch ihres Rckens war vom Nacken bis zum Ges vollkommen aufgespalten und die Muskulatur beiseitege- schlt, um das feucht glitzernde Rckgrat zur Schau zu stellen. Das war der endgltige Triumph des Schlchterhandwerks. Hier hingen sie, diese rasierten, ausgebluteten, aufgeschlitzten menschlichen Fleischklumpen, wie Fische ausgeweidet und fertig zum Verzehr. Fast htte Kaufman der Vollkommenheit dieses Greuelbck zugelchelt. Er sprte, wie sich der Wahnsinn kitzelnd an der Schdelbasis meldete, ihn ins Vergessen lockte, vllige Unge- rhrtheit gegenber der Welt verhie. Unkontrolliertes Zittern durchbeutelte ihn auf einmal. Er fhlte, wie seine Stimmbnder einen Schrei zu artikulieren suchten. Es war unertrglich, und doch htte schreien gehei- en, in Krze so auszusehen, wie die Kreaturen vor ihm. Schei drauf, sagte er, lauter, als er beabsichtigt hatte; dann stie er sich von der Wand ab und begann, zwischen den schaukelnden Leichen durch den Wagen zu gehen. Er nahm dabei die ordentlichen Stapel aus Kleidern und persnlichen Sachen wahr, die auf den Bnken neben ihren Eigentmern lagen. Der Boden unter seinen Fen war klebrig vor trocknen- der Galle. Selbst durch die Schlitze der zugekniffenen Augen konnte er das Blut in den Eimern berdeutlich sehen: Es war dick und berauschend, sandige Schmutzteilchen wirbelten darin. Er war jetzt an dem Burschen vorbei und konnte vorn die Tr zu Waggon drei sehen. Dieser Spierutenlauf des Horrors, er mute ihn nur noch zu Ende bringen. Er trieb sich selber weiter, versuchte, die Greuel nicht zur Kenntnis zu nehmen und sich auf die Tr zu konzentrieren, die ihn aus dem Irrsinn hinausfhren wrde. An der ersten Frau war er vorbei. Noch ein paar Meter, sagte er sich, hchstens zehn Schritte, weniger, wenn ihn nur sein Selbstvertrauen nicht verlie. Da gingen die Lichter aus. 0 mein Gott, sagte er. Der Zug kam ins Schlingern, und Kaufman verlor das Gleich- gewicht. In der uersten Schwrze langte er nach einem Halt, und seine rudernden Arme umfingen den Krper neben ihm. Ehe er es verhindern konnte, fhlte er, wie seine Hnde in das lauwarme Fleisch einsanken und seine Finger in die offene Schnittkante des Muskelfleischs auf dem Rcken der Toten griffen, seine Fingerspitzen die blanke Wirbelsule berhrten. Gegen seine Wangen drckte das kahle Fleisch des Schenkels. Er schrie; und eben als er schrie, gingen die Lichter flackernd wieder an. Kaum waren sie aufgeflackert und sein Schrei erstorben, hrte er das Gerusch der Schlchterfe, wie es sich nherte, Wag- gon eins entlang, auf die Zwischentr zu. Er lie den Krper los, den er umarmt hielt. Sein Gesicht war mit Blut vom Bein der Frau beschmiert. Er konnte es auf seiner Wange spren wie eine Kriegsbemalung. Der Schrei hatte Klarheit geschaffen in Kaufmans Kopf, und pltzlich fhlte er sich befreit in eine Art Strke eintauchen. Zu einer Hetzjagd durch den Zug wrde es nicht kommen, soviel war sicher; keine Feigheit mehr, nicht zu diesem Zeitpunkt. Das hier lief auf eine elementare Konfrontation hinaus, zwei menschliche Wesen, von Angesicht zu Angesicht. Und es gab keinen Trick - nicht einen -, den er nicht in Betracht ziehen durfte, um seinen Gegner zu berwinden. Hier ging's ums nackte berleben, schlicht und einfach. Rtteln am Trgriff. Kaufman sah sich ruhigen Auges nach einer Waffe um, gezielt und abwgend. Sein Blick fiel auf den Kleiderstapel neben der Leiche des Puertoricaners. Da war ein Messer, es lag unter den Straringen und den Talmi-Goldketten. Eine langklingige, makellos saubere Waffe, wahrscheinlich der ganze Stolz, die Freude ihres Besitzers. Kaufman beugte sich, am muskulsen Krper vorbei, vor und zog das Messer aus dem Haufen. Es fhlte sich gut an in seiner Hand; es fhlte sich tatschlich richtig aufregend an. Die Tr ging auf, und das Gesicht des Schlchters kam zum Vorschein. Hinter der Schlachthausszenerie im Vordergrund nahm Kauf- man Mahogany ins Visier. So furchtbar angsteinflend war er nicht, einfach ein langsam kahl werdender, bergewichtiger Mann um die Fnfzig. Sein Gesicht war massig und die Augen lagen tief. Der Mund war verhltnismig klein, die sensiblen Lippen waren zart geschwungen. Wirklich, er hatte den Mund einer Frau. Mahogany konnte nicht begreifen, woher dieser Eindringling aufgetaucht war, aber er war sich im klaren, da dies ein weiteres Versehen, ein weiteres Zeichen seiner zunehmenden Unzulnglichkeit war. Er mute diesen Lumpenhund sofort umbringen. Schlielich waren sie bereits zwei, drei Kilometer vom Streckenende entfernt. Er mute den Kleinen abmurksen und dafr sorgen, da er an den Fersen baumelte, ehe sie die Endstation erreichten. Er betrat Waggon zwei. Warst eingeschlafen, sagte er; er hatte Kaufman wiederer- kannt. Hab' dich gesehn. Kaufman sagte nichts. Httest aussteigen sollen. Hast wohl geglaubt, du kannst dich vor mir verstecken? Kaufman hllte sich weiter in Schweigen. Mahogany umfate den Griff des Hackmessers, das von sei- nem abgenutzten Ledergrtel herabhing. Es war butver- schmiert wie seine Kettenpanzerschrze, sein Hammer und seine Sge. Wie die Dinge nun mal liegen, sagte er, bin ich gezwungen, dich zu beseitigen. Kaufman hob das Messer. Es nahm sich ein bichen klein aus neben dem monstrsen Gert des Schlchters. Scheu? drauf, sagte er. Der Kleine machte Anstalten zur Gegenwehr; dafr hatte Mahogany nur ein Grinsen brig. Du httest das hier nicht sehen sollen: Das ist nichts fr deinesgleichen, sagte er und nherte sich Kaufman einen Schritt. Es ist geheim. Ah, wohl einer vom Schlag der Gottgesandten? dachte Kauf- man. Das erklrt einiges. Schei drauf, sagte er wieder. Der Schlchter runzelte die Stirn. Da sein Werk, sein berufli- cher Nimbus den Kleinen kalt lieen, gefiel ihm gar nicht. Wir mssen alle irgendwann sterben, sagte er. Du kannst zufrieden sein: Dich wird man nicht ganz verbrennen wie die meisten anderen: Ich kann dich gebrauchen. Als Fressen fr die Stadtvter. Kaufmans Antwort war lediglich ein Grinsen. Dieser schwer- fllige, watschelnde Kolo konnte ihm keine Angst mehr einjagen. Der Schlchter lste das Hackmesser vom Grtelhaken und schwang es drohend. Ein mieser kleiner Jude wie du, sagte er, sollte dankbar sein, wenn er berhaupt zu was ntze ist: Frischfleisch - ist doch die Aufstiegschance. Ohne Warnung schlug der Schlchter zu. Das Hackmesser zerteilte die Luft mit betrchtlicher Geschwindigkeit, aber Kaufman wich nach hinten aus. Das Hackmesser zerschlitzte seinen Mantelrmel und grub sich in den Unterschenkel des Puertoricaners. Die Wucht des Hiebes trennte das Bein zur Hlfte durch, und das Gewicht des Krpers lie den Einschnitt sogar noch weiter aufklaffen. Das zutage tretende Fleisch des Schenkels war wie erstklassiges Steak, saftig und appetitlich. Der Schlchter wollte das Hackmesser aus der Wunde zerren, aber in diesem Augenblick sprang Kaufman los. Das Messer sauste auf Mahoganys Auge zu, aber aufgrund einer Fehlein- schtzung vergrub es sich in dessen Hals. Es durchbohrte die Wirbelsule und trat auf der ndern Seite in einem Gerinnsel dicken Blutes wieder aus. Mittendurch war es gegangen. Auf einen Hieb. Mittendurch. Die Klinge im Hals rief bei Mahogany ein Erstickungsgefhl hervor, fast so, als wre ihm ein Hhnchenknochen im Hals steckengeblieben. Er gab ein lcherliches, unschlssiges Geh- stel von sich. Blut trat aus seinem Mund und frbte ihn rot; es sah aus wie Lippenstift auf seinem Frauenmund. Das Hack- messer rasselte zu Boden. Kaufman zog das Messer heraus. Aus den zwei Wunden sprudelten kleine Bgen Blut. Mahogany brach in die Knie und stierte das Messer an, das ihn gettet hatte. Der Kleine beobachtete ihn gnzlich unbeteiligt. Er sagte irgendwas, aber Mahoganys Ohren waren taub, als wre er unter Wasser. Mahogany wurde unversehens blind. Mit wehmtiger Trauer um seine Sinne war er sich bewut, da er nie mehr sehen oder hren wrde. Das war der Tod: Ganz unbestritten, der hatte ihn in seiner Gewalt. Noch aber sprten seine Hnde das Gewebe seiner Hose und die heien Spritzer auf seiner Haut. Sein Leben schien auf den Zehenspitzen zu taumeln, whrend seine Finger einem letzten Sinneseindruck nachtasteten... dann strzte sein Krper in sich zusammen, und seine Hnde, sein Leben und seine heilige Pflicht zerbrachen unter einer grauen Fleischmasse. Der Schlchter war tot. Kaufman zog groe Mengen abgestandener Luft in seine Lun- gen und packte eine der Halteschlaufen, um seinen torkelnden Krper ins Gleichgewicht zu bringen. Trnen lschten das blutige Schlachthaus aus, in dem er stand. Die Zeit verstrich: Wieviel, wute er nicht; er war in einem Siegestraum ver- sunken. Dann verlangsamte der Zug sein Tempo. Kaufman sprte und hrte, wie die Bremsen arbeiteten. Die hngenden Leiber schlingerten vorwrts, als der Zug die volle Fahrt abbremste; die Rder kreischten auf den Schienen, die Schmutz aus- schieden. Die Neugier berfiel Kaufman. Wrde der Zug in das unterirdische Schlachthaus des Metzgers einrollen, in dem als Trophen die Fleischstcke, die er in seiner Amok-Laufbahn zusammengetragen hatte, hingen? Und der lachende, gegenber dem Massaker so gleichgltige Fahrer? Was wrde er machen, wenn der Zug anhielt? Was jetzt auch geschehen mochte, es war eine rein theoretische Frage. Nun konnte er allem und jedem die Stirn bieten; nur beobachten und die Augen offenhalten. Die Lautsprecher knisterten. Dann die Stimme des Fahrers: Wir sind da, Mann, Nimmst besser deinen Platz ein, ja? Nimmst deinen Platz ein? Was sollte das heien? Die Zuggeschwindigkeit hatte sich zum Schneckentempo ver- langsamt. Drauen, hinter den Fenstern, war alles so dunkel wie bisher. Die Lichter flackerten und gingen aus. Diesmal gingen sie nicht wieder an. Kaufman blieb in vlliger Dunkelheit. In 'ner halben Stunde sind wir raus, kam es ber die Sprechanlage, ganz so, als wrde irgendeine Station angesagt. Der Zug war zum Halten gekommen. Das Gerusch der Rder auf den Schienen und das Brausen der Fahrt, woran sich Kaufman mittlerweile so gewhnt hatte, fehlten pltzlich. Das einzige, was er hren konnte, war das Gesumm der Lautspre- cher. Noch immer konnte er berhaupt nichts sehen. Dann ein Zischen. Die Tren ffneten sich. Ein Geruch drang in den Wagen, ein so tzender Geruch, da Kaufman sich schlagartig die Hand aufs Gesicht prete, um ihn abzuhalten. Schweigend harrte er aus, die Hand vorm Mund, ein Leben lang, wie es ihm schien. Nichts Bses sehen. Nichts Bses hren. Nichts Bses reden. Dann nahte das Flackern eines Lichts drauen vor dem Fenster. Es lie die Konturen des Trrahmens hervortreten, und es wurde ganz allmhlich strker. Bald war es so hell im Waggon, da Kaufman zu seinen Fen den zusammengesackten Krper des Schlchters und rings um sich die bllichen Fleischseiten hngen sehen konnte. Auch ein Flstern nahte drauen aus der Finsternis, eine Ansammlung winziger Gerusche, wie Kferstimmen. Da waren menschliche Wesen im Tunnel; sie schlurften auf den Zug zu. Kaufman konnte jetzt ihre Umrisse erkennen. Manche von ihnen trugen Fackeln, die dumpf und brunlich leuchteten. Wahrscheinlich rhrte das Gerusch von ihren Fen auf dem feuchten Boden her oder vom Geschnalz ihrer Zungen oder von beidem. Kaufman war nicht mehr so unschuldig-ahnungslos, wie er es noch vor einer Stunde gewesen war. Konnte es irgendeinen Zweifel geben ber die Absicht dieser Wesen, die da aus der Schwrze auf den Zug zukamen? Der Metzger hatte die Mn- ner und Frauen geschlachtet, als Frischfleisch fr diese Kanni- balen. Sie kamen jetzt heran wie Dinner-Gste nach dem Gongschlag, um in diesem Speisewagen hier zu fressen. Kaufman bckte sich und griff sich das Hackmesser, das der Schlchter fallengelassen hatte. Das Gerusch der herannahen- den Kreaturen wurde fortwhrend lauter. Er bewegte sich rckwrts den Waggon entlang, weg von den offenen Tren, mute aber feststellen, da hinter ihm die Tren gleichfalls offen waren und das Gewisper, das nahte, auch hier zu hren war. Er wich zwischen die Sitzbnke zurck und war im Begriff, sich unter sie zu flchten, als eine Hand, dnn und vor Gebrechlich- keit fast durchsichtig, in der Trffnung erschien. Er konnte nicht wegschauen. Nicht da ihn Grausen htte erstarren lassen wie am Fenster zur Blutkammer: Er wollte einfach alles sehen. Die Kreatur setzte ihren Fu in den Waggon. Die Fackeln hinter ihr verschatteten zwar ihr Gesicht, aber in groben Zgen war sie klar erkennbar. Es war nichts besonders Auffallendes an ihr. Das Wesen hatte zwei Arme und zwei Beine wie er auch; seine Kopfform wich nicht von der Norm ab. Der Krper war klein, und der Kraftaufwand beim Zugbesteigen machte ihm Atem- beschwerden. Es war eher ein Fall fr die Geriatrie als fr die Psychiatrie: Nach Generationen zusammenfabulierter Men- schenfresser war er auf diese besorgniserregende Hinflligkeit nicht vorbereitet. Hinter der ersten tauchten hnliche Kreaturen aus der Finster- nis auf, um sich schwerfllig in den Zug hineinzuwinden. Tatschlich kamen sie jetzt zu allen Tren herein. Kauf man sa in der Falle. Er wog das Hackmesser in den Hnden, bis er es richtig im Griff hatte, bereit zum Kampf mit diesen altertmlichen Monstern. Eine Fackel war in den Wag- gon gebracht worden, und sie beleuchtete die Gesichter der Anfhrer. Sie waren vollkommen kahl. Das ausgemergelte Fleisch in ihrem Gesicht war straff ber die Schdelknochen gezogen, da es vor Anspannung schimmerte. Flecken des Verfalls und der Krankheit durchsetzten die Haut, und stellenweise war die Muskulatur in schwarzen Eiter bergegangen, durch den das Joch- oder Schlfenbein herauslugte. Manche von ihnen waren nackt wie Suglinge, ihre schwammigen, syphilitischen Krper waren fast geschlechtslos. Anstelle der einstmaligen Brste lppten zhledrige Beutel vom Rumpf, die Genitalien waren weggeschrumpft. Einen schlimmeren Anblick als die Nackten boten jene, die eine Andeutung von Kleidung trugen. Bald dmmerte es Kauf- mann, da das verfaulende Gewebe, das sie um ihre Schultern geschlungen oder um ihre Krpermitte geknpft hatten, aus Menschenhaut bestand. Nicht etwa eins davon, sondern ein Dutzend oder mehr waren lose und unordentlich bereinan- dergeschichtet wie kmmerliche Siegeszeichen. Die Anfhrer dieser absonderlichen Speisegesellschaft hatten jetzt die Leichen erreicht, und auf die Schenkelstcke legten sich zartgliedrige Hnde und fingerten das rasierte Fleisch hinauf und hinunter, in einer Art und Weise, die auf Sinnen- lust schlieen lie. Zungen tnzelten aus Mndern, Speichel- trpfchen benetzten das Fleisch. Die Augen der Ungeheuer rollten vor Hunger und Erregung flackernd hin und her. Schlielich sah eins von ihnen Kaufman. Einen Moment lang hrten seine Augen auf zu flackern und hefteten sich auf ihn. Ein fragender Ausdruck berschlich das Gesicht und bot ein Zerrbild der Verwirrung. Du, sagte es. Die Stimme war so verwstet wie die Lippen, von denen sie kam. Kaufman hob das Hackmesser etwas an und rechnete seine Chancen aus. Zirka dreiig von ihnen waren im Waggon und drauen noch viel mehr. Aber sie wirkten so schwach, und auer Haut und Knochen hatten sie keine Waffen. Wieder sprach das Monster, und die Stimme klang bei voller Entfaltung recht wohlartikuliert - das Piepsen eines vormals kultivierten, vormals charmanten Mannes. Bist der Neue, ja? Es schaute auf den Krper Mahoganys hinunter. Es hatte die Situation sehr rasch klar erfat. Er war sowieso schon alt, sagte es und richtete die wrigen Augen wieder auf Kaufman, um ihn eindringlich zu mustern. Das geht dich 'n Schei an, sagte Kaufman. Das Geschpf versuchte ein gequltes Lcheln, aber es hatte wohl vergessen, wie das ging; das Ergebnis war eine Fratze. Es stellten einen Mundvoll Zhne zur Schau, die zweckmig spitz zugefeilt waren. Jetzt mut du dies fr uns tun, sagte es durch das bestialische Grinsen hindurch. Ohne Nahrung knnen wir nicht ber- leben. Die Hand ttschelte die Hinterkeulen aus Menschenfleisch. Auf dies Ansinnen fehlten Kaufman die Worte. Er starrte nur voller Ekel auf die Fingerngel, die in den Spalt zwischen den Hinterbacken glitten und der Schwellung des zarten Muskelge- webes nachsprten. Es ekelt uns nicht weniger als dich, sagte das Geschpf. Aber wir mssen dies Fleisch essen, oder wir sterben. Wei Gott, mir steht der Geschmack nicht danach. Nichtsdestotrotz lief dem Wesen sichtbar das Wasser im Mund zusammen. Kaufman fand seine Stimme wieder. Sie klang kleinlaut, mehr aus einer Verwirrung der Gefhle als aus Angst. Was seid ihr? Er erinnerte sich an den Brtigen im Delikatessenladen. Seid ihr Opfer irgendwelcher miglckter Versuche? Wir sind die Stadtvter, sagte das Wesen. Und die Stadt- mtter, -tochter und -shne. Die Erbauer, die Gesetzemacher. Wir haben diese Stadt gemacht. New York? fragte Kaufman. Die Hochburg der Wonnen? Ehe du geboren wurdest, ehe irgendein Lebender geboren wurde. Whrend es sprach, fuhren die Finger des Geschpfs unter die Haut des zerspaltenen Krpers und schlten die dnne elastische Schicht von dem leckeren Muskelstrang. Hinter Kaufman hatten die anderen Kreaturen begonnen, die Krper aus den Halteschlaufen abzuhngen. Sie legten ihre Hnde in derselben wonneschwelgenden Art auf die glatten Brste und Flanken aus Menschenfleisch. Auch sie hatten angefangen, die Stcke zu enthuten. Du wirst uns mehr bringen, sagte der Vater, mehr Fleisch fr uns. Der andere war schwach. Kaufman glotzte unglubig. Ich? sagteer. Euch ernhren? Wofr haltet ihr mich denn ? Du mut es fr uns tun, und fr jene, die lter sind als wir. Fr jene, die geboren wurden, bevor man berhaupt an die Stadt dachte, als Amerika Waldland und Wste war. Die zerbrechliche Hand deutete aus dem Zug hinaus. Kaufmans Blick folgte dem ausgestreckten Finger in die Dsternis. Da drauen war noch was anderes, das er vorher bersehen hatte; viel grer als irgend etwas Menschliches. Das Rudel der Kreaturen wich auseinander, um Kaufman durchzulassen, damit er nher in Augenschein nehmen knne, was auch immer da drauen stand, aber seine Fe wollten sich nicht bewegen. Vorwrts, sagte der Vater. . Kaufman dachte an die Stadt, seine alte Liebe. Waren dies wirklich ihre Altvordern, ihre Philosophen, ihre Schpfer? Er mute es glauben. Vielleicht gab es Leute an der Oberflche - Brokraten, Politiker, Autoritten jeglicher Art -, die dieses grliche Geheimnis kannten, deren Leben dazu ausersehen war, diese Wesen des Abscheus zu erhalten, sie zu fttern, wie die Wilden Lmmer an ihre Gtter verfttern. Dies Ritual hatte eine grliche Vertrautheit an sich. Es lie etwas Verges- senes anklingen - nicht in Kaufmans verstandesgemaem Bewutsein, sondern in seinem tieferen, lteren Selbst. Seine Fe, die nicht mehr seinem Bewutsein gehorchten, sondern seinem Trieb, etwas Hheres anzubeten, setzten sich in Bewegung. Er ging durch die Krpergasse und stieg aus dem Zug. Das Licht der Fackeln vermochte die grenzenlose Dunkelheit drauen kaum zu erhellen. Die Luft schien undurchdringlich, so fest duftete sie nach der alten Erde. Aber Kaufman roch nichts. Sein Kopf verneigte sich, das war alles, was er tun konnte, um zu verhindern, da er wieder ohnmchtig wurde. Da war er, der Vorlufer des Menschen. Der Ur-Amerikaner, dessen Stammheimat dies Land noch vor den Cheyenne oder Passamaquoddy war. Seine Augen, sofern er Augen hatte, ruhten auf ihm. Kaufmans Krper bebte. Seine Zhne klapperten. Er konnte die Gerusche des Skeletts dieses Wesens hren: Es tickte, knisterte, schluchzte. In der Finsternis vernderte es leicht seine Lage. Das Gerusch der Bewegung war furchterregend. Wie ein Berg, der sich aufrichtet. Kaufman hob unwillkrlich das Gesicht zu ihm empor, und ohne darber nachzudenken, was er oder weshalb er es tat, fiel er in der Scheie vor dem Vter-Vater auf die Knie. Jeder Tag seines Lebens hatte zu diesem Tag hingefhrt, jeder Augenblick diesem nicht planbaren Augenblick heiligen Schreckens entgegengebebt. Htte das Licht in diesem Hllenschlund ausgereicht, das Ganze zu sehen, wre womglich sein laues Herz zersprungen. So aber fhlte er es in seiner Brust beim Anblick dessen, was er sah, flattern. Ein Riese war's. Ohne Kopf oder Gliedmaen. Ohne Merk- male, die sich mit menschlichen htten vergleichen lassen, ohne Organ, das Sinn und Verstand gehabt htte. Und wenn das Wesen hnlichkeit mit irgend etwas besa, dann mit einem Fischschwarm. Tausend sich regende Muler, die alle in rhyth- mischem Gleichklang sproten, blhten und welkten. Es iri- sierte wie Perlmutt, aber hin und wieder leuchtete es intensiver als jede Farbe, die Kaufman kannte oder zu benennen ver- mochte. Das war alles, was er sehen konnte, und es war mehr, als er sehen wollte. Die Dunkelheit barg noch viel mehr Geflacker und Geflatter. Aber er konnte nicht lnger hinschauen. Er wandte sich ab, und kaum tat er's, wurde ein Fuball aus dem Waggon geschleudert, der vor den Vater hinrollte. Zumindest dachte Kaufman, da es ein Fuball war, bis er ihn sich genauer ansah und einen Menschenkopf in ihm erkennen mute: den Kopf des Schlchters. Die Gesichtshaut war strei- fenweise abgeschlt. So lag er vor seinem Herrn und glnzte in blutiger Nasse. Kaufman schaute weg und ging zum Waggon zurck. Jeder Teil seines Krpers schien zu weinen, bis auf die Augen. Sie brannten noch von dem Anblick, der jetzt hinter ihm lag, in ihrer Hitze verkochten seine Trnen. Drinnen hatten sich die Kreaturen bereits ber ihr Nachtmahl hergemacht. Eine, sah er, zerrte gerade den blauen sen Happen eines Frauenauges aus der Hhle. Eine andere hatte eine Hand im Mund. Kaufman zu Fen lag der kopflose Leichnam des Schlchters, und dort, wo man ihm den Hals durchbissen hatte, rann noch berreich das Blut heraus. Der schmchtige Vater, der anfangs das Wort an ihn gerichtet hatte, stand vor Kaufman. Dienst du uns? fragte er sanft, etwa so, wie man eine Kuh auffordert, einem zu folgen. Kaufman starrte das Hackmesser an, das Amtssymbol des Schlchters, Die Geschpfe verlieen jetzt den Waggon und zogen die halb verspeisten Leichen hinter sich her. Als sich die Fackeln entfernten, kehrte die Dunkelheit zurck. Aber bevor die Lichter ganz verschwunden waren, streckte der Vater die Hand aus, bekam Kaufmans Gesicht zu fassen und stie ihn herum, damit er sich in der verschmierten Fenster- scheibe selbst anschaute. Die Spiegelung war nur schemenhaft, aber Kaufman konnte durchaus deutlich sehen, wie verwandelt er war. Weier, als ein Lebender sein darf, voller Schmutz und Blut. Der Vater hielt noch immer Kaufmans Gesicht fest, und sein Zeigefinger hakte sich in dessen Mund hinein und den Schlund hinunter. Der Nagel schlitzte den Rachen auf. Kaufman umwrgte voller Brechreiz den Eindringling, hatte aber zur Abwehr der Attacke keinen Willensrest mehr brig. Diene, sagte das Geschpf. In Verschwiegenheit. Zu spt begriff Kaufman die Absicht des Fingers... Pltzlich wurde seine Zunge eisenhart gepackt und am Wurzel- grund herausgedreht, Zu Tod erschrocken, lie er das Hack- messer fallen. Er versuchte zu schreien, aber es kam kein Laut. Blut fllte ihm den Rachen, er hrte sein Fleisch reien, und unertrgliche Schmerzen durchkrampften ihn. Dann war die Hand aus seinem Mund heraus, und die schar- lachroten, speichelbedeckten Finger hielten ihm zwischen Dau- men und Zeigefinger seine Zunge vors Gesicht. Kaufman war sprachlos. Diene, sagte der Vater, stopfte sich die Zunge in den Mund und kaute offenkundig zufrieden auf ihr herum. Kaufman fiel auf die Knie und kotzte sein Sandwich aus. Schon schlurrte der Vater in die Dunkelheit davon; die restli- chen Altvordern waren in ihren Labyrinthen verschwunden bis zur nchsten Nacht. Die Lautsprecher knisterten. Nach Hause, sagte der Fahrer. Die Tren zischten zu, und das Gerusch des pltzlichen Energieschubs durchstrmte den Zug. Die Lichter gingen fiak- kernd an, dann aus, dann wieder an. Der Zug setzte sich in Bewegung. Kaufman lag am Boden, und die Trnen liefen ihm bers Gesicht, Trnen der Vernichtung und der Ergebung. Bestimmt wrde er verbluten, hier, wo er lag. Es machte nichts, wenn er starb. Die Welt war sowieso schlecht und gemein. Der Fahrer weckte ihn. Kaufman ffnete die Augen. Das Gesicht, das auf ihn runterschaute, war schwarz und nicht unfreundlich. Der Mann grinste. Kaufman versuchte, etwas zu sagen, aber sein Mund war mit vertrocknetem Blut versiegelt. Wie ein sabbriger Quasselbruder stie er ruckartig den Kopf herum und versuchte, ein Wort auszuspucken. Nur Gegrunze kam. Tot war er nicht. Verblutet war er nicht. Der Fahrer zog ihn hoch, da er auf die Knie kam, und sprach mit ihm wie mit einem Dreijhrigen. Hast 'ne Mordsaufgabe, mein Guter: Sie sind echt angetan von dir. Der Fahrer hatte sich die Finger nageleckt und rieb mit ihnen ober Kaufmans geschwollene Lippen, versuchte, sie voneinan- der zu lsen. Gibt 'ne Menge zu lernen bis morgen nacht... Menge zu lernen. Menge zu lernen. Er fhrte Kaufman aus dem Zug hinaus. Sie waren in einer Station, die er niemals zuvor gesehen hatte. Sie war wei gekachelt und makellos rein; das Nirwana eines jeden Stations- vorstehers. Kein Graffito entstellte die Wnde. Es gab keine Fahrmnzautomaten, aber schlielich gab es auch keine Ein- trittsschleusen und Passagiere. Dies hier war ein Grenzposten, der nur einen einzigen Gegenstand der Wartung vorsah: den Fleischzug. Eine Frhschicht Putzleute war bereits damit beschftigt, das Blut von den Sitzbnken und vom Boden des Zuges mit Schluchen wegzuspritzen. Jemand zog den Leichnam des Schlchters bis auf die Haut aus, um ihn fr den Transport nach New Jersey vorzubereiten. Rings um Kaufman war alles bei der Arbeit. Ein Regen morgendlichen Lichts ergo sich durch einen Gitter- rost in der Decke der Station. Staubteilchen schwebten in den Strahlen und wirbelten im Ringelreihen. Kaufman sah ihnen hingerissen zu. So etwas Schnes hatte er seit seinen Kinderta- gen nicht mehr gesehen. Wunderschner Staub. Rundum im Ringelreihen,, rundherum. Dem Fahrer war es gelungen, Kaufmans Lippen voneinander zu trennen. Der Mund war zu schwer verletzt, um ihn zu bewegen, aber zumindest fiel so das Atmen leichter. Und der Schmerz begann schon abzuklingen. Der Fahrer lchelte ihn an und wandte sich dann an die Arbeiter der Station. Mcht' euch gern Mahoganys Ersatz vorstellen: unser neuer Schlchter, gab er bekannt. Die Arbeiter schauten Kaufman an. In ihren Gesichtern zeich- nete sich eine gewisse Hochachtung ab, was er recht anspre- chend fand. Kaufman sah zum Sonnenlicht hinauf, das jetzt rings um ihn herabfiel. Er ruckte mit dem Kopf, um anzudeuten/ da er raufgehen wollte, raus ins Freie. Der Fahrer nickte und fahrte ihn eine steile Treppenflucht hinauf, weiter durch eine schmale Passage und auf diesem Weg hinaus auf den Brgersteig. Es war ein schner Tag. Den Himmel ber New York durchma- serten blasse, pinkfarbene Wolkenfdchen, und die Luft roch morgendlich. Die Straen und Avenues waren so gut wie leer. In einiger Entfernung berquerte ein vereinzeltes Taxi eine Kreuzung, der Motor klang wie ein Gewisper. Drben auf der anderen Straenseite qulte sich ein Jogger vorbei. Sehr bald wrden diese verlassenen Gehsteige voll sein mit sich drngenden Menschenmassen. In vlliger Ahnungslosigkeit wrde die Stadt zur Tagesordnung bergehen - und niemals wissen, worauf sie erbaut war oder wem sie ihr Leben ver- dankte. Ohne Zgern fiel Kaufman auf die Knie, kte den verdreckten Beton mit seinen blutigen Lippen und schwor stumm ihrem Fortbestand ewige Treue. Kommentarlos nahm die Hochburg der Wonnen den Huldi- gungsakt entgegen. Weshalb es die Mchte (lang mgen sie hofhalten; lang mgen sie Licht scheien auf die Scheitel der Verdammten) von der Hlle ausgesandt hatten zur Pirschjagd auf Jack Polo, war dem Geyatter einfach unerfindlich. Jedesmal, wenn es bers Netz- system an seinen Herrn und Meister eine schchterne Anfrage des simplen Inhalts: Was habe ich denn hier verloren? expedierte, erteilte man ihm seiner Neugier wegen unverzg- lich einen Rffel. Das sei nicht seine Sache, kam die Antwort, seine Sache sei die reine Durchfhrung, notfalls sein Tod beim Skh-drum-Bemhen. Sechs Monate war das Geyatter nun schon hinter Polo her, und allmhlich sah es im Untergang eine durchaus annehmbare Alternative. Dieses endlose Versteck- spiel war zu niemands Nutzen und strzte das Geyatter in tiefste Frustration. Es befrchtete Magengeschwre, es befrchtete psychosomatischen Aussatz (ein Leiden, fr das niederere Dmonen wie seinesgleichen anfllig waren) und was das Schlimmste war: Es befrchtete, vollstndig die Geduld zu verlieren und in einem unbezhmbaren Anfall von Verrge- rung den Mann glattweg abzuschlachten. Und berhaupt: Wer war schon dieser Jack Polo? Ein Gewrzgurken-Importeur; bei den Eiern des Leviathan, Gewrzgurken-Importeur war er, schlicht und ergreifend. Sein Leben war ramponiert, seine Familie war belanglos, seine politische Einstellung simpel und seine Theologie nicht exi- stent. Der Mann war eine Null, eins von den ganz faden Kinkerlitzchen der Natur - wozu sich abgeben mit seinesglei- chen? Das war kein Faust: Der hier schlo keinen Pakt oder verkaufte seine Seele. Der brauchte bei der Aussicht auf gttli- che Erleuchtung nicht gro zu berlegen: Kurz schniefen wrde er, die Achseln zucken und weiter seine Gurken impor- tieren. Aber das Geyatter war an dies Haus gefesselt, die lange Nacht, den lieben langen Tag, bis es den Mann in den Wahnsinn getrieben htte, mehr oder minder jedenfalls. Das erwies sich nachgerade als ein zeitraubendes, wenn nicht gar nie endendes Vorhaben. Ja, es gab Momente, in denen es selbst psychosoma- tischen Aussatz in Kauf genommen htte, sofern damit nur eine invalidittsbedingte Entlassung aus dieser unmglichen Mission verbunden gewesen wre. Was nun Jack J. Polo anging, so blieb dieser weiterhin ein Ausbund an Ahnungslosigkeit. Das war er schon immer gewe- sen, und sein Lebensweg war tatschlich mit den Opfern seiner Naivitt gepflastert. Als ihn seine jngst entschlafene Gattin betrog (bei mindestens zwei Fehltritten war er, fernsehender- weise, im Haus gewesen), war er der letzte, der's rausfand. Und das trotz der Spuren, die die beiden hinterlassen hatten! Ein blinder Taubstummer wre mitrauisch geworden. Jack nicht. Er wurstelte in seiner stumpfsinnigen Arbeit herum, ohne jemals das penetrante Klnisch des Ehebrechers zu bemerken und ebensowenig die ungewhnliche Regelmigkeit, mit der seine Frau die Bettlaken wechselte. Das gleiche Desinteresse an dem, was um ihn vorging, zeigte er, als ihm seine jngste Tochter Amanda ihre lesbische Veran- lagung gestand. Seine Reaktion: ein Seufzer und ein leicht konfuser Blick. Also, solang du nicht schwanger wirst, Schtzchen, antwor- tete er und schlenderte fort in den Garten, unbekmmert wie immer. Was konnte ein Furienwesen bei einem solchen Mann schon ausrichten? Einem Geschpf, das darauf dressiert war, seine vorwitzigen Finger in die Wunden der menschlichen Psyche zu legen, bot Polo eine so eisglatte, eine jedes Merkmal entbehrende Ober- flche, als sollte der bsen Tcke jedweder Halt verweigert werden. Vorkommnisse schienen in seiner vollkommenen Teilnahms- losigkeit keinerlei Spuren zu hinterlassen. Die Katastrophen- flle seines Lebens schienen sein Gemt nicht im geringsten mit Narben zu verunstalten. Als er schlielich mit der Untreue seiner Frau tatschlich und unzweideutig konfrontiert wurde {er erwischte die beiden zufllig beim Vgeln im Bad), brachte er es einfach nicht fertig, verletzt oder gedemtigt zu sein. So was passiert eben, sagte er sich und drckte sich aus dem Badezimmer, um die beiden beenden zu lassen, was sie ange- fangen hatten. Cke sera, sera.. Che sera, sera. Der Mann bediente sich dieser verdammten Floskel mit monotoner Regelmigkeit. Aus dieser fatalisti- schen Philosophie heraus schien er zu leben, und er lie Angriffe auf seine Mnnlichkeit, seinen Ehrgeiz und seine Wrde von seinem Ego abperlen wie das Regenwasser von seinem Glatzkopf. Das Geyatter hatte gehrt, wie Polos Frau ihrem Mann alles gestand (es hing verkehrt herum am Beleuchtungskrper, unsichtbar wie immer), und die Szene hatte es zusammenzuk- ken lassen. Da stand die aufgewhlte Snderin, bettelte darum, angeklagt, angeschrien, ja geschlagen zu werden, und statt ihr gehssig Genugtuung zu geben, hatte Polo nur mit den Ach- seln gezuckt und sie, ohne sie mit einem Wort zu unterbrechen, ihren Fall darlegen lassen, bis sie nichts mehr zu enthllen hatte. Endlich war sie dann gegangen, mehr aus Frustration und Kummer als aus Schuldgefhl; das Fehlen jeglicher recht- schaffener Wut bei ihrem Mann hatte sie schwer gekrnkt; das Geyatter hatte es gehrt, wie sie es dem Badezimmerspiegel erzhlte. Kurze Zeit spter strzte sie sich vom Balkon des Roxy-Kinos. In mancherlei Hinsicht kam dem Furienwesen ihr Selbstmord ganz gelegen. Jetzt, da die Frau tot war und die Tchter das Zuhause verlassen hatten, konnte es durchdachtere Tricks aushecken, um sein Opfer zu entnerven, ohne immer drauf achten zu mssen, seine Gegenwart vor Geschpfen geheimzu- halten, auf die es die Mchte nicht abgesehen hatten. Aber die Abwesenheit der Frau hatte zur Folge, da das Haus tagsber leerstand, und das wurde bald zu einer Stumpfsinns- last, die das Geyatter kaum ertrglich fand. Die Stunden von neun bis fnf, sie schienen endlos, wenn man allein im Haus war. Vermotzt, trbselig stromerte es dann herum und dachte sich verstiegene und abstruse Racheakte aus fr den Polo- Mann, schritt totentraurig die Zimmer ab, nur begleitet von den klickenden und surrenden Geruschen des Hauses, wenn die Heizkrper abkhlten oder der Khlschrank sich ein- und ausschaltete. Rasch wurde die Lage derart desperat, da das Eintreffen der Mittagspost zum Hhepunkt des Tages wurde, und unerschtterliche Melancholie senkte sich jedesmal auf das Geyatter herab, wenn der Postbote nichts einzuwerfen hatte und einfach zum nchsten Haus weiterging. Mit der Rckkehr Jacks gingen die Spiele dann ernstlich los. Die bliche Aufwrmroutine: Jack an der Tr abfangen und verhindern, da sein Schlssel sich im Schlo umdreht. Das Krftemessen dauerte so ein, zwei Minuten, bis Jack zufllig den Blockierungsschwerpunkt des Geyatters herausfand und fr diesen Tag Sieger blieb. Drinnen dann brachte es alle Lampenschirme zum Schwingen. Normalerweise nahm der Mann diese Darbietung nicht zur Kenntnis, ganz gleich, wie heftig das Geschaukel auch war. Allenfalls zuckte er eventuell mit den Achseln, murmelte im Flsterton was vom Sich- senken der Grundmauern und hngte unweigerlich sein Che sera, sera dran. Im Badezimmer hatte das Geyatter bereits den Toilettensitz rundum mit Zahnpasta garniert und die Handbrause mit durchweichtem Toilettenpapier verstopft. Er duschte sogar gemeinsam mit Jack, hing dabei ungesehn an der Stange, die den Duschvorhang hielt, und raunte ihm obszne Eingebun- gen ins Ohr. Das funktioniere immer, schrfte man den Dmonen auf der Akademie ein. Unfehlbar verstrten die eingeflsterten Obsznitten die Klienten, machten sie glau- ben, da sie sich diese verabscheuungswrdigen Akte selbst ausdachten und trieben sie zum Ekel vor sich selbst, dann zur Ablehnung ihrer selbst und schlielich zum Wahnsinn. In wenigen Fllen gerieten die Opfer durch diese geraunten Ein- gebungen sogar derart in Erregung, da sie auf die Strae liefen und sie ausagierten. Unter solchen Umstnden wurde das Opfer hufig verhaftet und eingesperrt. Das Gefngnis fhrte dann zu weiteren Verbrechen und zum langsamen Hinschwinden der moralischen Reserven - der Sieg war auf diesem Weg sicher. Und auf diese oder eine andere Art kam letztlich der Irrsinn zum Vorschein. Nur da sich aus irgendeinem Grund diese Regel auf Polo nicht anwenden lie; er war nicht zu beunruhigen: ein Boll- werk der Anstndigkeit. In der Tat fiel, wie die Dinge lagen, dem Geyatter die Rolle dessen, der zusammenbrach zu. Es war mde; sosehr mde. Endlose Tage lang die Katze qulen, die Witzseiten aus der gestrigen Zeitung lesen, die Spielserien im Fernsehen beglot- zen: das laugte das Furienwesen aus. Neuerdings hatte es eine Leidenschaft fr die Frau entwickelt, die Polo gegenber auf der anderen Straenseite wohnte. Sie war eine junge Witwe und verbrachte augenscheinlich den grten Teil ihres Lebens damit, splitternackt ums Haus zu stolzieren. Manchmal, zur Mittagszeit, wenn sich der Postbote wieder mal nicht blicken lie, war es fr das Geyatter fast unertrglich, die Frau drben vor Augen zu haben und zu wissen, da es niemals die Schwelle von Polos Haus berschreiten konnte. So lautete das Gesetz. Das Geyatter war ein subalterner Dmon, und seine Seelenf ngerei war strikt auf den huslichen Umkreis seines Opfers eingegrenzt. Ein Schritt darber hinaus bedeutete die Preisgabe aller Macht ber das Opfer: ein Sichausliefern an die Gnade und Ungnade der Menschennatur. Den ganzen Juni und Juli und fast den ganzen August schwitzte es in seinem Gefngnis, und all diese strahlenden, heien Monate ber bewahrte Jack Polo seine vollkommene Unge- rhrtheit gegenber den Attacken des Geyatters. Es war zutiefst verwirrend und zerstrte nach und nach das Selbstvertrauen des Dmons, mit ansehen zu mssen, wie dieses khl-glatte Opfer jeden Anschlag und Trick berlebte. Das Geyatter weinte. Das Geyatter zeterte. In einem Anfall zgelloser Qual brachte es das Wasser im Aquarium zum Kochen und pochierte dabei die Guppies. Polo hrte nichts, sah nichts. Schlielich, Ende September, brach das Geyatter eine der Grundregeln seines Standes und wandte sich direkt an seine Meister. Der Herbst ist die Jahreszeit der Hlle; und die Dmonen der hheren Herrschaftsrnge fhlten sich milde gesinnt. Sie geruhten, mit ihrer Kreatur zu sprechen. Was willst du? fragte Beelzebub, und seine Stimme schwrzte die Luft im Wohnzimmer. Dieser Mann... begann das Geyatter nervs. Ja? Dieser Polo... Ja? Ich bring's zu keinem Ergebnis bei ihm. Ich kann keine Panik bei ihm auslsen, ich kann keine Angst, nicht einmal leichte Beunruhigung bei ihm hervorbringen. Fruchtlos bin ich, o Herr der Fliegen, und ich wnsche, da man mich von meinem Elend befreit. Einen Augenblick lang nahm Beelzebubs Gesicht im Spiegel ber dem Kaminsims Gestalt an. Was willst du? Beelzebub war halb Elefant, halb Wespe. Das Geyatter frch- tete sich schrecklich. Ich... will sterben. Du kannst nicht sterben. Fort aus dieser Welt. Nur von dieser Welt wegsterben. Dahin- schwinden. Ausgetauscht werden. D wirst nicht sterben. Aber ich kann ihn nicht zugrunde richten! kreischte unter Trnen das Geyatter. Du mut es. Wo bleibt dein Stolz? sagte die Stimme des Meisters noch und verhallte in der Ferne. Stolz, Geyatter, Stolz! Dann war er fort. In seiner Frustration griff sich das Geyatter den Kater und warf ihn ins Kaminfeuer, wo er rasch eingeschert wurde. Wenn das Gesetz doch nur gestattete, menschliches Fleisch mit einer solch einfachen Qulerei heimzusuchen, dachte es. Ja, wenn nur. Wenn nur - dann wrde es Polo solche Torturen erdulden lassen. Aber nein. Das Geyatter kannte die Gesetze so gut wie seinen Handrcken; von seinen Lehrern waren sie ihm als gerade flgge gewordenem Dmon auf den Balg gebleut wor- den. Und Gebot eins bestimmte: Du sollst nicht an deine Opfer Hand anlegen. Man hatte ihm nie gesagt, weshalb dieses Gebot Geltung beanspruchte, aber das tat es. Du sollst nicht... Also ging die peinliche Prozedur weiter. Tagein, tagaus, und noch immer zeigte der Mann kein Symptom des Weichwer- dens. Im Verlauf der nchsten Wochen murkste das Geyatter zwei weitere Kater ab, die Polo als Ersatz fr seinen hochge- schtzten Freddy (nunmehr Asche) heimbrachte. Das erste dieser armen Opfer wurde an einem unproduktiven Freitagnachmittag in der Kloschssel ertrnkt. Es war immer- hin eine Genugtuung, den Ausdruck des Ekels auf Polos Gesicht sich abzeichnen zu sehen, als er den Reiverschlu seiner Hose ffnete und runterschaute. Aber jegliches Vergn- gen, das das Geyatter an Jacks Fassungslosigkeit fand, wurde durch die unbekmmert souverne Art wieder aufgehoben, in der der Mann mit dem toten Kater fertig wurde: Er hievte das triefende Fellbndel aus dem Becken, wickelte es in ein Hand- tuch und begrub es im Garten praktisch ohne einen Mucks. Warum? Weil Wir's dich heien. Immer gebrauchte Beelzebub den Pluralis majestatis, obwohl ihm das gar nicht zustand. Lat mich wenigstens wissen, weshalb ich in diesem Haus bin, bat das Geyatter dringlich. Was ist er denn schon? Nichts! Ein Nichts ist er! Beelzebub fand das gelungen. Er lachte, summte, trompetete. Jack Johnson Polo ist das Kind eines praktizierenden Mitglieds der Kirche des Verlorenen Heils. Er gehrt Uns. Aber was bitte wollt Ihr denn mit ihm? Er ist so fad. Wir wollen ihn, weil man Uns seine Seele versprochen und seine Mutter sie nicht ausgeliefert hat. Oder selber nicht so weit gekommen ist. Sie hat Uns betrogen. Tod in den Armen eines Priesters, und sicheres Geleit zum... Das darauffolgende Wort war mit dem Bannfluch belegt. Der Herr der Fliegen brachte es kaum ber sich, es auszusprechen. ... Himmel, sagte Beelzebub mit unendlicher Trauer ber den Verlust in der Stimme. Himmel, sagte das Geyatter und wute nicht recht, was mit dem Wort gemeint war. Auf Gehei des Alten hchstpersnlich ist Polo mit Furien zu hetzen und zu bestrafen fr die Verbrechen seiner Mutter. Keine Tortur ist grausam genug fr eine Familie, die Uns betrogen hat. Ich bin am Ende, setzte das Geyatter instndig dagegen und wagte es, sich dem Spiegel zu nhern. Bitte. Ich fleh' Euch an. Bring diesen Mann zur Strecke, sagte Beelzebub, oder du leidest an seiner Statt. Die Gestalt im Spiegel winkte mit ihrem schwarzgelben Rssel und verblate. Der dritte Kater, den Polo nach Hause brachte, war ber die unsichtbare Gegenwart des Dmons von Anfang an im Bilde, und so wurde dann auch Mitte November das Leben fr das Geyatter eine unterhaltsame Woche lang, in der es Katz und Maus mit Freddy III. spielte, geradezu interessant. Freddy spielte die Maus. Da Katzen keine besonders hellen Tiere sind, war der Zeitvertreib schwerlich eine groe intellektuelle Her- ausforderung, aber er brachte Abwechslung in die endlosen Tage des Wartens, Verfolgens und Scheiterns. Zumindest akzeptierte das Tier die Gegenwart des Geyatters. Zu guter Letzt jedoch, in einer scheulichen Stimmung (ausgelst durch die Wiederverheiratung der nackten Witwe von gegenber) verlor der Dmon seine Geduld mit dem Kater. Der wetzte seine Krallen auf dem Nylonteppich, kratzte stundenlang mit den Klauen am Velours. Das Gerusch ttete dem Dmon den metaphysischen Nerv: ein einziger kurzer Blick auf den Kater, und der zersprang in Stcke, als htte er eine scharfe Granate verschluckt. Die Wirkung war imposant, die Ergebnisse kra: berall Kat- zenhirn, Katzenfell und Katzeneingeweide. Polo kam an diesem Abend erschpft nach Hause, stand unter der Tr des Ezimmers und musterte mit zutiefst angeekeltem Gesicht das Blutbad, in das sich Freddy III. verwandelt hatte. Elende Hunde, sagte er, Elende Hundsviecher, elende. Wut war in seiner Stimme. Ja, frohlockte das Geyatter, regel- rechte Wut. Der Mann war durcheinander: In seinem Gesicht zeigten sich eindeutig feststellbare Anzeichen von Gefhl. Hochgestimmt fegte der Dmon durchs Haus, wild entschlos- sen, seinen Sieg auszureizen. Er machte jede Tr auf und knallte sie zu, zertrmmerte Vasen, brachte die Lampen- schirme zum Schwingen. Polo kratzte lediglich feinsuberlich den Kater zusammen. Das Geyatter warf sich die Treppe runter, zerfetzte ein Kissen, schlpfte auf dem Speicher in die Rolle eines kichernden Wesens mit Hinkefu und Lust auf Menschenfleisch. Polo begrub lediglich Freddy III. neben dem Grab von Freddy II. und der Asche von Freddy I. Dann legte er sich schlafen, ohne sein Kissen. Der Dmon fhlte sich restlos aufgeschmissen. Welche Chance, bitte, blieb ihm denn, diesen Dreckskerl jemals zu knacken, wenn der Mann beim Explodieren seines Katers im Ezimmer nicht mehr als den Funken einer Anteilnahme aufzubringen vermochte? Eine letzte Mglichkeit stand noch aus. Christi Geburtstag rckte nher, und Jacks Kinder wrden heimkommen in den Scho der Familie. Vielleicht konnten sie ihn berzeugen, da mit der Welt doch nicht alles in Ordnung war; vielleicht konnten sie ihre Fingerngel unter seine makel- lose Gleichgltigkeit zwngen und anfangen, ihn niederzurei- en. Hoffend, wo es nichts mehr zu hoffen gab, harrte das Geyatter die Wochen bis in den spten Dezember aus und plante seine Angriffe mit aller erfinderischen Bsartigkeit, die es aufbringen konnte. Inzwischen ging Jacks Leben seinen gemchlichen Gang. Er schien abgetrennt von seiner Erfahrung zu leben, lebte sein Leben, wie ein Autor mglicherweise eine grotesk-abstruse Erzhlung schreibt: indem er sich selbst nie zu tief in den Geschehensablauf verwickelt. Einige bezeichnende Umstnde zeigten jedoch seine Begeisterung fr den kommenden Feier- tag. Er machte die Zimmer seiner Tchter tadellos sauber. Er bezog ihre Betten mit s riechender Wsche. Er entfernte jedes Fleckchen Katzenblut aus dem Teppich. Er stellte sogar einen Christbaum im Wohnzimmer auf, behngt mit schillern- den Kugeln, Lametta und Geschenken. Hin und wieder, whrend er mit den Vorbereitungen zugange war, dachte Jack an das Spiel, das er spielte, und rechnete sich still die Nachteile aus. In den bevorstehenden Tagen wrde er nicht nur sein Leiden, sondern auch das seiner Tchter gegen den mglichen Sieg abwgen mssen. Und immer, wenn er diese Berechnungen anstellte, schien die Chance des Sieges die Risiken aufzuwiegen. Also fuhr er fort, sein Leben zu schreiben, und wartete. Schnee stellte sich ein, sanftes Wattepochen gegen die Fenster, gegen die Tr. Kinder kamen, um Weihnachtslieder zu singen, und er war freigebig zu ihnen. Fr eine kurze Zeitspanne war es mglich, an den Frieden auf Erden zu glauben. Sptabends am dreiundzwanzigsten Dezember trudelten die Tchter ein, in einem Gestber aus Koffern und Kssen. Die jngere, Amanda, kam als erste. Aus seinem Beobachtungspo- sten auf dem Treppenabsatz taxierte das Geyatter erbost die junge Frau. Augenscheinlich nicht das ideale Material, um damit einen Zusammenbruch auszulsen. Genaugenommen wirkte sie bedrohlich. Gina folgte ein, zwei Stunden spter; eine glatt-versierte Frau von Welt mit vierundzwanzig, die aufs Haar so einschchternd wie ihre Schwester wirkte. Sie drng- ten ins Haus mit ihrer Hektik und ihrem Gelchter; sie stellten die Mbel um; sie befrderten alte Lebensmittel aus der Khl- truhe und gestanden einander (und ihrem Vater), wie sehr sie sich gegenseitig gefehlt htten. Innerhalb weniger Stunden erstrahlte das bislang trist-graue Haus in den frischen Farben von Licht und Spa und Liebe. Das Geyatter wurde krank davon. Wimmernd barg es den Kopf im Schlafzimmer, um sich gegen das Zuneigungsgetse abzuschirmen, aber die Stowellen hll- ten es ein. Ihm blieb nur brig, dazusitzen, zuzuhren und seine Rache zu verfeinern. Jack freute sich, seine Schnen daheim zu haben. Amanda so engagiert und so stark wie ihre Mutter. Gina mehr wie seine Mutter: ausgeglichen, scharfsichtig. Die Gegenwart der beiden machte ihn so glcklich, da er htte weinen knnen. Und was tut der stolze Vater? Setzt sie beide einem solchen Risiko aus. Aber gab es eine Alternative? Wenn er die Weihnachtsfeier ausfallen lie, wrde das uerst verdchtig wirken. Es wrde womglich seine ganze Strategie zu Fall bringen und den Feind auf das Manver aufmerksam machen, das gegen ihn im Gange war. Nein, er mute eisern die Stellung halten. Den Dummen spielen, sich weiter so verhalten, wie es der Feind nachgerade von ihm erwartete. Die Zeit zum Handeln wrde kommen. Am Weihnachtsmorgen um drei Uhr fnfzehn erffnete das Geyatter die Feindseligkeiten, indem es Amanda aus dem Bett warf. Eine windige Nummer bestenfalls, aber sie hatte den gewnschten Effekt. Verschlafen rieb sie ihren angeschlagenen Kopf und kletterte zurck ins Bett, nur um zu erleben, da dieses wie ein ungezhmtes Fohlen hochbockte, sich schttelte und sie wiederum abwarf. Der Lrm weckte die ndern im Haus. Gina war als erste im Zimmer ihrer Schwester. Was ist los? Es ist jemand unterm Bett. Was? Gina griff sich einen Briefbeschwerer vom Toilettentisch und forderte den Angreifer auf herauszukommen. Das Geyatter sa, unsichtbar, auf der Bank unterm Fenster, machte obszne Gebrden zu den Frauen hin und band sich Knoten in die Genitalien. Gina schaute unters Bett. Das Geyatter klebte jetzt am Beleuchtungskrper, brachte ihn dazu, hin und her zu schwin- gen, und lie so das Zimmer in Taumel geraten. Daist nichts. Doch. Amanda wute Bescheid. O ja, sie wute Bescheid. Irgendwas ist hier, Gina, sagte sie. Irgendwas ist hier bei uns im Zimmer, da bin ich ganz sicher. Nein. Gina war kategorisch. Es ist leer. Amanda suchte gerade hinterm Kleiderschrank nach, als Polo eintrat. Was war 'n das fr 'n Gerumpel? Irgendwas ist im Haus, Daddy. Hat mich aus dem Bett geworfen. Jack sah die zerdrckten Bettlaken, die verschobene Matratze, dann Amanda an. Dies war der erste Test: Er mute so unverkrampft lgen wie mglich. Hast wahrscheinlich schlimm getrumt, meine Schne, sagte er und trug ein unschuldiges Lcheln zur Schau. Es war was unterm Bett, beharrte Amanda. Jetzt zumindest ist niemand hier. Aber ich hab's deutlich gesprt. Also, ich seh' mal sonst im Haus nach, bot er ihnen an, ohne sich sonderlich fr die Aufgabe zu erwrmen. Ihr beide bleibt hier, fr alle Flle. Als Polo aus dem Zimmer ging, lie das Geyatter den Beleuch- tungskrper ein bichen strker schaukeln. Die Grundmauern werden sich gesenkt haben, sagte Gina. Es war kalt im Erdgescho, und Polo htte gern darauf ver- zichtet, barfu auf den Kchenfliesen rumzutappen, aber er war insgeheim zufrieden, da der Kampf in so kleinkarierter Manier aufgenommen worden war. Er hatte schon halb befrchtet, da der Feind in der unmittelbaren Nhe solch zarter Opfer in Raserei geraten knne. Aber nein: Er hatte die Wesensart des Geschpfs ganz richtig eingeschtzt. Es war eins aus den niedereren Rngen. Stark durchaus, aber schwer von Begriff. Es lie sich sicher ber die Grenzen seiner Machtbefugnis hinauslocken. Nur schn vorsichtig, sagte er sich, nur schn vorsichtig. Er latschte durchs ganze Haus, ffnete pflichtschuldigst Schrankfcher und guckte hinter die Mbel; dann kehrte er zu seinen Tchtern zurck, die auf dem oberen Treppenabsatz saen. Amanda sah klein und bla aus, nicht mehr wie die zweiundzwanzigjhrige Erwachsene, sondern wieder wie ein Kind. Nichts zu machen, sagte er lchelnd zu ihr. 's ist Weih- nachtsmorgen, kreuzquer durchs Haus... Gina reimte zu Ende: Rhrt sich rein gar nichts, nicht mal 'neMaus. Nicht mal 'ne Maus, meine Schne. In diesem Augenblick fhlte sich das Geyatter irgendwie angesprochen und schleuderte eine Vase vom Kaminsims im Wohnzimmer. Sogar Jack zuckte zusammen. Scheie, sagte er. Erbrauchte dringend etwas Schlaf, aber ganz offenkundig hatte das Gey- atter keineswegs die Absicht, sie gerade jetzt in Ruhe zu lassen. Unter Cfte-sera-serfl-Gemurmel schaufelte er die Scherben der chinesischen Vase auf und gab sie in ein Stck Zeitungspa- pier, Wit ihr, das Haus senkt sich 'n bichen auf der linken Seite, sagte er lauter. Das geht jetzt schon Jahre so. Wenn es absinkt, sagte Amanda mit ruhiger Bestimmtheit, wirft es mich unmglich aus dem Bett. Gina sagte nichts. Die Wahlmglichkeiten waren begrenzt. Die Alternative wenig reizvoll. Na, vielleicht war's der Weihnachtsmann, sagte Polo und probierte die frivole Masche. Er packte die Vasenscherben ein und schlenderte in die Kche rber, in der Gewiheit, da man ihn dabei auf Schritt und Tritt beschattete. Was soll es sonst gewesen sein ? fragte er leichthin ber die Schulter und stopfe dabei das Zeitungspapier in den Abfalleimer. Die einzige noch mgliche Erklrung, hier kam er fast in Hochstimmung, so nah streifte er die Wahrheit, die einzige noch mgliche Erklrung ist zu haarstrubend-abstrus, um sie auch nur auszusprechen.i Es hatte etwas kstlich Ironisches, die Existenz der unsichtbaren Welt zu leugnen und sich vllig bewut zu sein, da ihm eben jetzt ihr rachschtiger Atem den Nacken hinabstrich. Meinst du Poltergeister? fragte Gina. Ich mein' alles, was rumrumpelt in der Nacht. Aber schlielich sind wir erwachsene Menschen, nicht? Wir glauben an keine Schwarzen Mnner. Nein, sagte Gina trocken, tu ich nicht. Aber ebensowenig glaub' ich, da das Haus sich absenkt. Also, frs erste mu es reichen, sagte Jack mit nonchalanter Entschiedenheit. Ab sofort haben wir Weihnachten. Das wollen wir uns doch nicht mit weiterem Gerede ber Kobolde vermiesen. Sie lachten alle drei. Kobolde. Das traf sicher tief, die Hllenausgeburt einen Kobold zu nennen. Das Geyatter - halb krank vor Frustration, Suretrnen schumten auf seinen Wangen - knirschte mit den Zhnen und verhielt sich ruhig. Es wrden schon noch Zeit und Gelegenheit kommen, dieses atheistische Lcheln aus Jack Polos glattem, feistem Gesicht herauszudreschen. Jede Menge Zeit. Keine halben Sachen mehr von jetzt ab. Keine feinen Unterschiede. Ein Groangriff wrde es werden, der totale Krieg. Zu Bht soll's kommen. Und zu Todesqual. Kaputtgehen wrden sie, allesamt. Amanda war in der Kche beim Zubereiten des Weihnachtses- sens, als das Geyatter seine nchste Attacke in Szene setzte. Durchs Haus zogen die Klnge des King's-College-Chors, O stilles Stdtchen Bethlehem, wie friedlich liegst du da... Die Geschenke waren ausgepackt, die Gin-Tonics wurden run- tergekippt, das Haus war eine einzige liebevolle Umarmung vom Dach bis zum Keller. In der Kche durchdrang ein pltzlicher Klteschauer die Hitze und den Dampf und lie Amanda frsteln; sie ging zum Fenster, das zur Durchlftung einen Spaltbreit offen war, und schlo es. Vielleicht brtete sie irgendwas aus. Das Geyatter sah sich ihren Rcken an, als sie hingegeben ihrer Kchenarbeit nachging und fr einen Tag das husliche Leben geno. Amanda sprte den starren Blick ganz deutlich. Sie drehte sich um. Niemand, nichts. Sie fuhr fort, den Rosenkohl zu putzen und durchschnitt dabei einen mit einem eingerollten Wurm in der Mitte. Sie ersufte ihn, Der Chor sang weiter. Im Wohnzimmer lachten Jack und Gina ber irgendwas. Dann der Lrm. Ein Rtteln zunchst, anschlieend das Hm- mern von Fusten gegen eine Tr. Amanda lie das Messer in die Rosenkohlschssel fallen und wandte sich vom Ausgu weg, um dem Gerusch nachzugehen. Es wurde immer lauter. Als wre etwas in einem der Geschirrschrnke eingesperrt und versuchte verzweifelt rauszukommen. Eine Katze, die im Kasten festsa, oder ein... Vogel. Es kam aus dem Ofen, Amanda drehte sich der Magen um, als sie anfing, sich das Schlimmste vorzustellen. Hatte sie etwas in die Backrhre gesperrt, als sie den Truthahn hineingeschoben hatte? Sie rief nach ihrem Vater, griff sich zugleich hastig den Ofenlappen und ging zum Herd, den die Panik seines Gefangenen zum Schaukeln brachte. Sie halluzinierte eine fettberbrhte Katze, die heraus- und auf sie lossprang, mit weggebranntem Fell, das Fleisch halb durchgebraten. Jack stand in der Kchentr. Es ist was im Ofen, sagte sie zu ihm, als wre das noch ntig gewesen. Der Herd war auer Rand und Band; sein explosiv herumhmmernder Inhalt hatte schon fast die Tr rausgedro- schen. Er nahm ihr den Ofenlappen aus der Hand. Das ist was Neues, dachte er. Bist besser, als ich dir zugetraut hab'. Ziemlich gewieft ist das. Und originell. Jetzt war auch Gina in der Kche. Blo nichts anbrennen lassen! flachste sie. Der Witz ging aber unter, da der Herd jetzt zu tanzen anfing und die Tiegel voll kochendem Wasser von den Flammen gestoen und auf den Boden geschnellt wurden. Siedendheies Wasser verbrhte Jack am Bein. Er schrie auf, stolperte rck- wrts in Gina hinein/ um dann, mit einem Schlachtruf, der einem Samurai keine Schande gemacht htte, Richtung Herd zu hechten. Der Backrohrgriff war glitschig vor Hitze und Fett, aber er packte ihn und ri die Tr auf. Ein Schwall aus Dampf und blasenziehender Hitze wlzte sich aus dem Ofen und duftete herzhaft nach Truthahnfett. Aber der Vogel da drinnen hatte allem Anschein nach keinerlei Absichten, sich essen zu lassen. Er warf sich auf dem Bratblech von einer Seite auf die andere und schleuderte Soenspritzer in alle Richtungen. Seine knusprig braunen Flgel wedelten und flatterten jmmerlich, seine wirbelnden Schlegel trommelten gegen die Bratrohrabdeckung. Dann schien er die offene Tr zu wittern. Seine Flgel streck- ten sich zu beiden Seiten seiner gefllten Rumpfmasse aus, und halb fiel, halb hpfte er - in Nachffung seines unversehrten lebendigen Selbst - hinaus auf die Ofentr. Kopflos, Flle und Zwiebeln absondernd, plumpste und klatschte er herum, als htte der Teufelsbraten noch nie etwas davon gehrt, da er tot war; und noch immer brutzelte das Fett auf seinem speckbe- streuten Rcken. Amanda schrie. Jack bckte sich nach der Ofentr, da schlingerte der Vogel schon blind, aber rachgierig in die Luft. Was er zu tun beabsich- tigte, sobald er seine drei zusammengekauerten Opfer erreicht hatte, wurde nie herausgefunden. Gina zerrte Amanda in die Eingangshalle, ihr Vater folgte dichtauf, und die Tr wurde zugeworfen, gerade noch rechtzeitig, denn schon schleuderte sich der Vogel gegen die Fllung und schlug mit seiner ganzen Kraft darauf. Bratensaft sickerte dunkel und fettig durch den Spalt an der Schwelle. Die Tr hatte keinen Riegel, aber Jack folgerte, da der Vogel auerstande war, den Griff zu drehen. Atemlos rumte er die Gefahrenzone und verfluchte sein Selbstvertrauen. Die geg- nerische Seite hatte mehr auf Lager, als er angenommen hatte. Amanda lehnte an der Wand und schluchzte; dicke Kleckser Truthahnfett befleckten ihr Gesicht. Sie konnte, so schien es, nur noch eines tun: abstreiten, was sie gesehen hatte. Sie schttelte den Kopf und murmelte wieder und wieder ihr Nein wie eine Zauberformel gegen den lcherlichen Horror, der sich noch immer gegen die Trfllung warf. Jack geleitete sie ins Wohnzimmer. Das Radio suselte noch immer Weih- nachtslieder, die das Gepolter des Vogels auslschten, aber ihre Frohbotschaft des guten Willens schien nur ein geringer Trost zu sein. Gina schenkte ihrer Schwester einen berdimensionalen Brandy ein und setzte sich neben sie aufs Sofa, um ihr Hoch- prozentiges und Beruhigung zu etwa gleichen Teilen aufzun- tigen. Beide machten auf Amanda wenig Eindruck. Was bitte war das? fragte Gina ihren Vater in einem Ton, der eine Antwort verlangte, Ich wei nicht, was es war, erwiderte Jack. Massenhysterie? Ginas Ungehaltenheit war offensichtlich. Ihr Vater hatte ein Geheimnis: Er wute, was im Haus vor sich ging, aber aus irgendeinem Grund weigerte er sich, damit rauszurcken. Wen soll ich kommen lassen: die Polizei oder einen Exorzi- sten? Niemand. Also, um Himmels willen,.. Nichts ist im Gang, Gina. Wirklich. Ihr Vater wandte sich ab vom Fenster und sah sie an. Seine Augen sprachen aus, was sein Mund zu sagen sich weigerte: da es sich um Krieg handelte. Jack hatte Angst. Das Haus war pltzlich ein Gefngnis. Das Spiel war pltzlich tdlich. Der Feind zog nicht mehr alberne Spielchen durch, sondern hatte Schlimmes im Sinn, wirklich Schlimmes fr sie alle. In der Kche hatte sich der Truthahn endlich geschlagen gegeben. Die Weihnachtslieder im Radio waren zu einer Pre- digt ber die Segnungen Gottes geronnen. Was s gewesen war, war jetzt sauer und gefhrlich. Er betrachtete Amanda und Gina am anderen Ende des Zimmers. Beide zitterten, jede hatte ihre eigenen Grnde. Polo wollte ihnen sagen, wollte ihnen erklren, was vor sich ging. Aber das Wesen mute hier sein, ganz sicher, und sich hmisch freuen. Er irrte sich. Das Geyatter hatte sich, hochzufrieden mit seinen Bemhungen, auf den Dachboden zurckgezogen. Der Vogel, das fhlte es, war ein Geniestreich gewesen. Jetzt konnte es eine Weile ausruhen: sicherholen. Sollen sich nur die Nerven des Feindes in schlimmen Vorahnungen zerfetzen. Und dann, wenn's ihm gerade pate, wrde er den Gnadensto verabrei- chen. Ganz beilufig fragte es sich, ob wohl irgendeiner von den Kontrolleuren seine Arbeit mit dem Truthahn gesehen hatte. Vielleicht wren sie jetzt von seiner Originalitt hinreichend beeindruckt, um seine Berufsaussichten zu verbessern. Es hatte diese ganzen Ausbildungsjahre bestimmt nicht durchge- macht, um lediglich schwachsinnige Trottel wie Polo zu het- zen. Eine herausforderndere Aufgabe als diese mute drin sein. Das Geyatter fhlte Sieg in seinen unsichtbaren Knochen, und das war ein gutes Gefhl. Die Jagd auf Polo wrde jetzt bestimmt an Dramatik gewinnen. Seine Tchter wrden ihn berzeugen (falls er es nicht jetzt schon vllig war), da etwas Schreckliches vor sich ging. Er wrde zusammenkrachen. Er wrde zerbrckeln. Womglich wrde er auf die klassische Art verrckt werden: sich die Haare ausraufen, sich die Kleider runterfetzen, sich mit dem eigenen Kot beschmieren. O ja, der Sieg war nahe. Und htte es dann nicht das volle Wohlwollen seiner Meister? Wrde man es nicht mit Lobpreis berschtten und mit Macht? Lediglich eine einzige Manifestation war erforderlich. Ein endgltiger, zndend genialischer Eingriff, und Polo wre nur noch flennendes Fleisch. Mde, aber seiner Sache ziemlich sicher stieg das Geyatter zum Wohnzimmer hinab. Amanda lag in voller Lnge eingeschlafen auf dem Sofa. Offensichtlich trumte sie von dem Truthahn. Sie rollte die Augen unter den hauchzarten Lidern, ihre Unterlippe zitterte. Gina sa neben dem Radio, das jetzt zum Schweigen gebracht war. Sie hatte ein aufgeschlagenes Buch auf dem Scho, aber sie las nicht. Der Gewrzgurken-Importeur war nicht im Zimmer. War das nicht sein Schritt auf der Treppe? Ja, er ging nach oben, seine brandyvolle Blase erleichtern. Ideales Timing. Das Geyatter durchquerte das Zimmer. Im Schlaf sah Amanda etwas Dunkles ber ihr Traumbild huschen, etwas Bsartiges, etwas, das bitter schmeckte in ihrem Mund. Gina sah von ihrem Buch auf. Die silbernen Kugeln am Baum schaukelten sanft. Nicht blo die Kugeln. Auch das Lametta und die Zweige. Genaugenom- men, der Baum, Der ganze Baum schaukelte, als htte ihn gerade jemand in die Hand genommen. Gina wurde es uerst mulmig bei dem Anblick. Sie stand auf. Das Buch glitt auf den Boden. Der Baum begann, sich zu drehen. Um Go..., sagte sie, um Gottes willen! Amanda schlief weiter. Der Baum verstrkte seine Schwungkraft. So ungerhrt und ruhig wie sie konnte, ging Gina zum Sofa und versuchte, ihre Schwester wachzurtteln. In ihren Tru- men gefangen, widersetzte sich Amanda einen Augenblick. Vater, sagte Gina. Ihre Stimme war krftig und reichte hinaus bis in die Halle; sie weckte auch Amanda. Von unten hrte Polo ein Gerusch wie von einem winselnden Hund. Nein, von zwei winselnden Hunden. Als er die Treppe runterrannte, wurde aus dem Duett ein Trio. Er strzte ins Wohnzimmer und war schon halbwegs darauf gefat, alle Heerscharen der Hlle hier anzutreffen, die hundskpfig auf seinen zwei Schnen tanzten. Aber nein. Der Christbaum war's, der winselte, winselte wie eine Hundemeute und dabei unaufhrlich im Kreis herumwir- belte. Die Kerzen waren schon lngst aus ihren Fassungen geflogen. Die Luft stank nach angeschmortem Kunststoff und Kiefern- harz. Der Baum wirbelte herum wie ein Kreisel und schleu- derte Schmuck und Geschenke mit der Freigebigkeit eines umnachteten Knigs von seinen geschundenen Zweigen. Jack ri sich vom Anblick des Baumspektakels los und fand Gina und Amanda auf allen vieren, tdlich verschreckt, hin- term Sofa. Raus hier, gellte er. Gerade, als er das rief/ richtete sich der Fernseher unverschmt auf einem Bein auf und begann, sich mit rasch zunehmender Schwungkraft wie der Baum zu drehen. Auch die Uhr auf dem Kaminsims machte mit beim Pirouet- tentanz. Ebenso die Schrhaken neben dem Kaminfeuer. Die Sitzkissen. Die Zier- und Kunstgegenstnde. Jedes Ding trug seinen ganz unverwechselbaren Ton zur Orchestrierung dei Gewinseis bei, das sich innerhalb von Sekunden zu einem ohrenbetubenden Geruschpegel hinaufschraubte. Der Ge- ruch brennenden Holzes durchdrang die Luft, als die Reibung die sausenden Kreisel bis zum Flammpunkt erhitzte. Rauch wirbelte durchs Zimmer. Gina erwischte Amanda am Arm und zog sie Richtung Tr. Sie deckte ihr Gesicht gegen den Hagel aus Kiefernnadeln ab, die der immer noch schneller werdende Baum von sich warf, Jetzt kreiselten auch die Beleuchtungskrper. Die Bcher waren von den Regalbrettern gesprungen und reihten sich in die Tarantella ein. Jack konnte den Feind vor seinem geistigen Auge sehen, wie er gleich einem Jongleur, der Teller auf Stockspitzen kreisen lt, zwischen den Gegenstnden hin und her raste und versuchte, sie alle zugleich in Bewegung zu halten. Mu uerst aufrei- bend sein, dachte er. Wahrscheinlich steht der Dmon kurz vor dem Zusammenbruch. Cool, konsequent ist er jedenfalls nicht. bermig erregt. Zu impulsiv. Verletzbar. Wenn's je einen gab - dies mute der richtige Zeitpunkt sein, den Kampf endlich aufzunehmen, dem Wesen gegenberzutreten, sich ihm zu widersetzen und es aufs Kreuz zu legen. Was das Geyatter anbelangte, so geno es seine Orgie der Zerstrung. Es schleuderte jeden mobilen Gegenstand ins Getmmel und versetzte alles in kreiselnde Bewegung. Voll Genugtuung sah es zu, wie die verstrte Tochter herum- zudrte und -trippelte; es schttelte sich vor Lachen beim Anblick des alten Mannes, der mit Stielaugen dies irrwitzige Ballett begaffte. Bestimmt war er bereits dem Wahnsinn nahe, oder? Die beiden Schnen hatten die Tr erreicht, Haut und Haar voller Nadeln. Polo sah sie nicht rausgehn. Er rannte durchs Zimmer, wich dabei notgedrungen einem Regen aus Zierge- genstnden aus und nahm eine Messingtoastgabel an sich, die der Feind bersehen hatte. Nippes fllten die Luft um seinen Kopf, tanzten mit belkeiterregender Geschwindigkeit herum. Sein Fleisch wurde gequetscht, gestoen und durchbohrt. Aber die Hochstimmung seines Kampfeintritts hatte alles andere verdrngt in ihm, und er machte sich daran, die Bcher und die Uhren und das Porzellan kurz und klein zu schlagen. Wie ein Mann in einem Heuschreckenschwarm rannte er im Zimmer herum und holte seine Lieblingsbcher in einem Wirrwarr durcheinanderflatternder Seiten herunter, zerschmetterte her- umwirbelndes Meiner Porzellan, zertrmmerte die Lampen. Ein Wust zerbrochener Besitztmer berschwemmte den Boden, manches drunter zuckte noch, als das Leben aus den berresten wich. Aber fr jeden zu Boden gestreckten Gegen- stand hielten sich immer noch ein Dutzend Kreisler und Wins- ler in der Luft. Er konnte Gina an der Tr hren, wie sie ihm zuschrie, rauszugehn, alles sein zu lassen. Aber es machte ihm Spa, direkter, unverblmter gegen den Feind zu spielen, als er sich's je zuvor erlaubt hatte. Er wollte nicht aufgeben. Er wollte, da sich der Dmon zeigte, seine Identitt preisgab, sich genau zu erkennen gab. Er wollte zum ersten und letzten Mal die Konfrontation mit dem Abgesandten des Alten. Ohne Vorwarnung gab der Baum den Gesetzen der Fliehkraft nach und explodierte. Der Lrm glich einem Geheul des Unter- gangs. Zweige, stchen, Nadeln, Kugeln, Kerzen, Draht und Bnder flogen durchs Zimmer. Jack, mit dem Rcken zur Explosion, sprte, wie ihm der Energieschwall einen schweren Schlag versetzte, und wurde zu Boden geschleudert. Sein Nacken und seine Kopfhaut wurden ber und ber mit Kie- fernnadeln gespickt. Ein Zweig, des Grns entkleidet, scho an seinem Kopf vorbei und durchbohrte das Sofa. Baumbruch- stcke prasselten um ihn herum auf den Teppich. Jetzt berschritt die Zentrifugalkraft die Belastbarkeit der anderen Gegenstnde im Raum, und sie zerplatzten wie der Baum. Der Fernseher explodierte und sandte eine todbrin- gende Welle Glas durchs Zimmer, von der sich ein Groteil in die gegenberliegende Wand grub. Bruchstcke aus dem Innern des Fernsehers, die so hei waren, da sie die Haut versengten, fielen auf Jack, als er wie ein Soldat beim Bomben- einsatz zur Tr robbte. So dicht war der Scherbenhagel im Zimmer, da er wie ein Nebel wirkte. Die Sitzkissen steuerten ihre Daunen zu der Szene bei; sie schneiten auf den Teppich. Porzellantrmmer - ein schnglasierter Arm, der Kopf einer Kurtisane - prallten vor seiner Nase auf den Boden. Gina kauerte bei der Tr, die Augen wegen des Geprassels zu Schlitzen verengt, und drngte ihn flehentlich, sich zu beeilen. Als Jack die Tr erreichte und ihre Arme um sich sprte, htte er schwren knnen, im Wohnzimmer jemand lachen gehrt zu haben. Ein schallendes, deutlich vernehmbares Gelchter, satt und zufrieden. Amanda stand in der Halle, das Haar voll Kiefernnadeln, und starrte ihn an, whrend er die Beine ber die Trschwelle zog, und Gina warf die Tr gegen das Zerstrungswerk ins Schlo. Was ist es, sag! wollte sie wissen. Ein Poltergeist? Ein Gespenst? Mutters Gespenst? Die Vorstellung, seine tote Frau solle fr eine derartige Mas- senvernichtung verantwortlich sein, kam Jack reichlich komisch vor. Amanda lchelte andeutungsweise. Gut, dachte er, sie rappelt sich schon wieder hoch. Dann begegnete er dem abwesenden Blick in ihren Augen und war eines anderen belehrt. Sie war innerlich gebrochen, ihr gesunder Verstand hatte dort Zuflucht gefunden, wo ihm diese Phantasmagorie nichts anhaben konnte. Was ist da drinnen? fragte Gina und drckte seinen Arm so fest, da es ihm das Blut abschnrte. Ich wei es nicht, log er. Du, Amanda? Amandas Lcheln war wie gefroren. Sie starrte ihn nur weiter an, durch ihn hindurch. Freilich weit du's. Nein. Das ist gelogen. Ich glaub7... Er raffte sich vom Boden auf und wischte sich die Porzel- lanscherben, die Federn und das Glas von Hemd und Hose. Ichglaub'... ich geh' jetzt erst mal spazieren. Hinter ihm, im Wohnzimmer, war das letzte Gewinsel ver- stummt. Die Luft in der Eingangshalle vibrierte von unsichtba- ren Prsenzen. Es war ganz dicht bei ihm, unsichtbar wie immer, aber ganz, ganz nah. Dies war der gefhrlichste Zeit- punkt. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Er mute standhalten, als ob nichts geschehen wre; er mute Amanda in Ruhe lassen, Erklrungen und Vorwrfe unterdrcken, bis alles ganz vorbei und aus der Welt war. Spazieren? sagte Gina und wollte es nicht glauben. Ja... spazieren... Ich brauch' etwas frische Luft. Du kannst uns unmglich hier allein lassen! Ich hol' jemand, der uns beim Aufrumen hilft. Und was ist mit Mandy? Die fngt sich schon wieder. La sie nur gehen. Das war hart. Das war fast unverzeihlich. War aber jetzt nicht mehr rckgngig zu machen. Schwankend schritt er auf die Haustr zu, ihm war ganz bel nach so viel Herumgekreisel. Gina hinter ihm geriet in Rage. Du kannst doch nicht einfach weggehen! Du bist wohl verrckt geworden? Ich brauche frische Luft, sagte er so beilufig, wie sein hmmerndes Herz und sein ausgedrrter Hals es zulieen. Ich geh' blo auf 'nen Sprung nach drauen. Nein, sagte das Geyatter. Nein, nein, nein. Es war ihm auf den Fersen, Polo konnte es spren. So wtend jetzt, so drauf und dran, ihm den Kopf auszureien. Nur da es ihm nicht erlaubt war, ihn jemals zu berhren. Aber er konnte den Groll des Dmons wie etwas krperlich Anwesendes spren. Er machte einen weiteren Schritt auf die Haustr zu. Es war immer noch bei ihm, klebte an jedem seiner Schritte - sein Schatten, sein Geisterbild; unerschtterlich. Gina kreischte ihn an: Du Scheikerl, schau dir Mandy an! Sie hat den Verstand verloren! Nein, er durfte Mandy nicht anschauen. Wenn er Mandy anshe, wrde er womglich zu weinen anfangen, wrde er womglich zusammenklappen, wie es dieses Wesen von ihm haben wollte, und dann wre alles verloren. Sie kommt wieder in Ordnung, sagte er, beinah schon flsternd. Er griff nach der Haustrklinke. Das Dmonenwesen verrie- gelte die Tr, rasch und laut. Jetzt war's aus mit jeder List und Verstellung. Jack, der seine Bewegungen so ruhig und gelassen wie mglich durchfhrte, riegelte die Tr auf, oben und unten. Es riegelte wieder zu. Erregend war dieses Spiel, aber auch tief bengstigend. Wenn er's noch weiter trieb, wrde sicher die Frustration des Dmons zunichte machen, was man ihm eingebleut hatte. Ruhig, gewandt riegelte er die Tr wieder auf. Genauso ruhig, genauso gewandt verriegelte das Geyatter sie wieder. Jack fragte sich, wie lange er wohl damit weitermachen konnte. Irgendwie mute er nach drauen gelangen: Er mute es ber die Schwelle locken. Nur einen Schritt verlangte, seinen Nach- forschungen zufolge, das Gesetz: einen einzigen, einfachen Schritt. Riegel auf. Riegel zu. Riegel auf. Riegel zu. Gina stand zwei, drei Meter hinter ihrem Vater. Sie verstand nicht, was sie da sah, aber ganz offenkundig kmpfte ihr Vater mit jemand oder mit etwas. Daddy... fing sie an. Sei ruhig, sagte er milde und lchelte, als er die Tr zum siebten Mal entriegelte. Ein Schu Irrsinn lag in dem Lcheln, es war zu breit und zu ungezwungen. Unerklrlicherweise erwiderte sie das Lcheln. Es war grim- mig, aber ohne Falsch. Ganz gleich, worum es hier ging, sie liebte ihn. Polo wollte einen Ausbruchsversuch durch die Hintertr machen. Der Dmon war ihm drei Schritte voraus, flitzte durch das Haus wie ein Sprinter und verriegelte auch die, bevor Jack noch die Klinke erreichen konnte. Der Schlssel wurde im Schlo von unsichtbaren Hnden umgedreht und dann in der Luft zu Staub zerrieben. Jack tuschte eine Bewegung zum Fenster neben der Hintertr vor, und schon wurden die Jalousien heruntergelassen und die Lden zugeworfen. Dem Geyatter, das so mit dem Fenster beschftigt war, da es Jack nicht mehr genau im Auge behal- ten konnte, entging, wie dieser durchs Haus zur Vorderseite zurcksauste. Als es den Trick durchschaute, stie es einen schrillen Kiekser aus, nahm die Verfolgung auf und schlitterte auf dem glattge- bohnerten Boden fast in Jack hinein. Es umging den Zusam- mensto nur durch ein bravourses Ballettmanver. Das wre nun wirklich fatal gewesen: den Mann in der Hitze des Gefechts zu berhren. Polo war wieder bei der Haustr; und Gina, als wre sie ber die Strategie ihres Vaters im Bilde, hatte diese, whrend das Geyatter und Jack an der Hintertr kmpften, aufgeriegelt. Jack hatte instndig gehofft, da sie die Gelegenheit nutzen wrde, und richtig: Die Tr stand einen Spaltbreit offen. Die eiskalte Luft des frostigen Nachmittags kroch kruselnd in die Eingangshalle. Jack legte die letzten Meter zur Tr in Windeseile zurck und sprte, ohne es zu hren, das Klagegeheul, das das Geyatter ausstie, als es mit ansehen mute, wie sein Opfer nach drauen entkam. Es war ja kein anspruchsvolles Geschpf. Im Augenblick hatte es, ber jeden sonstigen Traum hinaus, nur einen Wunsch: den Schdel dieses Menschenkerls zwischen die Handflchen zu nehmen und in einen Haufen Unrat zu verwandeln; ihn zu Pampe zu zerquetschen und den noch heien Grips in den Schnee rinnen zu lassen; auf immer und ewig mit Jack J. Polo fertig zu sein. War das denn zuviel verlangt? Polo war in den quietschend-frischen Schnee getreten; Haus- schuhe und Hosenenden steckten begraben in der Klte. Bis die Furie die Trstufe erreichte, war Jack schon drei, vier Meter entfernt und marschierte den Weg zum Gartentor entlang. Er entwischte. Er entkam. Das Geyatter heulte erneut auf und verga seine jahrelange Ausbildung. Jede Lektion, die es gelernt hatte, jede seinem Schdel eingeprgte Kampfregel war angesichts der nackten Giernach Polos Leben vergessen. Es schritt ber die Schwelle und nahm die Verfolgung auf. Das war eine unverzeihliche bertretung. Irgendwo in der Hlle fhlten die Mchte (lang mgen sie hofhalten; lang mgen sie Licht scheien auf die Scheitel der Verdammten) den Fehltritt und wuten, da die Schlacht um Polos Seele verloren war. Jack fhlte es auch. Er hrte das Gerusch von kochendem Wisser, als die Tritte des Dmons den Schnee auf dem Weg zu Dampf schmolzen. Es folgte ihm tatschlich! Das Wesen hatte das oberste Gebot seines Daseins gebrochen. Und dies ver- wirkt. Das Siegesgefhl durchrieselte Jacks Rckgrat und Magen. Der Dmon holte ihn am Gartentor ein. Man konnte deutlich seinen Atem in der Luft sehen, obwohl der Krper, aus dem er quoll, noch nicht sichtbar geworden war. Jack versuchte, das Tor zu ffnen, aber das Geyatter warf es ins Schlo. Che sera, sera, sagte Jack. Das Geyatter konnte es nicht lnger ertragen. Es nahm Jacks Kopf in seine Hnde, um die fragile Knochenkapsel zu Staub zu zermalmen. Die Berhrung war sein Fehltritt Nummer zwei; und ein Schmerzschock peinigte das Geyatter bis zur Unertrglichkeit. Es heulte auf wie ein Wrgeengel und taumelte weg aus dem Feindkontakt, ruschte dabei im Schnee aus und fiel auf den Rcken. Es kannte seinen Fehler. Die Lehren, die man ihm eingebleut hatte, kamen ihm blitzschnell zur Besinnung. Es kannte auch die Strafe frs Hausverlassen und frs Mannanfassen. Es war an einen neuen Herrn gefesselt, Sklave dieses Idiotenwesens da, das ber ihm stand. Polo hatte gewonnen. Lachend sah er zu, wie die Umrisse des Dmons im Schnee auf dem Gartenpfad Gestalt annahmen. hnlich, wie sich ein Fotoabzug auf einem Blatt Papier entwickelt, kam das Bild der Furie klar und deutlich zum Vorschein. Das Gesetz forderte seinen Tribut. Nie mehr wieder konnte sich das Geyatter vor seinem Meister verbergen. Und da lag es kra und ungeschnt vor Polos Augen in seiner ganzen reizlosen Herrlichkeit: kastanienbraunes Fleisch und glnzendes, lidloses Auge, her- umschlegelnde Arme, dazu ein Schwanz, der den Schnee zu Matsch zerdrosch. Du Sauhund, sagte es. Sein Akzent hatte australischen Einschlag. Du sprichst nur, wenn man dich dazu auffordert, sagte Polo mit ruhiger, aber uneingeschrnkter Herrscherwrde. Ver- standen? Das lidlose Auge trbte sich in Demut. Ja, sagte das Geyatter. Ja, Mister Polo. Ja, Mister Polo. Sein Schwanz glitt ihm zwischen die Beine wie der eines geprgelten Hundes. Du kannst aufstehen. Danke, Mister Polo. Aufrecht stand es da. Kein angenehmer Anblick, aber trotzdem war Jack hocherfreut darber. Die kriegen Sie doch noch, sagte das Geyatter. Wer? Sie wissen schon, sagte es zgerlich. Nenn sie mir! Beelzebub, antwortete es voll Stolz, seinen alten Meister beim Namen zu nennen. Die Mchte. Mit einem Wort: die Hlle selbst. Das glaub' ich nicht, sagte Polo nachdenklich. Nicht, wo du jetzt an mich gefesselt bist - das ist doch der schlagendste Beweis fr meine Fhigkeiten. Sind Wir ihnen nicht ber- legen? Der Blick des Auges verdsterte sich. Na, sind Wir's nicht? Doch, rumte es verbittert ein. Doch. Ihr seid ihnen ber- legen. Es hatte zu zittern angefangen. Ist dir kalt? fragte Polo. Es nickte, nahm den Ausdruck eines verinten Kindes an. Dann brauchst du etwas Bewegung, sagte er. Am besten, du gehst ins Haus und fngst an aufzurumen. Augenscheinlich bestrzte, ja enttuschte diese Anweisung das Furienwesen. Sonst nichts? fragte er unglubig. Keine Wunder? Keine schne Helena? Auch nicht fliegen? Die Vorstellung, an einem schneedurchschauerten Nachmittag wie diesem in der Gegend rumzufliegen, lie Polo kalt. Er war von Natur aus alles andere als anspruchsvoll in seinen Neigun- gen : Wunschlos glcklich machten ihn die Liebe seiner Kinder, ein angenehmes Zuhause und ein profitabler Handelspreis fr Gewrzgurken. Fliegen? Nein, sagte er. Whrend das Geyatter den Gartenpfad Richtung Haustr ent- langlatschte, schien ihm unvermutet ein neues Unheil einzu- fallen. Es machte kehrt und wandte sich kriecherisch, aber unverkenn- bar blasiert an Polo. Wenn ich vielleicht was sagen drfte? fragte es. Rede! Es ist nur fair, da ich Euch davon in Kenntnis setze, da man es fr sndhaft hlt, irgendeine Verbindung mit meinesglei- chen einzugehen, ja sogar fr ketzerisch. Wirklich wahr? O ja, sagte das Geyatter und erwrmte sich fr seine Prophe- zeiung. Es sind schon Menschen aus geringerem Anla ver- brannt worden. Heutzutage nicht mehr, entgegnete Polo. Aber die Seraphim sehen es sicher, sagte es. Und deshalb kommt Ihr dann nie an den Ort. An welchen Ort? Das Geyatter kramte in seinem Hirn nach dem Fachausdruck, den es Beelzebub hatte verwenden hren. Den Himmel, sagte es triumphierend. Ein widerliches Grin- sen hatte sich auf seinem Gesicht breitgemacht; dies war das raffinierteste Manver, an das es sich je gewagt hatte: Es mauschelte hier sage und schreibe mit der Theologie, Jack nickte nachdenklich und nagte an seiner Unterlippe. Vermutlich sagte das Geschpf die Wahrheit: Der Umgang mit ihm oder seinesgleichen fnde vor den Augen des Hausherrn aller Heiligen und Engel keine Milde. Wahrscheinlich war ihm tatschlich der Zugang zu den Gefilden des Paradieses unter- sagt. Na schn, sagte er. Du weit, was ich dazu zu sagen habe, ja? Das Geyatter glotzte ihn stirnrunzelnd an. Nein, nichts wute es. Dann, als ihm mit einem Mal dmmerte, worauf Polo hinauswollte, erstarb sein ostentatives sffisantes Grinsen. Na, was sag' ich? fragte Polo. Zerschmettert murmelte das Geyatter die Floskel: Che sera, sera, Polo lchelte. Du hast noch eine Chance, sagte er, ging ber die Schwelle voran und schlo die Tr mit so etwas wie heiterer Gemtsruhe im Gesicht. Man konnte die Kids riechen, noch ehe sie zu sehen waren; ihr jugendlicher Schwei wurde schal in den Gitterfenster- Gngen, ihr abgeblockter Atem sauer, ihre Kpfe muffig. Dann ihre Stimmen, von den Gewahrsamsregeln klein ge- halten. Laufen verboten. Schreien verboten. Pfeifen verboten. Rau- fen verboten. Sie nannten es Verwahrungszentrum fr jugendliche Gewalt- tter, aber es kam verdammt auf Gefngnis raus: letztlich hinter Schlo und Riegel, Wachpersonal inklusive. Liberale Gesten leistete man sich nur sporadisch, wie man berhaupt im Kaschieren der Wahrheit nicht sonderlich erfolgreich war; Tetherdowne war nur dem schnen Namen nach kein Gefng- nis, und die Insassen wuten das. Nicht, da sich Redman irgendwelche Illusionen ber seine angehenden Schler gemacht htte. Es waren harte Burschen, und man hatte sie nicht grundlos eingesperrt. Die meisten von ihnen htten einen mir nichts dir nichts ausgeraubt, wenn man ihnen nur untergekommen wre, oder einen zum Krp- pel geschlagen, wenn's ihnen in den Kram gepat htte, ganz locker. Er hatte zu viele Jahre im Polizeidienst hinter sich, um noch an die soziologische Lge zu glauben. Er kannte die Opfer, und er kannte die Kids. Sie waren keine unverstande- nen Schwachkpfe, sie waren fix und scharf und ohne Moral wie die Rasierklingen, die sie unter der Zunge versteckten. Fr Gefhlsduselei hatten sie nichts brig, sie wollten einfach raus. Willkommen in Tetherdowne. Hie die Frau jetzt Leverton oder Leverfall oder... Ich bin Doktor Leverthal. Leverthai. Richtig. Ausgekochtes Luder, habe sie kennenge- lernt bei... Wir haben uns beim Vorstellungsgesprch kennengelernt Richtig. Schn, Sie bei uns zu sehen, Mr. Redman. Neu; nennen Sie mich doch Neu. Die Anrede mit Vornamen versuchen wir vor den Jungen tunlichst zu vermeiden; wir finden, sie glauben sonst, einen Zipfel von unserem Privatleben zu fassen gekriegt zu haben. Es wre mir deshalb lieber, wenn Sie die Taufnamen nur nach Dienst verwenden wrden. Ihren hatte sie nicht mal genannt. Wahrscheinlich irgendwas Beinhartes: Yvonne. Lydia. Er wrde sich einen passenden ausdenken. Sie sah aus wie fnfzig und war wahrscheinlich zehn Jahre jnger. Kein Make-up, das Haar so straff zurckge- bunden, da er sich wunderte, wieso es ihr die Augen nicht raustrieb. Sie beginnen bermorgen mit dem Unterricht. Der Direktor hat mich gebeten, Sie in seinem Namen am Zentrum willkom- men zu heien und Sie um Verstndnis zu bitten, da er nicht persnlich hier sein kann. Wir haben Finanzierungspro- bleme. Hat man die nicht immer? Bedauerlicherweise, ja. Ich frchte, wir schwimmen hier gegen den Strom; der landesweite Trend ist weitestgehend auf Law and Order ausgerichtet. Was wollte sie ihm da durch die Blume hinreiben? Da die Scheie aus einem Kid rauszuprgeln soviel einbrachte wie'n harmloses Verkehrsdelikt? Richtig, er selbst hatte es in seiner Dienstzeit so gehalten und sich schn schlimm da drin ver- rannt; war in jeder Hinsicht genauso falsch, wie sich Gefhle zu leisten. Tatsache ist, da wir Tetherdowne mglicherweise ganz ver- lieren, sagte sie, und das wre ein Skandal. Sicher, es sieht nicht gerade danach aus... .. .aber 'n Zuchthause ist es doch. Er lachte. Der Witz war fr die Katz. Sie schien ihn nicht mal gehrt zu haben. Sie, ihr Tonfall wurde schrfer, Sie bringen einen soliden (sagte sie: so rden?) Background aus dem Polizeidienst mit. Unsere Hoffnung geht dahin, da Ihre Anstellung von den Finanzierungsbehrden sehr begrt werden wird. Also das war's: Expolizist, pro f orma zur Beschwichtigung der mageblichen Regierungsstellen ins Spiel gebracht und um Bereitwilligkeit gegenber der Strafvollzugsbehrde zu bekun- den. In Wirklichkeit wollten sie ihn hier gar nicht. Sie wollten irgendeinen Soziologen, der umfassende Berichte ber den Einflu der Klassengesellschaft auf Gewalttaten Jugendlicher verfate. Zwischen den Zeilen gab sie ihm zu verstehen, da er unerwnscht war, das fnfte Rad am Wagen. Ich hab' Ihnen bereits gesagt, weshalb ich von der Polizei weg bin. Sie erwhnten so was. Als Invalide entlassen. Ich hab' keinen Brojob annehmen wollen, so einfach war das; und sie wollten mich nicht tun lassen, was ich am besten konnte. Selbstgefhrdung nannten's einige von ihnen. Seine Erklrung machte sie anscheinend etwas verlegen. War doch eine Psychologin; das Zeugs htte eigentlich ein Fressen fiir sie sein mssen, es war seine persnliche Krnkung, die er hier publik machte. Er war gestndig, wei Gott. So sa ich auf dem Hintern, nach vierundzwanzig Jahren. Er zgerte, dann sagte er, worauf es ihm ankam: Ich bin kein Pro-forma-Polizist; ich bin berhaupt kein Polizist. Der Dienst und ich sind geschiedene Leute. Sie verstehen, was idi meine? Ja, sehr gut. Sie verstand nicht die Bohne. Er probierte einen anderen Einstieg. Mcht' gern wissen, was man den Jungs erzhlt hat. Erzhlt hat? ber mich. Also... einiges ber Ihren Background. Aha. Man hat sie gewarnt. Bullenschweine im Anmarsch. Es schien mir wichtig. Er brummte. Sehen Sie, viele dieser Jungen haben echte Aggressionspro- bleme. Daraus erwachsen so vielen Schwierigkeiten, Sie haben sich selbst nicht unter Kontrolle, und infolgedessen leiden sie. Er machte keinen Einwand, aber sie sah ihn streng an, als htte er einen gemacht. O ja, sie leiden. Deswegen geben wir uns solche Mhe, wenigstens etwas Aufgeschlossenheit fr ihre Situation zu zeigen, ihnen beizubringen, da es Alternativen gibt. Sie ging zum Fenster hinber. Vom zweiten Stock aus hatte man einen ziemlich genauen berblick ber die Anlagen. Tetherdowne war eine Art Landsitz gewesen, und zum Hauptgebude gehrte eine betrchtliche Menge Grund. Da war ein Sportplatz, dessen Gras in der hochsommerlichen Hitze verdorrte. Dahinter eine Gruppe Nebengebude, einige ausgemergelte Bume, Buschwerk und dann rohes dland bis hin zur Mauer. Er hatte die Mauer schon von auen gesehen. Alcatraz wre stolz auf sie gewesen. Wir versuchen, ihnen ein bichen Freiheit zu geben, ein bichen Erziehung, ein bichen Mitgefhl. Sie kennen wahr- scheinlich die landlufige Vorstellung, da Strafflligen ihr kriminelles Verhalten Spa macht? Ich selber hab' das in keiner Weise besttigt gefunden. Zu mir kommen sie schuldbewut, innerlich gebrochen... Ein innerlich gebrochenes Opfer zckte hinter dem Rcken der Leverthal die Finger zum V, als er den Gang runter schlen- derte. Seine angeklatschten Haare waren dreifach gescheitelt, die Eigenbauttowierungen auf seinem Unterarm unvoll- stndig. Immerhin - sie haben Straftaten begangen, beharrte Redman. Ja, aber... Und diese Tatsache mu man ihnen doch wohl vor Augen halten. Ich glaube nicht, da man ihnen irgendwas vor Augen halten mu, Mr. Redman. Ich glaube, sie fhlen brennende Schuld. Auf Schuld war sie versessen; das berraschte ihn nicht. Hatten sich die Kirchenkanzel unter den Nagel gerissen, diese Analytiker. Hatten da drohen die Stelle der Bibelfritzen einge- nommen, mit dem fadenscheinigen Gepredige bers Hllen- feuer, blo mit etwas weniger farbenprchtigem Vokabular. War aber im Grund genommen genau dieselbe Geschichte mitsamt den Verheiungen der Genesung, wenn man sich nur brav an die Rituale hielt. Und siehe, der Gerechte soll eingehen ins Himmelreich. Er bemerkte, da auf dem Sportplatz eine Verfolgungsjagd stattfand. Eine Verfolgung, und jetzt eine berwltigung. Ein Opfer traktierte ein anderes, kleineres uerst heftig mit den Stiefeln; ein ziemlich erbarmungsloses Schauspiel. Die Leverthal erfate die Situation zur gleichen Zeit wie Redman. Sie entschuldigen. Ich mu... Schon war sie auf dem Weg die Treppe runter. Zu Ihrer Werkstatt geht's die dritte Tr links, wenn Sie schon mal reinschauen mchten, rief sie ber die Schulter. Ich bin gleich wieder da. Einen Dreck war' sie das. Nach dem zu urteilen, wie sich die Szene auf dem Platz entwickelte, wrde man drei Stemmeisen brauchen, um die beiden auseinanderzubringen. Redman schlenderte zu seiner Werkstatt. Die Tr war abge- sperrt, aber durch das Drahtglas konnte er die Hobelbnke, die Schraubstcke und das Werkzeug sehen. Gar nicht so bel. Er knnte ihnen sogar einigermaen das Schreinern beibringen, wenn man ihm nur lang genug freie Hand lie. Er war ein bichen enttuscht, da er nicht rein konnte. Er machte kehrt, ging den Flur zurck und folgte der Leverthal nach drunten. Schnell gelangte er hinaus auf den sonnenbe- schienenen Sportplatz. Eine kleine Zuschauertraube hatte sich um das Kampf geschehen oder das Gemetzel gebildet. Jetzt war es ruhig. Die Leverthal stand da und blickte zu dem Jungen am Boden runter. Einer vom Wachpersonal kniete neben dem Kopf des Jungen; die Verletzungen sahen bse aus. Etliche der Zuschauer schauten auf, als Redman nherkam, und begafften das neue Gesicht. Geflster machte die Runde, hie und da ein Lcheln. Redman sah den Jungen an. Sechzehn vielleicht, er lag mit der Wange gegen den Boden, als ob er auf Irgendwas in der Erde horchte. Lacey. Die Leverthal nannte den Namen des Jungen fr Redman. Hat's ihn schlimm erwischt? Der Mann, der neben Lacey kniete, schttelte den Kopf. Nicht besonders schlimm. Bichen gestrzt. Nichts gebrochen. Blut war im Gesicht des Jungen, von seiner gequetschten Nase. Seine Augen waren geschlossen. Friedlich. Er htte tot sein knnen. Wo ist die verdammte Bahre? fragte der Wachmann. Es war ihm offenkundig unbehaglich auf dem hitzegehrteten Boden. Kommt schon, Sir, sagte jemand. Redman hielt ihn fr den Schlger. Ein dnner Bursche um die neunzehn. Die Art Blick, die Milch auf zwanzig Schritt Entfernung sauer werden lt. Tatschlich tauchte jetzt eine kleine Schar Jungen aus dem Hauptgebude auf, sie trugen eine Bahre und eine rote Decke. Jeder grinste bers ganze Gesicht. Die Zuschauergruppe begann sich zu verlaufen, jetzt, wo das Beste vorbei war. Es macht nicht viel Spa, die Scherben aufzulesen. Moment, Moment, sagte Redman. Braucht's denn hier keine Zeugen? Wer war es denn? Ein paar zuckten mit den Achseln, aber die meisten stellten sich taub. Sie schlenderten davon, als htte niemand etwas gesagt. Redman fuhr fort: Wir haben's gesehen. Vom Fenster aus. Die Leverthal kam ihm nicht zu Hilfe. Es war doch so, oder? fragte er sie herausfordernd. Es war zu weit weg, um irgend jemand eine Schuld geben zu knnen, glaub' ich. Aber da mir nie mehr eine solche schika- nse Schinderei vor Augen kommt, verstanden? Sie hatte Lacey gesehen und mute ihn aus jener Entfernung unschwer erkannt haben. Warum nicht auch den Schlger? Redman htte sich ohrfeigen knnen, weil er sich nicht besser konzentriert hatte. Ohne die dazugehrigen Namen und Per- sonalien war es schwierig, die Gesichter auseinanderzuhalten. Ehe Wahrscheinlichkeit, den Falschen zu beschuldigen, war hoch, wenngleich er fast sicher war, da nur der Junge mit dem Gerinnungsblick in Betracht kam. Zum Fehlermachen war jedoch jetzt ganz entschieden nicht der rechte Zeitpunkt; diesmal mute er die strittige Frage auf sich beruhen lassen. Die Leverthal blieb anscheinend von der ganzen Sache unge- rhrt. Lacey, sagte sie ruhig. Immer ist es Lacey. Er will's nicht anders, sagte einer der Jungen, die die Bahre gebracht hatten, und strich sich eine Garbe weiblonden Haa- res aus den Augen. Er kapiert es nicht. Die Leverthal nahm die Aussage nicht zur Kenntnis, beaufsich- tigte, wie Lacey auf die Bahre gelegt wurde, und schon war sie wieder auf dem Rckweg zum Hauptgebude, Redman im Schlepptau. All das geschah so beilufig, beinahe wie Routine. Nicht gerade gut, Lacey, sagte sie dunkel, als wolle sie etwas erklren; und damit hatte es sich. Darin erschpfte sich ihr Mitgefhl. Redman schaute sich flchtig um, als sie den regungslosen Lacey in die rote Decke wickelten. Da geschah zweierlei fast gleichzeitig. Erstens: Einer sagte: Das ist das Schwein.t Zweitens: Lacey ffnete die Augen und richtete den Blick geradewegs auf Redman, weit, klar und ohne Falsch. Redman verbrachte einen guten Teil des nchsten Tages damit, seine Werkstatt in Ordnung zu bringen. Viele der Werkzeuge waren zerstrt oder durch unsachgeme Verwendung un- brauchbar geworden: Sgen ohne Zhne, Meiel, die ange- schlagen und ohne Schneide waren, zerbrochene Schraub- stcke. Er wrde Geld bentigen, um die Werkstatt wieder mit dem grundlegenden Inventar auszustatten, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, ein Gesuch einzureichen. Gescheiter, man wartete ab und bewies zunchst, da man anstndige Arbeit verrichtete. Solche Verhaltensregeln in Institutionen war er durchaus gewohnt; nicht umsonst kam er vom Polizei- dienst. Gegen halb fnf fing ziemlich weit von der Werkstatt entfernt eine Klingel an zu luten. Er nahm sie nicht zur Kenntnis, aber nach einer Weile gewannen seine Instinkte doch die Oberhand. Kungeln waren Alarmvorrichtungen, und Alarmvorrichtun- gen wurden bettigt, um Menschen vor irgendeiner Gefahr zu warnen. Er lie seine Aufrumarbeit liegen, schlo die Werk- statt hinter sich ab und lie sich von seinem Gehr leiten. Die Klingel lutete in den Rumen, die man lcherlicherweise den Krankenhaustrakt nannte. Das waren zwei oder drei Zim- mer, die vom Haupttrakt abgetrennt und mit ein paar Bildern sowie Vorhngen an den Fenstern aufgemotzt worden waren. Da keine Rauchspuren in der Luft waren, handelte es sich offensichtlich nicht um einen Feueralarm. Aber er hrte ein Geschrei. Mehr als ein Geschrei: ein Geheul. Er beschleunigte seine Schritte durch die endlosen Gnge, und als er vor der Abteilung um die Ecke bog, rannte eine kleine Gestalt direkt in ihn hinein. Der Zusammenprall nahm ihnen beiden den Atem, aber Redman kriegte den Burschen am Arm zu fassen, noch ehe dieser sich wieder davonmachen konnte. Der Gefangene reagierte blitzschnell und schlug mit den blo- en Fen gegen Redmans Schienbein aus. Aber der hatte ihn fest im Griff. Loslassen, du Schei... Nur ruhig! Schn ruhig! Seine Verfolger waren in unmittelbarer Nhe. Festhalten! Du Wichser! Du Wichser? Du Wichser! Du Wichser! Festhalten! Es war wie der Ringkampf mit einem Krokodil: Der Junge hatte die volle Strke, die einem nur die Angst verleihen kann. Aber der Groteil seiner Raserei war schon verbraucht. Trnen schssen ihm in die von Blutergssen umrandeten Augen, als er Redman ins Gesicht spuckte. Lacey war es, in seinen Armen, der ungute Lacey. Okay. Wir haben ihn. Redman trat zurck, als der Wachmann seine Stelle einnahm und Lacey in einen Kontrollgriff zwang, der geeignet schien, dem Kind den Arm zu brechen. Zwei, drei andere Personen kamen um die Ecke. Zwei Jungen und eine Krankenschwester, ein reiz- und liebloses Neutrum. Loslassen... Loslassen... gellte Lacey, aber aller Kampf- geist hatte ihn verlassen. Sein Gesicht verzog sich zu einer Schnute, als er sich geschlagen gab, und noch immer blickten die kuhsanften Augen verdreht und vorwurfsvoll zu Redman hinauf, gro und braun. Lacey sah jnger aus, als seine sechzehn Jahre htten vermuten lassen, fast vorpubertr. Auf seiner Wange zeigten sich erste Andeutungen eines Bart- flaums, ein paar Hautunreinheiten sprenkelten die blauen Flecken, und ein ungeschickt angebrachtes Pflaster klebte quer ber der Nase. Trotzdem: ein ganz mdchenhaftes Gesicht, das Gesicht einer Jungfrau, einer Zeit zugehrig, in der es noch Jungfrauen gab. Und diesen Blick. Die Leverthal tauchte auf, zu spt, um noch irgendwas auszu- richten. Was geht hier vor? Der Wachmann keifte los. Die Hetzjagd harte ihm den Atem geraubt und die gute Laune. Hat sich im Toilettenraum eingesperrt. Wollte durchs Fenster raus. Weshalb? Die Frage war an den Wachmann gerichtet, nicht an das Kind. Eine vielsagende Verwechslung. Betreten zuckte der Wach- mann mit den Achseln. Weshalb? Redman wiederholte die Frage, diesmal an Lacey gewandt. Der Junge glotzte ihn nur an, als htte man ihm nie zuvor eine Frage gestellt. Sind Sie das Schwein? sagte er dann unver- mittelt, und aus seiner Nase lief Rotz. Schwein? Er meint Bullenschwein - Po-li-zist, sagte der eine Junge. Das Wort wurde mit spttisch-giftiger berdeutlichkeit ausge- sprochen, als wrde es einem Schwachsinnigen vorbuchsta- biert. Ich wei, was er meint, Junge, sagte Redman, noch immer entschlossen, Lacey mit seinem Blick aus der Fassung zu bringen. Ich wei recht gut, was er meint. Wirklich? Sei still, Lacey, sagte die Leverthal, steckst schon tief genug in der Patsche. Ja, mein Sohn. Ich bin das Schwein. Das Duell der Blicke ging weiter, ein intimer Privatkrieg zwischen dem Jungen und dem Mann. Gar nichts wissen Sie, sagte Lacey. Es war keine abfllige Bemerkung, der Junge drckte einfach seine Sicht der Wahr- heit aus. Sein Blick blieb klar und fest. Is' gut, Lacey, das reicht. Der Wachmann versuchte, ihn wegzuzerren; zwischen Pyjamaoberte und Hose kam sein Bauch zum Vorschein, eine glatte Wlbung milchiger Haut. Lassen Sie ihn reden! sagte Redman. Was wei ich nicht? Er kann seine Version dieser Geschichte dem Direktor vortra- gen, sagte die Leverthal, bevor Lacey antworten konnte. Das ist nicht Ihre Angelegenheit. Aber es war sehr wohl seine Angelegenheit. Der starre Blick machte dies zu seiner Angelegenheit: so bohrend, so heillos. Der starre Blick verlangte, da dies seine Angelegenheit wurde. Lassen Sie ihn reden! sagte Redman und setzte sich mit unbeirrbarem Nachdruck in der Stimme ber die Leverthal hinweg. Der Wachmann lockerte seinen Griff ein wenig. Warum hast du's drauf angelegt und wolltest entwischen, Lacey? Weil er zurckgekommen ist. Wer ist zurckgekommen? Einen Namen, Lacey! Von wem sprichst du? Mehrere Sekunden lang sprte Redman, wie der Junge gegen einen Pakt mit dem Schweigen ankmpfte; dann schttelte Lacey den Kopf und unterbrach den elektrisierenden Aus- tausch zwischen ihnen. Er schien irgendwo abzudriften; eine Art Rtselschock machte ihn mundtot. Dir passiert nicht das Geringste. Lacey starrte auf seine Fe und runzelte die Stirn. Ich will jetzt wieder ins Bett, sagte er. Die Bitte einer Jungfrau. Nicht das Geringste, Lacey. Ich versprech's dir. Das Versprechen bewirkte anscheinend herzlich wenig; Lacey war sprachlos. Aber es war trotzdem ein Versprechen, und er hoffte, da Lacey sich das klarmachte. Augenscheinlich warder Junge erschpft von der Anstrengung seiner miglckten Flucht, der Verfolgung, dem starren Blick. Sein Gesicht war aschfahl. Er lie sich vom Wachmann wegziehen und zurck- bringen. Bevor er um die Ecke bog, schien er sich es anders zu berlegen. Er bemhte sich freizukommen, brachte dies zwar nicht fertig, aber es gelang ihm, sich umzudrehen, um dem Fragesteller das Gesicht zuzukehren. Henessey, sagte er, und noch einmal begegnete Redmans Blick dem seinen. Das war alles. Man zerrte ihn auer Sicht, ehe er noch etwas hinzufgen konnte. Henessey? sagte Redman und fhlte sich pltzlich sehr fremd. Wer ist Henessey? Die Leverthal zndete sich eine Zigarette an. Dabei zitterten ihr kaum merklich die Hnde. Gestern war ihm das nicht aufgefallen, aber es berraschte ihn nicht. Den Seelenklemp- ner sollte man ihm mal zeigen, der nicht selber Probleme hatte. Der Junge lgt, sagte sie, Henessey ist nicht mehr bei uns. Kleine Pause. Redman drngte nicht, das wrde sie nur nervs machen. Lacey ist intelligent, fuhr sie fort und fhrte die Zigarette an ihre farblosen Lippen. Er kennt genau den wunden Punkt. Hh? Sie sind neu hier, und er will bei Ihnen den Eindruck erwek- ken, da er ein Geheimnis hat, das er mit niemandem teilt. Dann ist es also kein Geheimnis? Das mit Henessey? schnaubte sie verchtlich, Guter Gott, nein! Er ist Anfang Mai aus der Schutzhaft geflohen. Zwischen ihm und Lacey... Sie zgerte unwillkrlich. Zwischen ihm und Lacey war irgendwas. Drogen vielleicht, wir haben's nie rausgefunden. Kleber-Schnffeln, gegenseitige Masturbation, wei der Himmel was. Das ganze Thema war ihr wirklich ausgesprochen unange- nehm. Die Abneigung stand ihr - ein Dutzend verkrampfter Stellen verrieten es - ins Gesicht geschrieben. Wie ist Henessey entkommen? Das wissen wir immer noch nicht, sagte sie. Er ist einfach eines Morgens nicht zum Appell erschienen. Alles wurde von oben bis unten durchsucht. Aber er war fort. Ist es denkbar, da er zurckkehrt? Sie lachte ungeknstelt. Gott nein! Der Ort war ihm verhat. brigens, wie soll er reinkommen? Er ist auch rausgekommen. Die Leverthal gab sich mit leisem Knurren geschlagen. Erwar nicht besonders hell, aber er war gerissen. Genaugenommen berraschte es mich nicht, als er mit einem Mal abgngig war. In den Wochen vor seiner Flucht war er ganz in sich selbst versunken. Ich konnte nicht das Geringste aus ihm rausbekom- men, und bis dahin war er wirklich gesprchig gewesen. Und Lacey? Stand unter seiner Fuchtel. Das kommt hufig vor. Ein jngerer Bursche vergotten einen lteren, erfahreneren Typ. Lacey kommt aus sehr gestrten Familienverhltnissen. Tadellos, dachte Redman. So tadellos, da ich kein Wort davon glaube. Gemtsverfassungen sind keine Bilder einer Ausstel- lung, die mit Nummern versehen sind und so gehngt, da man die Einflsse sieht, wenn man eines mit gerissen bezeichnet, ein anderes mit beeindruckbar. Bilder sind Krit- zeleien, wild auswuchernde Graffitispritzer, unvorhersagbar, uneingrenzbar. Und Bubi Lacey? Der war in den Wind geschrieben. Der Unterricht begann am nchsten Tag bei einer Hitze, die so bedrckend war, da die Werkstatt gegen elf einem Ofen glich. Aber die Kids sprachen rasch auf Redmans geradlinige Art an. Sie erkannten in ihm einen Mann, den sie ohne Zuneigung respektieren konnten. Sie erwarteten keine Geflligkeiten, und sie empfingen keine. Das war ein haltbares bereinkommen. Redman erschien der Mitarbeiterstab im ganzen weniger kom- munikativ als die Jungen. Alles in allem ein Verein von Sonderlingen. Nicht ein aufrechter Kerl unter ihnen, entschied er. Die Amtsroutine von Tetherdowne, die Rituale der Einstu- fung und der Erniedrigung schienen alle zu einheitlichem Kies zermahlen zu haben. Zunehmend ertappte er sich dabei, wie er die Unterhaltung mit Kollegen vermied. Die Werkstatt wurde ein Zufluchtsort, ein Heim vor dem Heim, das nach frisch geflltem Holz und Krperausdnsrung roch. Erst am darauffolgenden Montag erwhnte einer der Jungen die Farm. Niemand hatte Redman erzhlt, da auf dem Gelnde eine Farm war, und ihm kam der bloe Gedanke daran absurd vor. Geht selten jemand hin, sagte Creeley, einer der schlechte- sten Holzbearbeiter unter der Sonne. Da stinkt's. Allgemeines Gelchter. Schon gut, Jungs, beruhigt euch nur wieder! Das Gelchter, durchsetzt von ein paar hmisch getuschelten Sticheleien, verebbte. Wo ist diese Farm, Creeley? Es ist nicht mal 'ne richtige Farm, Sir, sagte Creeley und kaute auf seiner Zunge (eine stndige Angewohnheit). Es sind nur 'n paar Htten. Aber stinken tun sie, Sir. Besonders jetzt. Durchs Fenster deutete er auf die Wildnis hinter dem Sport- platz. Diese Gegend hatte er nur an jenem ersten Tag mit der Leverthal von oben angeschaut. Seitdem war das dland in der schweitreibenden Hitze zusammengewachsen; das Unkraut wucherte ppig. Creeley deutete auf eine weit entfernte Zie- gelmauer, die fast ganz hinter einem Gestrppverhau verbor- gen war. Sehn Sie's, Sir? Ja, ich seh'. Das ist der Schweinestall, Sir. Erneutes Gekicher. Was gibt's zu lachen? schnauzte er die Klasse an. Ein Dutzend Kpfe duckten sich blitzschnell ber die Arbeit. Ich ginge da nicht hin, Sir. So 'n Mief. So kotzvoll abgehan- gen, da es tropft, Sir. Creeley hatte nicht bertrieben. Obwohl es jetzt am spten Nachmittag verhltnismig khl war, drehte einem der Gestank, der von der Farm herberdrang, den Magen um. Redman folgte einfach seiner Nase ber den Sportplatz und an den Nebengebuden vorbei. Die Baulichkeiten, die er von der Werkstatt aus nur andeutungsweise zu sehen bekommen hatte, traten aus ihrem Versteck. Ein paar windige Htten, aus Wellblech und faulendem Holz zusammengebastelt, ein Hh- nerauslauf und der ziegelgemauerte Schweinestall - mehr hatte die Farm nicht zu bieten. Wie Creeley gesagt hatte, es war eigentlich keine Farm. Es war ein gezhmtes Miniatur-Dachau, trostlos und verdreckt. Irgend jemand ftterte offenkundig die paar Insassen: Hhner, ein halbes Dutzend Gnse, Schweine. Niemand aber schien sich damit abzugeben, sie sauberzuhal- ten. Daher dieser kotzvolle Geruch. Gerade die Schweine hausten in einem Pfuhl aus ihrem eigenen Unrat. Inseln aus Kot rsteten bis zum vollen Reifegrad in der Sonne, bevlkert von Tausenden von Fliegen. Der Schweinestall bestand aus zwei gesonderten Abteilungen, die durch eine hohe Ziegelmauer voneinander abgegrenzt waren. Im Vorhof der einen lag ein kleines scheckiges Schwein auf der Seite im Schmutz: seine Flanke fhrte ein Eigenleben aus Zecken und Wanzen. Ein weiteres kleines Schwein konnte man andeutungsweise in der Dmmerung des Innenraums erkennen. Es lag auf verschissenem Stroh. Beide zeigten kei- nerlei Interesse an Redman. Die andere Abteilung schien leer zu sein. Im Vorhof lag kein Dung, und weit weniger Fliegen saen auf dem Stroh. Der aufgestaute Geruch alter Exkremente hatte jedoch auch hier an durchdringender Schrfe nichts verloren, and Redman war im Begriff, sich abzuwenden, als sich von drinnen ein Gerusch vernehmen lie und etwas Groes, Massiges sich aufrichtete. Er lehnte sich ber das mit einem Vorhngeschlo versperrte Holzgatter, versuchte mit Willens- kraft, den Gestank zu vergessen, und sphte in den Stall. Das Schwein kam heraus, um ihn anzusehen. Es war dreimal so gro wie seine Genossen, eine riesige Sau, die ohne weiteres die Mutter der Schweine im Nebenpferch htte sein knnen. Aber whrend ihr potentieller Wurf schmutzstarrende Flanken hatte, war die Sau in tadellos sauberem Zustand, ihr schim- mernder, rosafarbener Krper strotzte vor Gesundheit. Schon ihre bloe Gre beeindruckte Redman. Sie mute scht- zungsweise doppelt so schwer sein wie er: eine alles in allem gewaltige Kreatur. Auf ihre grobschlchtige Art ein hinreien- des Tier mit nach oben gebogenen blonden Wimpern, mit zartem Flaum auf dem glnzenden Rssel, der sich um die sanft schlackernden Ohren zu Borsten vergrberte, mit einem li- gen, magnetischen Blick aus dunkelbraunen Augen. Redman, ein Stadtkind, hatte selten die lebende Wahrheit gesehen, die sich hinter der Fleischportion auf seinem Teller verbarg, die ihr vorausging. Dieses wundervolle Mastschwein war fr ihn eine Offenbarung. Die schlechte Presse, die er in Sachen Schweine immer geglaubt hatte, der ble Ruf, der den bloen Namen zum Synonym fr Schmutzigkeit machte, all das wurde Lgen gestraft. Die Sau war schn, vom schnffelnden Rssel bis hin zum zierlichen Korkenzieher des Schwanzes, eine Verfhrerin auf Hachsen und Klauen. Ihre Augen betrachteten Redman als ihresgleichen, da gab es fr ihn keinen Zweifel: Sie bewunderte ihn kaum weniger, als er sie bewunderte. Sie war heil in ihrem Kopf, er in seinem. Sie waren einander gleich unter einem gleienden Himmel. Aus der Nhe roch ihr Krper s. Offensichtlich war jemand an ebendiesem Morgen dagewesen, um sie zu waschen und zu fttern. Ihr Trog, bemerkte Redman, war noch randvoll mit einem schlabbrig-breiigen Abfallfra, den berresten der gestrigen Mahlzeit. Sie hatte nichts davon angerhrt, sie war kein Fresack. Bald schien sie sich ein komplettes Bild von ihm gemacht zu haben, und leise grunzend machte sie auf ihren flinken Fen kehrt, um sich in die Khle des Innenraums zurckzuziehen. Die Audienz war beendet. Art diesem Abend wollte er nach Lacey sehen. Man hatte den Jungen vom Krankenhaustrakt in ein schbiges Zimmer ver- legt, das er fr sich allein hatte. Offenbar wurde er im Schlaf- saal noch immer von den anderen Jungen gepiesackt, und der einzige Ausweg war diese Einzelhaft. Da sa er nun vor Redman auf einem Teppich aus Comic-Heften und starrte die Wand an. Die knalligen Titelseiten der Hefte lieen sein Gesicht milchiger erscheinen als je zuvor. Das Pflaster auf seiner Nase war abgegangen, und der Blutergu auf dem Nasenrcken ging ins Gelbe ber. Redman gab Lacey die Hand, und der Junge blickte hoch zu ihm. Unverkennbar mute seit ihrer letzten Begegnung eine Kehrtwendung erfolgt sein. Lacey war ruhig und gefat, ja gefgig. Sein Hndedruck, ein Ritual, an das Redman sich bei allen Jungen hielt, die er auerhalb der Werkstatt traf, war schlaff. Geht's dir gut? Der Junge nickte. Bist du gern allein? Ja, Sir. Aber irgendwann mut du wieder in den Schlafsaal. Lacey schttelte den Kopf. Du weit doch selber, da du nicht ewig hier bleiben kannst. Ja, das wei ich, Sir. Du mut wieder zurck. Lacey nickte. Irgendwie schien bei dem Jungen die Logik nicht mehr zu greifen. Er bltterte ein Superman-Heft auf und starrte auf die grellbunte Seite, ohne sie wirklich wahrzu- nehmen. Hr zu, Lacey! Ich mchte, da wir beide uns recht verstehn. Ja? Ja, Sir. Wenn du mich anlgst, kann ich nichts fr dich tun. Doch klar, oder? Ja. Wieso hast du letzte Woche mir gegenber Kevin Henessey erwhnt? Ich wei, da er nicht mehr hier ist. Er ist geflohen, oder? Lacey starrte auf den dreifarbigen Helden auf der Seite. Oder? Er ist hier, sagte Lacey ganz leise. Der Kleine war pltzlich zutiefst verwirrt. Man merkte es an seiner Stimme und an der Art, in der sein Gesicht in sich selbst zusammenstrzte. Wenn er geflohen ist, wieso sollte er dann zurckkommen? Ich find' das wirklich nicht besonders einleuchtend. Findest du's besonders einleuchtend? Lacey schttelte den Kopf. Trnen verstopften ihm die Nase, und seine Worte klangen vernuschelt, aber sie waren noch deutlich genug: Er ist nie weg. Was? Du meinst, er ist nie abgehauen? Er ist schlau, Sir. Sie kennen Kevin nicht. Er ist schlau. Er klappte das Comic-Heft zu und blickte zu Redman auf. Inwiefern schlau? Er hat alles geplant, Sir. Das Ganze. Drck dich deutlicher aus! Sie werden es mir nicht glauben. Es hilft ja doch alles nichts, Sie werden es mir nicht glauben. Er hrt zu, wissen Sie, er ist berall. Wnde kmmern ihn nicht. Tote kmmert nichts dergleichen. Tote. Ein krzeres Wort als Lebendige; aber es verschlug einem den Atem. Er kann kommen und gehen, sagte Lacey, wann immer er will. Willst du behaupten, da Henessey tot ist? sagte Redman. Sieh dich vor, Lacey! Der Junge zgerte: Er war sich im klaren, da er sich haarscharf am Abgrund bewegte und ganz nah dran war, seinen Bescht- zer zu verlieren. Sie haben's versprochen, sagte er pltzlich eiskalt. Versprochen, da dir nicht das Geringste passiert. Dabei bleibt's. Ich hab's gesagt, und ich hab's auch so gemeint. Aber das heit noch lange nicht, da du mir Lgen auftischen kannst, Lacey. Was fr Lgen, Sir? Henessey ist nicht tot. Ist er doch, Sir. Alle hier wissen das. Er hat sich erhngt. Bei den Schweinen. Redman war oft belogen worden, von Knnern, und er hatte das Gefhl, da er ein kompetenter Sachverstndiger fr Lg- ner geworden war. Er kannte all die verrterischen Zeichen. Aber an dem Jungen war keines festzustellen. Er sagte die Wahrheit. Das sprte Redman instinktiv. Die Wahrheit; die ganze Wahrheit; nichts sonst. Was freilich nicht hie, da das, was der Junge sagte, wahr war. Er sagte einfach die Wahrheit, so wie er sie verstand. Er glaubte, da Henessey gestorben war. Beweisen tat das gar nichts. Wenn Henessey tot wre... Erisfes, Sir. Wenn er's wre, wie kann er dann hier sein? Ohne die Spur einer Hinterhltigkeit im Gesicht schaute der Junge Redman an. Glauben Sie nicht an Geister, Sir? Die Lsung war so naheliegend-klar, da Redman sich nicht zu fassen vermochte. Henessey war tot, aber Henessey war hier. Folglich war Henessey ein Geist. Sie glauben nicht dran, Sir? Der Junge stellte keine rhetorische Frage. Er wollte, nein, er forderte eine vernnftige Antwort auf eine vernnftige Frage. Nein, mein Junge, sagte Redman. Nein, das tu ich nicht. Lacey war trotz dieser Meinungskontroverse anscheinend nicht aus der Ruhe zu bringen. Sie werden's erleben, sagte er schlicht, Sie werden's er- leben. Im Schweinestall an der Peripherie des Gelndes hatte die groe namenlose Sau Hunger. Sie prfte die Abfolge der Tage, und mit jedem einzelnen wuchsen ihre Begierden, Sie wute, da die Zeit fr schalen Abfallfra in einem Trog vorbei war. Andere Gelste hatten den Platz jener schweinischen Gensse eingenommen. Sie hatte, seit dem ersten Mal, eine Vorliebe fr Nahrung mit einer bestimmten Struktur, einer bestimmten Resonanz. Dies war keine Nahrung, die sie jederzeit verlangte, sondern einzig dann, wenn das Bedrfnis sie berkam. War es denn ein so groes Verlangen, dann und wann voll Gier jene Hand zu verschlingen, die sie ftterte? Sie stand am Gatter ihres Gefngnisses, vom Vorgeschmack ganz matt, und wartete unablssig. Sie hechelte knirschend, sie schnaubte, ihre Ungeduld wurde zu stumpfsinniger Wut. Im angrenzenden Pferch gerieten ihre kastrierten Shne, die ihren Kummer witterten, ebenfalls in Aufregung. Sie kannten ihre Natur, und die war gefhrlich. Immerhin hatte sie zwei der Brder gefressen, lebend, frisch und noch na von ihrem eigenen Scho. Dann drangen Gerusche durch den blauen Schleier der Abenddmmerung: der weiche, streifende Ton beim Durch- queren der Nesseln, begleitet von Stimmengemurmel. Zwei Jungen nherten sich dem Stall, Respekt und Vorsicht lenkten jeden ihrer Schritte. Die Sau machte sie nervs, und das war ganz verstndlich. Die Berichte ber ihre tckischen Schliche waren Legion. Sprach sie nicht, wenn sie aufgebracht war, mit jener besesse- nen Stimme, indem sie ihr fettes, schweinefleischiges Maul verkrmmte, um mit einer gestohlenen Zunge daraus zu reden? Stand sie nicht manchmal gern auf ihren Hinterbeinen, rosafarben und gebieterisch, und verlangte, da man die klein- sten Jungen in ihren Schutz und Schatten sandte, nackt wie ihr Ferkelwurf, damit sie an ihr saugten? Und trommelte sie nicht gern mit ihren lasterhaften Klauen auf den Boden, bis die Nahrung, die sie fr sie brachten, in appetitliche Happen geschnitten und zwischen zitterndem Zeigefinger und Daumen in ihren Rachen gestopft war? All diese Dinge tat sie. Und schlimmere noch. Heute abend hatten die Jungen, und das wuten sie, nicht das dabei, was sie wollte. Auf der Platte, die sie trugen, lag nicht das von ihr beanspruchte Fleisch. Nicht das se, weie Fleisch, um das sie mit jener anderen Stimme aus ihrem Repertoire gebeten hatte, das Fleisch, das sie, wenn sie sich's wnschte, mit Gewalt nehmen konnte. Heute abend bestand die Mahlzeit einfach aus altem, im Kchentrakt stibitztem Schinkenspeck. Das Nahrungsmittel aber, das sie wirklich dringlich ersehnte, das Fleisch, welches, um das Blut in der Muskulatur anzu- stauen, verfolgt und gengstigt worden, dann, wie man ein Steak klopft, grn und blau geschlagen worden war fr ihren Hochgenu, dieses Fleisch stand unter besonderem Schutz. Es wrde einige Zeit kosten, es zum Schlachten hinzuschmei- cheln. Sie hofften, da die Sau mittlerweile ihre Rechtfertigungen und Trnen akzeptieren und sie nicht in ihrer Wut verschlin- gen wrde. Einer der Jungen hatte, bis er an der Stallmauer angekommen war, seine Hosen vollgeschissen, und die Sau roch ihn. Ihre Stimme nahm aus Freude an der Pikanterie dieser Angst eine andere Klangfrbung an. Statt des leisen Schnaubens kamen hhere, hitzigere Tne von ihr, die sagten: Wei schon, wei schon. Kommt nur zu eurem Richter. Wei schon, wei schon. Sie beobachtete die beiden durch die Torlatten, ihre Augen glitzerten wie Juwelen in der dunstig-trben Nacht, strahlen- der als die Nacht, weil sie lebten, makelloser als die Nacht, weil sie begehrten. Die Jungen knieten am Gatter, ihre Kpfe waren in flehentli- cher Demut geneigt. Die Platte, die sie beide hielten, verdeckte leicht ein Fetzen schmuddeligen Musselins. Also? sagte sie. Die Stimme drang an ihre Ohren, unver- kennbar. Seine Stimme, aus dem Schweinemund. Der ltere Bursche, ein junger Schwarzer mit Wolfsrachen, sprach leise auf die glnzenden Augen ein und machte so noch das Beste aus seiner Angst: Es ist nicht das, was du verlangt hast. Es tut uns leid. Der andere Junge, dem die bervollen Hosen zu schaffen machten, murmelte gleichfalls seine Entschuldigung. Aber wir besorgen ihn dir. Ehrlich. Wir bringen ihn dir ganz bald, sobald wir knnen. Warum nicht heute nacht? fragte das Schwein. Weil ihn jemand schtzt. Ein neuer Lehrer. Mr. Redman. Die Sau schien alles schon zu wissen. Sie erinnerte sich an die Konfrontation ber die Mauer hinweg und an die Art, wie er sie angestarrt hatte, als wre sie ein zoologisches Exemplar. Also das war ihr Feind, dieser alte Mann. Sie wrde ihn kriegen. 0 ja. Die Jungen hrten ihr Rachegelbnis und waren offensichtlich zufrieden, da man ihnen die Angelegenheit abnahm. Gib ihr das Fleisch, sagte der schwarze Junge. Der andere stand auf und entfernte den Musselinfetzen. Der Schinkenspeck roch schlecht, aber die Sau gab trotzdem feuchte Begeisterungslaute von sich. Womglich hatte sie ihnen ver- ziehen. Los, mach schon, schnell! Der Junge nahm den ersten Streifen Schinkenspeck zwischen Zeigefinger und Daumen und bot ihn ihr an. Von der Seite her reckte die Sau ihr Maul zu ihm hinauf und fra, dabei entblte sie ihre gelblichen Zhne. Der Streifen war schnell weg. Der zweite, dritte, vierte, fnfte genauso. Das sechste und letzte Stck nahm sie samt seinen Fingern, und sie schnappte dabei mit solcher Eleganz und Geschwindigkeit zu, da der Junge nur noch aufschreien konnte, als ihre Zhne die dnnen Fingerglieder schmatzend durchbissen, um sie zu verschlingen. Er zog seine Hand ber die Stallmauer zurck und beglotzte die Verstmmelung. Genaugenommen hatte sie nur begrenzten Schaden angerichtet. Das obere Daumenglied und der halbe Zeigefinger waren weg. Das Blut quoll rasch und reichlich aus den Wunden, es spritzte auf sein Hemd und seine Schuhe. Sie grunzte und schnaubte und schien befriedigt. Der Junge kreischte und lief davon. Morgen, sagte die Sau zu dem zurckgebliebenen Bittsteller, nicht dieses alte Schweinefleisch. Wei mu es sein. Wei und... lssig. Sie fand diese Anspielung auf Lacey ganz besonders witzig. Ja, sagte der Junge. Ja, selbstverstndlich. Ohne Wenn und Aber, befahl sie. Ja. Oder ich komm' ihn mir selber holen. Hast du mich ver- standen? Ja. Ich komm' ihn mir selber holen, ganz gleich, wo er sich versteckt. In seinem Bett werd' ich ihn fressen, wenn ich mag. Und im Schlaf fre ich ihm die Fe weg, dann die Beine, dann die Eier, dann die Hften... Ja, ja. Ich will ihn haben, sagte die Sau und scharrte mit den Fen im Stroh. Er gehrt mir. Henessey tot ? sagte die Leverthal und beugte sich weiter mit dem Kopf ber einen ihrer langwierigen Berichte, an dem sie gerade schrieb. Das ist wieder so eine Erfindung, Grad sagt der Kleine noch, er ist in Tetherdowne, und gleich drauf, er ist tot. Der Junge kommt ja nicht mal klar mit seiner eigenen Ge- schichte. Es war schwierig, sich mit den Widersprchen auseinanderzu- setzen, auer man akzeptierte den Gedanken an Geister so bereitwillig wie Lacey, Diesen Punkt wollte Redman keinesfalls vor der Frau ins Spiel bringen oder mit ihr durchdiskutieren. Dieser Teil war Unsinn. Geister waren dummes Zeug; nichtsals sichtbar gemachte ngste. Aber die Theorie von Henesseys Selbstmord fand Redman schon viel einleuchtender. Er preschte vor mit seinem Argument. Und wo hat Lacey dann diese Geschichte ber Henesseys Tod her? Schon ziemlich merkwrdig, sich so etwas auszudenken. Sie geruhte aufzuschauen, und ihr Gesicht war in sich selbst hineinverblockt wie eine Schnecke in ihr Haus. Phantasmorgien sind hier an der Tagesordnung. Sie sollten mal die Horrorstories hren, die ich auf Tonband habe! Manche sind so exotisch, da wrden Ihnen glatt die Augen bergehen. Hat es hier Selbstmordflle gegeben? Seit ich da bin ? Sie dachte einen Augenblick nach, den Fller schreibbereit. Zwei Versuche. Glaub', keiner von beiden in ernsthafter Absicht. Hilferufe. War einer davon Henessey? Sie gestattete sich ein dezentes Hohnlcheln und schttelte zugleich den Kopf. Henesseys Labilitt war eine ganz andere. Er dachte, er wrde ewig leben. So sah sein kleiner Traum aus: Henessey, der Nietzschesche bermensch. Fr die groe Herde hatte er nur so was wie Verachtung brig. Er, er war eine Rasse fr sich: uns brigen blo Sterblichen genauso weit entrckt wie diesem erbrmlichen... Er wute, da sie Schwein sagen wollte, aber gerade noch kurz vor diesem Wort hielt sie inne. Diesem erbrmlichen Viehzeug auf der Farm, sagte sie und schaute wieder auf ihren Bericht hinunter. Hat sich Henessey oft bei der Farm aufgehalten? Nicht mehr als jeder andere Junge auch, log sie. Keiner mag den Farmdienst, aber er ist Teil des Arbeitsturnus. Ausmisten ist keine sehr angenehme Beschftigung, das kann ich be- zeugen. Ihre Lge - Redman wute, da es eine war - lie ihn Laceys letztes Detail fr sich behalten: da Henessey im Schweinestall den Tod gefunden hatte. Er zuckte mit den Achseln und wechselte das Thema. Bekommt Lacey irgendwelche Medikamente? Beruhigungsmittel. Werden die Jungen immer ruhiggestellt, wenn sie in eine Rauferei verwickelt waren? Nur wenn sie Ausbruchsversuche machen. Wir haben nicht gengend Personal, um so jemand wie Lacey zu beaufsichti- gen. Ich versteh' nicht, weshalb Sie das so beschftigt. Ich mchte, da er mir vertraut. Er hat mein Versprechen. Ich will ihn nicht enttuschen. Also ganz offen, das alles klingt verdchtig nach einer Sonder- behandlung. Der Junge ist einer von vielen. Keine einzigar- tigen Probleme und keine spezielle Aussicht auf Wiedergutma- chung. Wiedergutmachung? Ein seltsames Wort. Ehrenrettung, nennen Sie's, wie Sie wollen! Schaun Sie, Redman, ich will ganz ehrlich sein. Man hat allgemein den Eindruck, da das hier wirklich nicht ihr Bier ist. Ach was? Wir alle sind der Meinung, und das gilt wohl auch fr den Direktor,, Sie sollten uns unsere Probleme so anpacken lassen, wie wir das gewohnt sind. Arbeiten Sie sich erst mal richtig ein, bevor Sie anfangen, sich... * Einzumischen. Sie nickte. Knnte man sagen. Sie machen sich Feinde. Danke fr den Hinweis. Der Job ist auch ohne Feinde schon schwierig genug, das drfen Sie mir glauben. Sie gab sich Mhe, vershnlich zu wirken. Redman ignorierte das. Mit Feinden kam er zurecht, mit Lgnern nicht. Das Zimmer des Direktors war abgeschlossen, jetzt schon eine ganze Woche lang. Hinsichtlich seines Verbleibens gingen die Erklrungen auseinander. Zusammenknfte mit den Finanz- ausschssen lautete die beim Personal bevorzugt propagierte Begrndung, obwohl die Sekretrin behauptete, da sie es nicht genau wisse. Jemand erwhnte seine Seminare an der Universitt, die er abhielt, um einen Beitrag zur Erforschung der Probleme an Verwahrungszentren zu leisten. Womglich hielt er gerade eines. Mr. Redman knne gern eine Nachricht hinterlassen, man wrde sie an den Direktor weiterleiten. In der Werkstatt wartete Lacey auf ihn. Es war Viertel nach acht: der Unterricht war lngst aus. Was treibst du hier? Warten, Sir. Worauf? Auf Sie, Sir. Ich wollt' Ihnen einen Brief geben, Sir. An meine Mam. Schaun Sie, da sie'n kriegt? Du kannst ihn doch auf dem blichen Weg schicken, oder? Gib ihn der Sekretrin, die gibt ihn auf. Du darfst zweimal pro Woche schreiben. Lacey machte ein langes Gesicht. Sie lesen alles, Sir: falls man was Verbotenes schreibt. Und wenn man's tut, dann verbren- nen sie den Brief. Und du hast was Verbotenes geschrieben? Er nickte. Was? ber Kevin. Ich hab' ihr alles ber Kevin erzhlt, was mit ihm passiert ist. Bin mir nicht sicher, ob du das mit Henessey alles richtig siehst. Der Junge hob die Schultern, 's ist die Wahrheit, Sir, sagte er ruhig, und es machte ihm offensichtlich nichts mehr aus, ob er Redman berzeugte oder nicht. Es ist wahr. Er ist hier, Sir. In ihr. In wem? Was redest du da? Womglich sprach aus Lacey wirklich die reine Angst, wie es die Leverthal angedeutet hatte. Irgendwann mute seine Geduld mit dem Jungen ein Ende haben. Und das schien jetzt so ziemlich erreicht. Es klopfte an der Tr, und ein pickeliges Individuum namen* Slape starrte ihn durch das Drahtfenster an. Komm rein! Dringender Anruf fr Sie, Sir. Im Sekretariat. Redman hate das Telefon. Widerlicher Apparat: brachte nie was Erfreuliches. Dringend. Wer denn? Slape zuckte mit den Achseln und kratzte an seinem Gesicht herum. Bleibst so lang bei Lacey, ja? Slape wirkte alles andere als glcklich bei diesen Aussichten. Hier, Sir? fragte er. Hier. Ja, Sir. Ich verla mich auf dich, also enttusch mich nicht! Nein, Sir. Redman wandte sich Lacey zu. Der verletzte Blick war jetzt eine Wunde; eine offene, als die Trnen kamen. Gib mir den Brief! Ich nehm' ihn mit ins Geschftszimmer. Lacey hatte den Umschlag in die Hosentasche gesteckt. Wider- willig fischte er ihn heraus und bergab ihn Redman. Sag danke! Danke, Sir. Die Gnge waren wie leergefegt. Es war Fernsehzeit, und die allabendliche Anbetung der Glotze hatte begonnen. Jetzt klebten sie wieder an dem Schwarzwei- gert, das den Aufenthaltsraum beherrschte, um sich die ganze Pampe der Krimi- und Actionserien, der Sport- und Unterhal- tungsserien, der Kriege-aus-aUer-Welt-Serien reinzuziehen, die Kinnladen offen, aber innerlich zu. Ein hypnotisiertes Schweigen hielt die versammelte Gesellschaft umklammen, bis Gewalt zu erhoffen war oder Sex sich andeutete. Dann wrde der Raum ausbrechen in Pfiffe, Obsznitten und anfeuernde Rufe, nur um whrend des nchsten Dialogs erneut in ungutes Schweigen zu versinken, in Erwartung des nchsten Schieeisens, der nchsten Brust. Gerade jetzt konnte er Schsse und Musik hren samt ihrem Widerhall im Flur. Das Geschftszimmer war offen, aber die Sekretrin nicht anwesend. Vermutlich nach Hause gegangen. Die Uhr im Geschftszimmer zeigte neunzehn nach acht. Redman stellte seine Armbanduhr nach. Der Hrer lag auf der Gabel. Ganz gleich, wer ihn angerufen hatte, jedenfall hatte es ihm zu lang gedauert, und er hatte keine Nachricht hinterlassen. Zugegeben, er war erleichtert, da der Anruf nicht so dringlich war, da der Anrufer am Apparat wartete, aber jetzt war er irgendwie enttuscht, nicht mit der Auenwelt sprechen zu knnen. Wie Robinson: Sieht ein Segel und mu es dann an seiner Insel vorbeigleiten lassen. Lcherlich! Dies war doch nicht sein Gefngnis. Er konnte hinausgehen, wann's ihm pate. Noch diese Nacht wrde er rausgehn und kein Robinson mehr sein. Eigentlich wollte er Laceys Brief auf dem Schreibtisch liegen- lassen, dann berlegte er es sich aber anders. Er hatte verspro- chen, die Interessen des Jungen zu wahren, und das wollte er auch tun. Notfalls wrde er den Brief selber aufgeben. Er machte sich auf den Rckweg zur Werkstatt, ohne sich auf irgendwas besonders zu konzentrieren. Vage durchschwebten hauchdnne Strhnen der Beklommenheit seinen Organismus und behinderten seine Reaktionen. Seufzer steckten ihm in der Kehle, Gram verdsterte sein Gesicht. Dieser verfluchte Ort, sagte er laut, und er meinte nicht die Wnde und die Gnge, sondern die Falle, die sie darstellten. Er fhlte, da߫ hier sterben knnte: seine guten Absichten hbsch um ihn aufgereiht wie Blumen um eine Leiche, und keiner wrde es erfahren oder sich drum kmmern oder es beklagen. Idealis- mus war hier Schwche, Mitleid verweichlichende Nachsicht. Beklommenheit war alles: Beklommenheit und.,. Schweigen. Das war's, was nicht stimmte. Das Fernsehen hallte und kreischte zwar noch immer den Gang entlang, aber nur Schweigen begleitete es. Keine anfeuernden Pfiffe, kein Pro- testgekreisch. Redman sauste zur Halle zurck und den Gang zum Aufent- haltsraum hinunter. In diesem Gebudeabschnitt war Rauchen gestattet, und der Bereich stank nach kaltem Zigarettenrauch. Weiter vorn lief das Gemetzel in unverminderter Lautstrke weiter. Eine Frau schrie den Namen von irgend jemand. Ein Mann antwortete und wurde vom Feuersto einer Gewehr- salve umgenietet. Halberzhlte Geschichten hingen in der Luft. Er erreichte den Raum und ffnete die Tr. Das Fernsehen redete ihn an. Hinlegen! Er hat 'ne Waffe! Noch ein Schu. Die Frau, blond, mit groen Brsten, bekam die Kugel ins Heiz und starb auf dem Gehsteig neben dem Mann, den sie geliebt hatte. Die Tragdie nahm ohne Zuschauer ihren Lauf. Der Aufent- haltsraum war leer, die alten Lehnsthle und die mit eingeritz- ten Graffiti bersten Hocker waren um den Fernsehapparat herum aufgestellt - fr ein Publikum, das diesmal eine bessere Abendunterhaltung hatte. Redman ging im Zickzack zwischen den Sitzen nach vorn und schaltete den Apparat ab. Als die silbrig-blaue Fluoreszenz erlosch und das penetrante Ge- stampfe der Musik abgewrgt war, wurde er in der Dunkelheit, in der jhen Stille einer Gestalt an der Tr gewahr. Wer ist das? Slape, Sir. Du solltest doch bei Lacey bleiben. Er mute gehn, Sir. Gehen? Er ist davongerast, Sir. Hab' ihn nicht aufhalten knnen. Hol dich der Teufel! Was soll das heien, du hast ihn nicht aufhalten knnen? Redman ging wieder durch den Raum zurck und blieb dabei mit dem Fu an einem Hocker hngen. Er knarzte bers Linoleum, ein zarter Protest. Slape zuckte zusammen. Tut mir leid, Sir, sagte er, Er war zu schnell fr mich. Ich hab' 'nen kaputten Fu. Stimmt. Slape humpelte wirklich. Wo ist er hin? Slape hob die Schultern. Wei nicht genau, Sir. Dann denk nach! Kein Grund zur Aufregung, Sir. Das Sir war hingerotzt: allen Respekt verarschend. Redman juckte pltzlich die Hand, diesem halbwchsigen Eiterpfropf eine reinzuhauen. Noch ein, zwei Meter bis zur Tr. Slape wich nicht zur Seite. Aus dem Weg, Slape. Wirklich, Sir, Sie knnen ihm jetzt berhaupt nicht helfen. Er ist fn. Aus dem Weg, sag' ich. Er trat auf Slape zu, um ihn zur Seite zu stoen, und - klicks! machte es: Auf Nabelhhe drckte der Saukerl ein Schnapp- messer gegen Redmans Bauch. Die Spitze stach ins Fett ber dem Grtel. Gibt wirklich keinen Grund, ihm hinterherzulaufen, Sir. t Was um Himmels willen treibt ihr, Slape? Wir machen nur'n Spiel, sagte er durch grau verfrbte Zhne. Passiert niemand was Schlimmes. Am besten, Sie halten sich da vllig raus. Die Messerspitze hatte Blut gezapft. Warm bahnte es sich seinen Weg zwischen Redmans Beine. Slape war bereit, ihn zu tten; ohne jeden Zweifel. Egal, was fr ein Spiel das war, Slape jedenfalls hatte jetzt seine kleine Extraunterhaltung. Lehrerschlachten hie sie. Mit unvermindertem Druck wurde das Messer ganz, ganz langsam durch Redmans Bauchdecke geschoben. Das kleine Blutrinnsal war zu einem Strom ange- schwollen. Von Zeit zu Zeit kommt Kevin gern zum Spielen rber, sagte Slape. Henessey? Richtig, Sie reden uns ja gern mit dem Nachnamen an, oder? Das klingt mnnlicher, ja? Wir sind keine Kinder, soll das heien, wir sind Mnner, soll das heien. Aber sehn Sie, Sir, gar so mnnlich ist Kevin nicht. Er hat nie ein Mann sein wollen. Echt, ich glaub', es war ihm schrecklich, sich das vorzustellen. Wissen Sie, warum? (Das Messer zertrennte jetzt, beinah zrtlich, Muskelfleisch.) Er hat gemeint, wenn man einmal ein Mann ist, fangt man an zu sterben: Und Kevin hat immer gesagt, er wrde niemals sterben. Niemals sterben. Niemals. Ichmchte ihn kennenlernen. Das will jeder, Sir. Er ist charismatisch. Die Doktorin nennt ihn so: charismatisch. Ich mchte diesen charismatischen Kameraden kennen- lernen. Bald. Jetzt. Bald, hab' ich gesagt. Redman ergriff die Hand mit dem Messer so schnell am Gelenk, da Slape keine Gelegenheit fand, die Waffe voll hineinzudrcken. Die Reaktion des Halbwchsigen war viel- leicht durch Drogeneinflu verlangsamt, und Redman ber- wltigte ihn. Das Messer entfiel Slape, als Redman fester zupackte; mit der anderen Hand nahm er Slape in einen Wrgegriff, sie schlo sich mhelos um seinen abgemagerten Hals. Mit der Handflche drckte Redman auf den Adamsapfel seines Angreifers, der zu rcheln anfing. Wo ist Henessey? Du bringst mich zu ihm. Die Augen, die Redman anschauten, waren so verwischt wie seine Worte, die Iris glich einem Nadelstich. Bring mich zu ihm! verlangte Redman. Slapes Hand fand Redmans zerschnittenen Bauch, und seine Faust boxte krftig gegen die Wunde. Redman fluchte. Er lockerte und ffnete seinen Griff, und Slape schlpfte fast aus seiner Umklammerung, aber Redman rammte ihm das Knie in die Weichteile, jh und heftig. Slape wollte sich vor rasendem Schmerz zusammenkrmmen, aber der Griff um den Hals hinderte ihn daran. Das Knie stie wieder zu, hrter. Und wieder. Wieder. Unwillkrliche Trnen liefen ber Slapes Gesicht und durch- eilten das Minenfeld seiner Mitesser. Ich kann dir doppelt so wehtun wie du mir, sagte Redman. Wenn du also auf diese Tour die ganze Nacht weitermachen willst, soll mich das mordsmig freuen, Slape schttelte den Kopf und rang durch seine zusammenge- prete Luftrhre mit kurzem, schmerzendem Keuchen nach Atem. Noch was gefllig? Slape schttelte wieder den Kopf. Redman lie ihn los und schleuderte ihn ber den Flur gegen die Wand. Wimmernd vor Schmerz, mit verknittertem Gesicht, glitt er die Wand hinun- ter und nahm, die Hnde zwischen den Beinen, eine embryo- nale Lage ein. Wo ist Lacey? Slape hatte angefangen zu zittern; die Worte purzelten heraus: Wo schon? Kevin hat ihn. Wo ist Kevin? Slape schaute verdutzt zu Redman auf. Das wissen Sie nicht? Wrd' ich sonst fragen? Slape schien vornber hinzuschlagen, als er reden wollte, und gab einen Schmerzenslaut von sich. Redmans erster Gedanke war, der Bursche wrde zusammenbrechen, aber Slape hatte anderes im Sinn. Pltzlich war, vom Boden aufgeschnappt, das Messer wieder in seiner Hand, und er jagte es nach oben in Richtung Redmans Weichteile. Der wich dem Stich seitlich nur um Haaresbreite aus, aber Slape war wieder auf den Beinen, sein Schmerz vergessen. Das hin und her sausende Messer zerschlitzte die Luft, und Slape zischte seine Absicht durch die Zhne. Verreck, du Bullenschwein! Verreck, du Schwein! Dann ri er den Mund weit auf und gellte: Kevin! Kevin! Hilf mir! Die Messerhiebe wurden weniger und ungenauer; Slape hatte die Kontrolle ber sich verloren, und Trnen, Rotz und Schwei berschleimten sein Gesicht, als er auf sein auserkore- nes Opfer zustolperte. Redman hielt seinen Augenblick fr gekommen und versetzte Slape einen lhmenden Schlag gegen das Knie - des kranken Beins vermutlich. Richtig vermutet. Slape schrie und taumelte rckwrts, wirbelte herum und knallte mit dem Gesicht gegen die Wand. Redman drngte voll nach und warf sich auf Slapes Rcken. Zu spt erkannte er, was er angerichtet hatte, Slapes Krper entspannte sich, und die Hand, die das Messer gefhrt hatte und zwischen Wand und Krper eingequetscht war, glitt heraus, blutig und ohne Waffe. Slape atmete Todesluft aus, schwer getroffen brach er gegen die Wand hin in sich zusam- men und trieb sich das Messer noch tiefer ins eigene Gedrm. Er war tot, ehe er den Boden berhrte. Redman drehte ihn um. An die Pltzlichkeit des Todes wrde ersieh nie gewhnen knnen. So schnell dahin zu sein, wie das Bild auf dem Fernsehschirm. Abgeschaltet und spurlos gelscht. Ende der Sendung. Bleiern umfing ihn das grenzenlose Schweigen der Korridore, als er zur Halle zurckging. Der Schnitt in seinem Bauch war unerheblich, und das Blut hatte aus seinem Hemd einen schor- figen Verband gebildet, indem es Baumwollstoff und Fleisch zusammenfgte und die Wunde dann verklebte. Sie tat fast berhaupt nicht weh. Aber der Schnitt war noch sein gering- stes Problem: Jetzt galt es, Geheimnisse zu entrtseln, und er fhlte sich auerstande, sich ihnen zu stellen. Die verbrauchte, ausgelaugte Atmosphre des Ortes gab ihm das Gefhl, selbst ausgelaugt und verbraucht zu sein. Gesundheit war hier nicht zu haben, keine Tugend, keine Vernunft. Und er glaubte pltzlich an Geister. In der Halle brannte Licht, eine nackte Birne schwebte ber dem toten Raum. In ihrem Schein las er Laceys zerknitterten Brief. Die verschmierten Worte auf dem Papier schwirrten wie Funken ins Pulverfa seines entnervten Grauens. Mami, Sie haben mich ans Schwein verfttert. Glaub ihnen nicht, wenn sie vielleicht sagen, ich hab' Dich nie liebgehabt, oder wenn sie vielleicht sagen, ich bin davongelaufen. Das bin ich nie. .Sie haben mich ans Schwein verfttert. Ich hab' Dich lieb. Tommy. Er steckte den Brief ein und rannte los, zum Gebude hinaus und ber den Sportplatz. Es war vllig dunkel: eine tiefe, sternlose Dunkelheit, und die Luft war stickig. Selbst bei Tageslicht kannte er den Weg zur Farm nicht genau, um 80 weniger bei Nacht. Sehr bald hatte er sich verlaufen, irgendwo zwischen dem Sportplatz und den Bumen. Der Umri des Hauptgebudes hinter ihm war nicht auszumachen, es war zu weit weg; und die Bume vor ihm sahen alle gleich aus. Die Nachtluft war eklig schwl; kein Wind zur Erfrischung mder Glieder. Es war herauen genauso still wie drinnen, als htte sich die ganze Welt zum Innenraum umgestlpt: eine erstickende Kammer, von einer gemalten Wolkendecke abge- schlossen. Er stand in der Dunkelheit, und das Blut hmmerte in seinem Kopf; er mute raushekommen, wo er sich befand. Links, wo er eigentlich die Nebengebude vermutet hatte, flimmerte ein schwaches Licht. Offenkundig hatte er sich, was seinen Standort betraf, vollkommen geirrt. Das Licht kam vom Stall. Bei angestrengtem Hinsehen lie es die Konturen des bauflligen Hhnerauslaufs hervortreten. Gestalten standen dort, mehrere, wie Zuschauer hei einem Spektakel, das er noch nicht sehen konnte. Er ging los Richtung Stall, ohne zu wissen, was er dort nach seinem Eintreffen tun wrde. Wenn sie alle wie Slape bewaff- net waren und dessen mrderische Absicht teilten, dann war es aus mit ihm. Der Gedanke beunruhigte ihn nicht. Heute nacht von dieser stillgelegten Welt freizukommen; die Alternative Hatte schon etwas Verlockendes. Ausgezhlt und raus. Und dort war Lacey. Nach seinem Gesprch mit der Leverthal, als er sich gefragt hatte, warum ihm alles, was den Jungen betraf, so naheging, war er einen Moment lang ziemlich verunsichert gewesen. Dieser Vorwurf der Sonderbehandlung, da war schon etwas Wahres dran. Gab es irgend etwas in ihm, das sich wnschte, Thomas Lacey lge nackt neben ihm? War das nicht der eigentliche Sinn der Leverthalschen Bemerkung? Selbst jetzt, als er voller Ungewiheit auf die Lichter zulief, mute er immer und ausschlielich an die Augen des Jungen denken, wie sie, riesengro und fordernd, tief in die seinen geschaut hatten. Vor ihm zeigten sich Gestalten in der Nacht, die von der Farm abzogen. Er konnte sie gegen den Lichtschein aus dem Stall sehen. War schon alles vorbei ? Er nherte sich der linken Seite des Gebudes in einem groen Bogen, um den Zuschauern beim Verlassen des Schauplatzes auszuweichen. Sie wirkten in sich gekehrt: Kein Geplapper oder Lachen regte sich unter ihnen. Wie eine Glaubensgemeinde, die gerade von einem Begrbnis kommt, schritten sie durch die Dunkelheit, gemes- sen und mit gesenktem Kopf, jeder fr sich allein. Es war unheimlich, diese gottlosen Straftter von Ehrerbietung so gezhmt zu sehen. Er erreichte den Hhnerauslauf, ohne irgendeinem von ihnen unmittelbar gegenberzutreten. In der Nhe des Schweine- stalls hielten sich noch immer ein paar Gestalten auf. Die Mauer der Saubehausung war von Dutzenden und Aberdut- zenden Kerzen eingesumt. Gleichmig brannten sie in der stillen Luft und warfen einen vollen, warmen Schein auf das Ziegelrot und auf die Gesichter der wenigen, die noch immer in die Mysterien des Schweinestalls hineinstanten. Die Leverthal war unter ihnen, ebenso der Wachmann, der an jenem ersten Tag neben Laceys Kopf gekniet hatte. Auch zwei oder drei Jungen erkannte er dem Aussehen nach wieder, nicht jedoch dem Namen nach. Vom Stall kam ein Gerusch: Whrend sie sich huldvoll anstar- ren lie, scharrte die Sau mit den Fen im Stroh. Irgend jemand sprach, er konnte nicht herausbekommen, wer. Es war die Stimme eines Jugendlichen mit froh-beschwingtem Vibrato. Als die Stimme in ihrem Monolog innehielt, traten der Wachmann und einer der Jungen wie auf ein entsprechen- des Kommando hin weg und verschwanden in der Dunkelheit. Redman schlich etwas nher. Es kam jetzt auf jede Sekunde an. Bald wrden die ersten der Gemeinde den Sportplatz berquert haben und wieder im Hauptgebude sein. Sie wrden auf Slapes Leiche stoen, Alarm schlagen. Er mute jetzt Lacey finden, sofern Lacey tatschlich noch auffindbar war. Die Leverthal sah ihn als erste. Sie blickte vom Schweinestall weg und nickte ihm einen Gru zu; offenbar machte ihr seine Ankunft nichts aus. Es war, als sei sein Erscheinen an diesem Ort unausweichlich gewesen, als fhrten alle Wege zur Farm zurck, zu dem Strohverschlag und dem Kotgeruch. Gar nicht so abwegig, da sie das womglich glaubte. Er glaubte e beinah selbst. Dr. Leverthal, sagte er. Sie lchelte ihn offen an. Der Junge neben ihr hob den Kopf und lchelte auch. Bist du Henessey? fragte er und sah den Jungen an. Der Bursche lachte, ebenso die Leverthal. Nein, sagte sie. Nein. Nein. Nein. Henessey ist dort. Sie deutete in den Stall. Redman machte noch ein paar restliche Schritte bis zur Stau- mauer und erwartete, was er nicht zu erwarten wagte: das Stroh und das Blut und das Schwein und Lacey, Aber Lacey war da nicht. Blo die Sau, pomps und prezis wie immer stand sie inmitten ihres hchstpersnlichen Kots, und ihre riesigen lachhaften Ohren schlackerten ber ihren Augen. Wo ist Henessey ? fragte Redman und begegnete dem starren Blick der Sau. Da, sagte der Junge, Das ist ein Schwein. Sie hat ihn gefressen, sagte der Bursche und lchelte noch immer. Die Idee fand er offensichtlich kstlich. Sie hat ihn gefressen - und er redet aus ihr. Sonst noch was, dachte Redman. Verglichen damit, wirkten jetzt Laceys Geistergeschichten fast glaubwrdig. Die verzapf- ten hier allen Ernstes, das Schwein wre besessen. Hat sich Henessey erhngt, wie Tommy gesagt hat? Die Leverthal nickte. Im Schweinestall? Nochmaliges Nicken. Pltzlich nderte die Sau ihren Standplatz. In seiner Phantasie sah er, wie sie sich hochreckte, um an Henesseys zuckendem Leib zu schnffeln, unten an seinen Fen; wie sie sprte, da der Tod ihn berkam; wie sie geifernd sabberte bei der Vor- freude auf sein Fleisch. Er sah, wie sie den Tau aufleckte, den Henesseys Haut beim Verwesen ausschwitzte, wie sie an ihm schlapperte, ihn erst zgerlich beknabberte, um ihn schlielich zu verschlingen. Es fiel nicht besonders schwer zu begreifen, wieso die Kids aus dieser Scheulichkeit einen Mythos hatten machen knnen, sich Hymnen dazu ausdachten, dem Schwein wie einer Gottheit aufwarteten. Die Kerzen, die Ehrenbezei- gungen, die geplante Aufopferung Laceys: Das war eindeutig pathologisch, aber keineswegs befremdlicher als tausend andere religise Bruche. Langsam begriff er sogar Laeeys gottergebene Mattigkeit, seine Unfhigkeit, gegen die Mchte anzukmpfen, die ihn bermannten. Mami, sie haben mich ans Schwein verfttert. Nicht: Hilfe, Mami! Rette mich! Blo: Sie haben mich dem Schwein gegeben. Das alles konnte er verstehen: Es waren schlielich Kinder, viele mit mangelhafter Schulbildung, manche schon an der Grenze der Debilitt und alle empfnglich fr Aberglauben, Aber das erklrte noch lange nicht die Anwesenheit der Lever- thal. Sie starrte gerade wieder in den Stall, und erst jetzt bemerkte Redman, da ihr Haar losgebunden war und im Kerzenschein honigfarben auf ihren Schultern lag. Ich seh' hier nur schlicht und einfach ein Schwein, sagte er. Es redet mit seiner Stimme, sagte die Leverthal ruhig. Redet in Zungen, wenn Sie so wollen. Sie werden ihn bald hren, meinen sen Jungen. Da begriff er. Sie und Henessey? Schaun Sie nicht so entsetzt! sagte sie. Er war achtzehn: So schwarze Haare haben Sie noch nie gesehen. Und er hat midi geliebt. Warum hat er sich erhngt? Um ewig zu leben, sagte sie. Auf diese Weise mute er nie zum Mann werden und sterben. Sechs Tage lang haben wir ihn nicht gefunden, sagte der junge Kerl, er flsterte es Redman beinah ins Ohr. Und selbst dann wollte sie niemand an ihn ranlassen, nachdem sie ihn einmal ganz fr sich hatte - das Schwein mein' ich, nicht die Doktorin. Jeder hat Kevin geliebt, wissen Sie, flsterte er vertraulich. Er war schn. Und wo ist Lacey? Das Liebeslcheln der Leverthal zerfiel. Bei Kevin, sagte der Bursche. Wo Kevin ihn haben will. Er deutete ins Innere des Stalls. Dort lag ein Krper auf dem Stroh, mit dem Rcken zur Tr. Wenn du ihn willst, dann geh und hol ihn dir geflligst selber, sagte der Junge, und im nchsten Augenblick hatte er Redman hinten am Hals mit einem schraubstockartigen Griff umklammert. Die Sau reagierte auf die pltzliche Bewegung. Sie fing an, das Stroh zu zerstampfen und zeigte das Weie ihrer Augen. Redman versuchte, den Griff des Jungen abzuschtteln und rammte ihm gleichzeitig seinen Ellbogen in den Bauch. Auer Atem und fluchend lie der Junge von ihm ab, aber schon hatte die Leverthal seinen Platz eingenommen. Geh doch zu ihm, sagte sie und packte Redman bei den Haaren. Geh zu ihm, wenn du ihn willst! Ihre Ngel kratz- ten ihm ber Schlfe und Nase, verfehlten mit knapper Not seine Augen. Runter von mir! rief er und bemhte sich, die Frau abzu- schtteln, aber sie klammerte sich fest, und ihr Kopf schnellte vor und zurck, whrend sie ihn ber die Mauer zu drcken versuchte. Der Rest verlief in grausiger Geschwindigkeit. Ihr langes Haar fegte durch eine Kerzenflamme und fing Feuer, schnell kletter- ten die Flammen an ihrem Kopf koch. Um Hilfe kreischend, torkelte sie schwer gegen das Gatter. Es hielt ihrem Gewicht nicht stand und gab nach. Hilflos mute Redman mit ansehen, wie die brennende Frau ins Stroh fiel. Begeistert breiteten sich die Flammen ber den Vorhof zur Sau hin aus und fraen das leicht brennbare Zeug in sich hinein. Selbst jetzt, in extremis, war das Schwein noch immer Schwein. Kein Wunder weit und breit: kein Reden oder Bitten in Zungen. Das Tier tobte vor Schrecken, als der Feuerschwall es einkreiste, seine stampfende Masse in die Enge trieb und an seinen Flanken leckte. Der Gestank von angesengtem Schin- kenspeck erfllte die Luft, als die Flammen seitlich an ihm hinauf und ber seinen Kopf liefen; wie ein Grasbrand jagten sie durch seine Borsten. Die Stimme der Sau war eine Schweinestimme, ihre Klagen waren Schweineklagen. Hysterisches Grunzen entfuhr ihren Lippen, und sie preschte ber den Stallvorhof zum zerbroche- nen Tor hinaus und zertrampelte dabei die Leverthal. Noch immer brannte die Sau, als sie, ein Wunderding in der Nacht, ber den Sportplatz galoppierte und in ihrem Schmerz hierhin, dorthin im Zickzack lief. Ihre Schreie lieen nicht nach, als die Dunkelheit sie schluckte, sie schienen nur kreuz und quer bers Spielfeld hin widerzuhallen, unfhig, aus dem abgesperrten Raum hinauszufinden. Redman betrat den Vorhof und stieg ber die vom Feuer heimgesuchte Leiche der Leverthal. Ringsum brannte das Stroh, und das Feuer kroch auf die Stalltr zu. Gegen den beienden Rauch verengte er seine Augen zu Schtzen und schob sich geduckt ins Innere. Ucey lag so da wie schon die ganze Zeit ber: mit dem Rcken zur Tr. Redman drehte den Jungen um. Er war am Leben. Er war wach. Sein Gesicht, gedunsen vor Trnen und Entsetzen, blickte Redman vom Strohlager aus an, mit Augen, so weit aufgerissen, da man den Eindruck hatte, sie wrden im nchsten Moment aus dem Kopf springen. Steh auf! sagte Redman und beugte sich ber den Jungen. Der kleine Krper war starr, und Redman blieb nichts anderes brig, als ihm die Glieder auseinanderzudrcken. Behutsam, mit leisen, frsorglichen Worten, berredete er den Jungen aufzustehen, da der Rauch begann, ins Schweinehaus herein- zuwirbeln. Komm, 's alles gut. Komm schon! Redman stand aufrecht da, und irgend etwas streifte sein Haar. Er sprte das Trpfeln von Wrmern auf sein Gesicht, blickte nach oben und - sah Henessey, oder was von ihm brig war, noch immer am Querbalken des Schweinehauses hngen. Seine Gesichtszge waren unkenntlich, eingeschwrzt zu einer absackenden Pampe. Sein Krper war an der Hfte zerfetzt, schartig abgenagt, seine Eingeweide hingen aus dem aasigen Rumpf und baumelten in wurmigen Schlingen vor Redmans Gesicht. Wre der dicke Qualm nicht gewesen, der Gestank des Leich- nams htte ihn umgehauen. So aber war Redman nur zutiefst angeekelt, und der heftige Widerwille verlieh seinem Arm Strke. Er zerrte Lacey aus dem Schatten des Krpers und schob ihn durch die Tr. Drauen loderte das Stroh nicht mehr ganz so grell, aber nach der Dunkelheit des Innenraums blendete ihn der Schein der Feuersglut, der Kerzen und des brennenden Krpers. Komm schon, Junge! drngte er und hob den Kleinen ber die Flammen. Knopfglanz, Irrsinnsglanz sprhten die Knaben- augen. Vergeblichkeit sprach aus ihnen. Sie durchquerten den Stall bis zum Tor, sprangen ber die Leiche der Leverthal und tauchten ein ins Dunkel des freien Gelndes. Mit jedem Schritt, den sie sich von der Farm entfernten, schien der Junge aus dem Zustand der Heimsuchung herauszufinden, Schon war der Stall hinter ihnen nur lodernde Erinnerung. Vor ihnen breitete sich die Nacht aus, so still und undurchdringlich wie immer. Redman versuchte, nicht an das Schwein zu denken. Es mute tot sein inzwischen, ganz bestimmt. Aber whrend sie rannten, schien ein Gerusch durch die Erde zu dringen, als ob etwas Riesiges Schritt hielte mit ihnen, bereit, einen gewissen Abstand zu halten, vorsichtig diesmal aber ihnen unerbittlich auf den Fersen. Er zerrte Lacey am Arm und lief weiter, der Boden unter ihren Fen war sonnengedrrt, Lacey wimmerte jetzt, immer noch keine Worte, aber zumindest ein Laut. Das war ein gutes Zeichen, ein Zeichen, das Redman dringend brauchte. Sein Bedarf an Irrsinn war ziemlich gedeckt. Ohne einen Zwischenfall erreichten sie das Gebude, Die Flure waren so leer wie bei Redmans Weggehen vor einer Stunde. Vielleicht hatte noch niemand Slapes Leiche gefunden. Durch- aus mglich. Keiner der Jungen schien zu einer Unterhaltung aufgelegt gewesen zu sein. Vielleicht waren sie schweigend zu ihren Schlafrumen gehuscht, um nach dem Gottesdienst aus- zuschlafen. Es war Zeit, ans nchste Telefon zu gehn und die Polizei zu rufen. Mann und Junge schritten Hand in Hand den Gang zum Bro des Direktors hinunter. Lacey war wieder still geworden, aber sein Gesichtsausdruck war nicht mehr so manisch; er wirkte eher so, als stehe ein reinigender Trnenausbruch bevor. Er schniefte, rusperte sich. Er hielt Redmans Hand fest, lockerte aber seinen Griff. Die Halle lag im Dunkel. Jemand hatte kurz vorher die Glh- birne zerschlagen. Die berreste schaukelten noch im schwa- chen Schein, der vom Fenster her durchsickerte, am Kabel. Komm! Hier gibt's nichts zu frchten. Komm schon, Junge! Lacey beugte sich ber Redmans Hand und bi ihn ins Fleisch. Der Trick erfolgte so schnell, da er den Jungen loslie, noch ehe er anders reagieren konnte, und Lacey nahm die Beine unter den Arm und flitzte davon, den Korridor hinunter, der von der Halle wegfhrte. Macht nichts. Er kann nicht weit kommen. Dies eine Mal war Redman froh, da der Ort Mauern und Gitter hatte. Redman ging durch die in Dunkel gehllte Halle zum Sekreta- riat. Nichts rhrte sich. Wer immer die Glhbirne zerbrochen hatte, blieb mucksmuschenstill. Das Telefon hatte man auch zertrmmert. Nicht blo zerbro- chen, sondern in tausend Stcke zerschlagen. Redman machte kehrt und lief zum Bro des Direktors. Das hatte auch Telefon; von Vandalen lie er sich nicht aufhalten. Die Tr war natrlich verschlossen, aber darauf war Redman vorbereitet. Er zertrmmerte das Mattglas des Trfensters mit dem Ellbogen und langte nach innen. Kein Schlssel steckte. Dreckszeug, elendes, dachte er und setzte die Schulter gegen die Tr. Sie war aus robustem Hartholz, und das Schlo war solide. Seine Schulter schmerzte, und die Wunde an seinem Bauch ging wieder auf, als das Schlo nachgab und er den Raum betreten konnte. ber den Boden war Stroh gestreut. Im Vergleich zum Geruch hier drinnen war der Schweinestall der reinste Blumenladen. Der Direktor lag hinter seinem Schreibtisch, sein Herz war herausgefressen. Das Schwein, sagte Redman. Das Schwein. Das Schwein.t Das Schwein noch auf den Lippen, langte er nach dem Hrer. Ein Laut. Redman drehte sich um und bekam den Schlag voll ins Gesicht. Er brach ihm das Jochbein und die Nase. Der Raum zersprang zu Flecken, kippte dann ins Weie um. Die Halle war nicht mehr dunkel. Kerzen brannten, Hunderte, so schien es, an allen Ecken, an allen Enden. Aber dann drehte sich alles in seinem Kopf, die Gehirnerschtterung trbte seine Sehkraft. Es htte genausogut eine einzige Kerze sein knnen, von Sinnen vervielfacht, deren Wahrnehmungstreue zweifel- haft geworden war. Er stand in der Mitte der Halle und begriff nicht so recht, wieso er stehen konnte, denn die Beine unter ihm fhlten sich taub an und unbrauchbar. Am Grenzrand seiner Vision, jenseits des Kerzenlichts, konnte er Leute reden hren. Nein, nicht wirk- lich reden: Es waren strenggenommen keine Worte. Es waren Abrakadabra-Laute, hervorgebracht von Leuten, die mgli- cherweise zugegen waren - oder auch nicht. Dann hrte er das Grunzen, das schwache, asthmatische Grun- zen der Sau, und geradewegs vor ihm tauchte sie aus dem verschwimmenden Licht der Kerzen auf. Sie war keine strah- lende Schnheit mehr. Ihre Flanken waren verkohlt, ihre Perlaugen verdorrt, ihr Rssel irgendwie entstellend ver- krmmt. Sie humpelte sehr langsam auf ihn zu, und sehr langsam war die Gestalt zu erkennen, die rittlings auf ihr sa. Es war natrlich Tommy Lacey, nackt wie am Tag seiner Geburt, sein Krper war so rosafarben und so unbehaart wie der eines Schweins aus ihrem Wurf, sein Gesicht genauso unbeleckt von menschlichem Empfinden. Seine Augen waren jetzt ihre Augen, als er die groe Sau an ihren Ohren lenkte. Und das Gerusch, das die Sau machte, das trensige Geknirsch und Gehechel, kam nicht aus dem Schweinemund, sondern aus seinem. Sein war die Schweinestimme. Redman sagte leise seinen Namen. Nicht Lacey, sondern Tommy. Der Junge schien nicht zu hren. Da erst, als die Sau und ihr Reiter nherkamen, registrierte Redman, warum er nicht vornber aufs Gesicht fiel. Er hatte einen Strick um den Hals. Und gerade als er den Gedanken dachte, straffte sich die Schlinge, und er wurde vom Boden weg gewaltsam in die Luft gezogen. Kein Schmerz, sondern ein frchterliches Grauen, schlimmer, um vieles schlimmer als der Schmerz, tat sich auf in ihm, ein abgrndiger Schlund des Verlusts und der Reue, und alles, was er war, versank, verschwand darin. Unter ihm waren die Sau und der Junge zum Stehen gekom- men, unter dem hadernden Gerangel seiner Fe. Der noch immer grunzende Junge war vom Schwein heruntergeklettert und kauerte sich jetzt neben das Vieh hin. Durch die dmmrige Luft konnte Redman die Wirbelsulenkurve des Jungen sehen, die makellose Haut seines Rckens. Er sah auch das verknotete Seil mit dem ausgefransten Ende, das zwischen seinen blassen Hinterbacken herausragte. In jeder Hinsicht ein Schweine- schwanzersatz. Die Sau hob den Kopf, obwohl ihren Augen das Sehen fr immer vergangen war. Es tat ihm wohl, sich auszumalen, da sie litt und von jetzt ab leiden wrde, bis sie strbe. Es reichte fast, sich das vor Augen zu halten. Dann ffnete sich das Maul der Sau, und sie sprach. Er war sich nicht sicher, wie die Worte da herauskamen, aber sie kamen heraus. Die Stimme des Jungen, beschwingtes Vibrato. Dies ist das Los des Getiers, sagte sie, Fressen und Gefres- senwerden. Dann lchelte die Sau, und Redman versprte, obwohl er sich fr fhllos-betubt gehalten hatte, den ersten Schmerzschock; Laceys Zhne bissen ihm ein Stck vom Fu ab; und schnau- bend klomm der Junge den Leib seines Retters hinauf, um das Leben aus ihm herauszukssen. Diane fuhr mit ihren parfmierten Fingern durch die rtlich- gelben, zwei Tage alten Stoppeln auf Terrys Kinn. Ich lieb' sie, sagte sie. Auch die paar grauen drunter. Sie liebte alles an ihm, von ihm, oder zumindest behauptete sie das. Wenn er sie kte: Das lieb' ich. Wenn er sie auszog: Das lieb' ich. Wenn er seinen Slip runterlie: Das lieb' ich, lieb' ich, lieb' ich. Mit dem Mund machte sie's ihm immer so rckhaltlos hinge- bungsvoll, da er nur noch dem Auf- und Abschnellen ihres blonden Scheitels vor seinem Becken zusehen und zu Gott beten konnte, es mge niemand zufllig in die Garderobe kommen. Sie war schlielich eine verheiratete Frau, wenn auch eine Schauspielerin. Er hatte selbst eine Gattin, irgendwo. Fr eines der lokalen Schmierbltter gbe solch ein Tete--tete ein gefundenes Fressen ab, wo er sich hier doch einen Ruf als emstzunehmender Regisseur aufbauen wollte; keine billigen Mtzchen, kein Klatsch, pure Kunst. Wenn sie dann aber seine Nervenenden zum Rotieren brachte, zerschmolzen selbst die ehrgeizigsten Gedanken wieder auf ihrer Zunge. Eine groe schauspielerische Begabung war sie nicht, aber ihre Technik war bei Gott wirklich beachtlich. Fehlerfreie Bewegungen, makelloses Timing: Sie wute ein- fach, sei es rein instinktiv oder durch hufiges Rollenstudium, wann es an der Zeit war, den Rhythmus zu beschleunigen und die ganze Szene zu einem befriedigenden Abschlu zu bringen. Wenn sie es endlich geschafft hatte, auch noch den allerletzten Tropfen aus dem Moment herauszuholen, war er drauf und dran zu applaudieren. Das ganze Ensemble der Calloway-Inszenierung von Was ihr wollt wute selbstverstndlich von der Affre. Gelegentlich fielen giftige Bemerkungen, wenn Schauspielerin und Regis- seur gemeinsam zu spt zur Probe kamen, oder wenn sie, augenscheinlich noch randvoll von ihm, aufkreuzte und er errtete. Er versuchte, sie dazu zu bewegen, diesen genlich satten Naschkatzenausdruck, den ihr Gesicht dann regelmig annahm, unter Kontrolle zu halten, aber so viel Verstellung brachte sie einfach nicht zustande, was in Anbetracht ihres Berufs recht kstlich war. Aber schlielich brauchte La Duvall, wie Edward sie hartnckig zu nennen beliebte, kein groes Talent zu sein: Sie war berhmt. Was machte es schon, wenn sie Shakespeare so sprach, als wre es Hiawatha, dam di dam di dam di dam? Was machte es schon, wenn ihr psychologisches Einfhlungsver- mgen fragwrdig, ihre Logik fehlerhaft, ihre gestalterische Umsetzung unzureichend waren? Was machte es schon, wenn sie von Poesie soviel Ahnung hatte wie vom Kuhmelken? Sie war ein Star, und das war gleichbedeutend mit Geschft. Das konnte ihr keiner nehmen: Ihr Name war bares Geld. Das Elysium-Theater kndigte ihren Ruhm mit vierundzwanzig Cicero groer Antiqua halbfett, schwarz auf gelb an. DIANE DUVALL: DER STAR VON DAS KIND DER LIEBE. Das Kind der Liebe. Mglicherweise die belste Soap opera, die man in der Geschichte dieses Genres auf die Bildschirme der Nation losgelassen hatte; zwei geschlagene Stunden die Woche voll Charakterschablonen und geistttendem Dialog, was unter anderem zur Folge hatte, da sie stndig hohe Einschaltquoten erzielte und ihre Darsteller fast ber Nacht zu strahlenden Stars am Talmihimmel des Fernsehens wurden. Dort erglnzte heller als alle anderen Diane Duvall. Womglich war sie nicht fr die Klassikerrollen geboren, aber, Mannomann, ein Kassenschlager war sie. Und bei den ausge- storbenen Theatern heutzutage war einzig und allein die Zahl der verkauften Sitzpltze ausschlaggebend. Calloway hatte sich mit der Tatsache abgefunden, da dies keine Modellinszenierung von Was ihr wollt werden wrde, aber wenn sie erfolgreich wre-und mit Diane in der Rolle der Viola hatte sie dazu die besten Chancen -, knnte sie ihm ein paar Tren im West End auf tun. Auerdem, die Arbeit mit der allzeit hingebend liebenden, allzeit den ganzen Mann fordernden Miss Duvall entschdigte fr einiges. Calloway zog seine Sergehose rauf und sah zu ihr runter. Sie bedachte ihn mit diesem ihr eigenen gewinnenden Lcheln, das sie auch in der Brief szene verwendete. Ausdruck Nummer fnf in der Duvall-Skala, irgendwo zwischen jungfrulich und mtterlich. Er erwiderte das Lcheln mit einer Variante aus eigenen Bestn- den, einem bescheidenen, liebevollen Blick, der auf einen Meter Abstand als echt gelten konnte. Dann sah er auf seine Uhr. Gott, wir sind spt dran, Schtzchen. Sie leckte sich die Lippen. Mochte sie den Geschmack wirklich so gern? Ich rieht' mir besser die Haare, sagte sie beim Aufstehen und schaute in den langen Spiegel neben der Dusche. Ja. Bist du okay? Knnt' nicht besser sein, antwortete er. Er kte sie leicht auf die Nase und berlie sie ihrer Toupiererei. Auf dem Weg zur Bhne schlpfte er schnell in die Herrengar- derobe, um seine Kleidung in Ordnung zu bringen und seine brennenden Wangen mit kaltem Wasser abzukhlen. Sex rief bei ihm auf Gesicht und Halsansatz stets verrterische Flecken oder Streifen hervor. Whrend er sich vorbeugte, um sich mit Wasser zu bespritzen, musterte Calloway seine Gesichtszge kritisch im Spiegel ber dem Becken. Nachdem er die Spuren des Alters sechsunddreiig Jahre unter Kontrolle gehalten hatte, fing er an, mehr oder minder so alt auszusehen, wie er war, keineswegs mehr wie ein taufrischer Jngling. Unleug- bar: leichte Scke unter den Augen, die hatten nichts mit Schlaflosigkeit zu tun, und Falten auch, auf der Stirn und uns den Mund. Der Wunderkind-Glamour war endgltig ab; seine heimlichen Ausschweifungen standen ihm mitten ins Gesicht geschrieben. Das berma an Sex, Alkohol und Ambitionen, die Frustration des so oft anvisierten und dann ums Haar verfehlten Durchbruchs. Wie she ich heute wohl aus, dachte er bitter, wenn es mir gereicht htte, als so ein lahmarschiger Niemand an einem kleineren Repertoiretheater zu arbeiten, mit einer garantierten Besucherquote von zehn glhenden Anhngern pro Abend und Brecht als Lebensaufgabe? Wahr- scheinlich hart' ich ein Gesicht glatt wie ein Babyarsch, die meisten Typen vom sozial engagierten Theater sahen so aus. Doof und zufrieden, arme Rindviecher. Mu eben wissen, was man will. Hat alles seinen Preis, sagte er sich. Er warf einen letzten Blick auf den abgetakelten Cherub im Spiegel, sah dort, da er, Krhenfe hin oder her, auf Frauen noch immer unwiderstehlich wirkte, und ging raus, um sich den Prfungen und Pressionen des dritten Aktes auszu- setzen. Auf der Bhne war eine hitzige Debatte im Gang. Der Bhnen- meister, Jack mit Namen, hatte zwei Hecken fr Olivias Garten gebaut. Sie muten noch mit Blttern verkleidet werden, aber sie sahen recht eindrucksvoll aus und endeten in der Bh- nentiefe am Rundhorizont; der restliche Garten sollte auf diesen aufgemalt werden. Das war nichts in dieser symboli- schen Machart. Ein Garten war ein Garten: grnes Gras, blauer Himmel. Die passende Lsung fr das Publikum aus Birmingham Nord, und Terry hatte einiges brig fr dessen unbedarften Geschmack. Terry, mein Guter! Eddie Cunningham griff ihn sich an Hand und Ellbogen und geleitete ihn ins Kampfgetmmel. Wo liegt das Problem? Terry, mein Guter, diese beschissenen (es schlpfte ihm ber die Lippen: beschis-senen) Hecken knnen nicht dein Ernst sein! Sag Onkel Eddie, da es nicht dein Ernst ist, bevor er durchdreht. Eddie deutete auf die beleidigenden Hecken. Schau dir das doch blo an! Whrend er sprach, durch- sprhte eine dnne Speichelfahne die Luft. Wo liegt das Problem? fragte Terry wieder. Das Problem? Da ist kein Durchgang, mein Guter, kein Durchgang. Denk doch mal nach! Wir haben die ganze Szene geprobt, und ich bin dabei wie ein verrcktes Huhn vor- und wieder zurckgefetzt. Rechts vor, links zurck - aber das Idappt nicht, wenn ich hinten keinen Durchgang habe. Schau doch hin! Dieses beschissene Zeug schliet nahtlos mit dem Hintergrund ab. Aber das mu es auch, wegen der Illusion, Eddie. Aber ich komme hinten nicht rum, Terry. Kapier das dochlt Er wandte sich an die paar anderen auf der Bhne: die Schrei- ner, zwei Techniker, drei Schauspieler. Die Zeit reicht einfach nicht - das mein' ich. Dann machen wir eben den Durchgang wieder auf, Eddie. Ach. Das nahm ihm den Wind aus den Segeln. Ja? Hm. Ist doch wohl das Einfachste, oder? Ja... ich wollte blo... Wei ich doch. Na schn. Geht auch nicht anders. Und was ist mit dem Krocket? Das streichen wir gleichfalls. Diese ganze Pantomime mit den Krocketschlgern ? Das eroti- sche Zeugs ? Mu alles raus. Tut mir leid, hab' das nicht grndlich durch- dacht. Mir ist da einiges entgangen. Eddie fuhr heftig herum. Aber mein Guter, wenn du ber- haupt was tust, dann dir nichts entgehen lassen.. .* Gekicher. Terry hrte darber weg. Eddie hatte einen wirklich berechtigten Einwand vorgebracht; er hatte es versumt, sich mit den Problemen der Heckenkonstruktion zu befassen. Tut mir echt leid um die ganze Pantomime; gibt aber keine Mglichkeit, wie wir sie noch passend einbauen knnten. Bei jemand anderem machst du bestimmt keine solchen Abstriche, sagte Eddie. ber Calloways Schulter warf er einen Blick auf Diane und rannte dann los Richtung Garderobe. Wutentbrannter Schauspieler, Abgang linke Bhnenseite. Cal- toway machte keinen Versuch, ihn aufzuhalten. Ihm sein Abtreten zu verpatzen htte die Situation betrchtlich ver- schlimmert. Er seufzte nur leise: Mannomann, und fuhr sich mit der gespreizten Hand bers Gesicht. Das war das Grundbel seines Berufs: die Schauspieler. Holt ihn jemand zurck? fragte er. Schweigen. Wo ist Ryan? ber der beleidigenden Hecke tauchte das bebrillte Gesicht des Inspizienten auf. Bitte? Ryan, mein Guter - bringst du Eddie bitte 'ne Tasse Kaffee und lotst ihn in den Scho der Familie zurck? Ryan zog ein Gesicht, das besagte: Du hast ihn beleidigt, also hol ihn dir selber! Aber Calloway hatte schon raus, wie man diese Art Verantwortung abschiebt: Er war lngst Meister darin. Er starrte Ryan einfach an und machte es ihm schwer, seiner Bitte zu widersprechen, bis der andere die Augen senkte und seine Einwilligung nickte. Klar, sagte er mrrisch. Guter Junge. Ryan warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und verschwand auf der Jagd nach Ed Cunningham. Keine Show ohne Junker Rlp, sagte Calloway und ver- suchte, die Stimmung etwas anzuheizen. Jemand brummte, und der kleine Zuschauerhalbkreis begann sich aufzulsen. Die Show war vorbei. Okay, okay, sagte Calloway und rappelte sich auf. Packen wir's an. Wir gehn durch ab Szenenanfang. Diane, bist du soweit? Ja. Okay. Knnen wir? Er wandte sich ab von Olivias Garten und den wartenden Schauspielern, einfach um seine Gedanken zu sammeln. Auf der Bhne war nur die Arbeitsbeleuchtung an, das Auditorium lag im Dunkeln. Unverschmt ghnte es ihn an, Reihe auf Reihe leere Sitze, die sich strikt widersetzten, von ihm unter- halten zu werden. Jaja, die Einsamkeit des Langstrecken- Regisseurs. Es gab Tage in diesem Geschft, da schien der Gedanke an ein Leben als Buchhalter ein Ziel, aufs innigste zu wnschen, um mit dem Prinzen von Dnemark zu reden. Auf der Galerie des Elysium bewegte sich jemand. Calloway schaute auf aus seinen Zweifeln und starrte durch die schwrz- liche Luft. Hatte Eddie jetzt seine Zelte dort oben in der allerletzten Reihe aufgeschlagen? Ach wo, ausgeschlossen. Schon allein deswegen, weil er nie die Zeit gehabt htte, den ganzen Weg bis da rauf zu schaffen. Eddie? rief Calloway auf gut Glck und beschirmte die Augen mit der Hand. Bist du das? Er konnte die Gestalt nur vage ausmachen. Nein, nicht eine Gestalt, Gestalten. Zwei Personen schoben sich durch die hinterste Reihe und hielten auf den Ausgang zu. Egal, wer es war, Eddie war's bestimmt nicht. Eddie ist tfes nicht, oder? sagte Calloway und drehte sich wieder zur Gartenattrappe um. Nein, antwortete jemand. Es war Eddies Stimme. Er war wieder auf der Bhne, lehnte ber eine der Hecken, eine Zigarette zwischen den Lippen. Eddie... Schon gut, sagte der Schauspieler aufgerumt. Fang blo nicht an zu kriechen. Mir absolut zuwider, 'nen feinen Typen kriechen zu sehn. Mal schaun, ob wir die Krocketschlger-Pantomime irgendwo reinzwicken knnen, sagte Calloway, dem viel an einer ver- shnlichen Geste lag. Eddie schttelte den Kopf und schnippte die Asche von seiner Zigarette. Braucht's nicht. Ehrlich... Hat sowieso nicht besonders gut funktioniert. Die Tr zur Galerie quietschte ein bichen, als sie sich hinter den Besuchern schlo. Calloway drehte sich gar nicht erst um. Sie waren fort, egal, wer es war. Da war jemand im Haus heut nachmittag. Hammersmith schaute von den zahlenbersten Blttern auf, ber denen er brtete. Ach was? Seine Augenbrauen waren Fontnen aus drahtdik- kem Haar, dessen Ambitionen ber ihr eigentliches Geschft hinauszugehen schienen. In offenkundig vorgetuschter ber- raschung waren sie weit ber Hammersmiths winzige Augen hinaufgezogen. Er zupfte an seiner Unterlippe, 'ne Ahnung, wer's gewesen sein knnte? Hammersmith zupfte weiter und starrte den Jngeren von unten her an, im Gesicht unverhohlene Verachtung. Ist das fr Sie so gravierend? Ich will einfach wissen, wer bei der Probe zugesehen hat, das ist alles. Ich hab' wohl ein Recht drauf, danach zu fragen. Ein Recht, sagte Hammersmith, nickte leicht und verzog seine Lippen zu einem blassen Bogen. Hat geheien, da jemand vom Nationaltheater kommt, sagte Calloway. Meine Agenten haben was vereinbart. Ich will einfach nicht, da jemand reinschaut, ohne da ich davon wei. Besonders, wenn's wichtige Leute sind. Hammersmith war schon wieder in seine Zahlen vertieft. Seine Stimme klang mde, Terry, wenn jemand von der Natio- nalbank auftaucht, um Ihr Kunstwerk zu besichtigen, sind Sie der erste, der's erfhrt, das versprech' ich Ihnen, okay? Saugrober, hundsgemeiner Tonfall. Klartext: Verpi dich, Bubi. Calloway htte ihm liebend gern eine reingehauen. Bei den Proben will ich keine Zuschauer, auer ich Hab'8 ausdrcklich genehmigt, Hammersmith. Verstanden ? Und ich will wissen, wer das heute war. Der Geschftsfhrer seufzte schwer. Glauben Sie mir, Terry, sagte er, ich wei es selber nicht. Vielleicht fragen Sie Tallulah - sie war heut nachmittag im Vordertrakt. Anzunehmen, da sie's gesehn hat, falls jemand reingekommen ist. Er seufzte nochmals. Okay... Terry? Calloway belie es dabei. Er traute Hammersmith nicht ber den Weg. Dem Mann war das Theater letztlich scheiegal, und er versumte keine Gelegenheit, dies unmiverstndlich klar- zumachen. Jedesmal, wenn von irgendwas anderem als Geld die Rede war, verfiel er ostentativ in einen genervten Ton der Ungeduld, als wren sthetische Belange seiner Beachtung nicht wrdig. Und er hatte nur eine, brigens penetrant verabfolgte, Bezeichnung fr Schauspieler und Regisseure: Schmetterlinge, Eintagswunder. In Hammersmiths Welt war nur Geld von Bestand, und das Elysium-Theater stand auf erstklassigem Grund und Boden, aus dem ein kluger Kopf einen ordentlichen Profit rausschlagen konnte, wenn er seine Trmpfe richtig ausspielte. Schon morgen wrde er den Platz verscherbeln, wenn ert deichseln knnte, da war sich Calloway sicher. Eine Trabanten- stadt wie Redditch brauchte angesichts der Wachstumsrate von Birmingham keine Theater, sie brauchte Brobauten, Einkaufs- Zentren, Warenlager: sie brauchte, um die Stadtrte zu zitie- ren, Wachstum durch Investition in neue Industriezweige. Sie brauchte auch erstklassiges Baugelnde zur Errichtung dieser Industrieanlagen. Eine blo auf sich gestellte Kunst konnte eine solche Zweck-und-Nutzen-Haltung nicht berleben. Tallulah war nicht in der Pfrtnerloge, ebensowenig im Foyer, und im Aufenthaltsraum auch nicht. Durch Hammersmiths Kaltschnuzigkeit ebenso verrgert wie durch Tallulahs Verschwinden, ging Calloway in den Zuschau- erraum zurck, um dort seine Jacke aufzulesen und sich dann vollaufen zu lassen. Die Probe war vorbei, und die Schauspieler waren lngst fort. Von der hintersten Reihe im Parkett aus wirkten die kahlen Hecken etwas klein. Womglich brauchten sie noch zehn, zwanzig Zentimeter mehr. Auf der Rckseite eines Programmzettels, den er in seiner Tasche fand, machte er sich eine Notiz: Hecken evtl. grer? Das Gerusch von Tritten lie ihn aufblicken: Eine Gestalt war auf der Bhne erschienen. Aalglatter Auftritt, Bhnenhinter- grund Mitte, wo die Hecken zusammenliefen. Calloway kannte den Mann nicht. Mr. Calloway? Mr. Terence Calloway? Ja? Der Besucher schritt auf der Bhne nach vorn bis dorthin, wo in frheren Zeiten die Rampenlichter gewesen sein muten; stand da und schaute in den Zuschauerraum. Bedaure aufrichtig, Sie in Ihrem Gedankengang gestrt zu haben. Macht nichts. Nur auf ein Wort. Mit mir? Wenn's Ihnen recht ist. Calloway schlenderte durchs Parkett ganz nach vom und taxierte dabei den Fremden. Seine Bekleidung war von Kopf bis Fu in Grautnen gehalten. Ein grauer Kammgarnanzug, graue Schuhe, graue Krawatte. Kotzvoll elegant, lautete Calloways erstes, schonungsloses Resmee. Aber der Mann gab nichtsdestoweniger eine ein- drucksvolle Figur ab. Es war schwierig, sein Gesicht im Schat- ten der Hutkrempe genauer auszumachen. Gestatten Sie, da ich mich vorstelle. Seine Stimme klang berzeugend, kultiviert. Ideal fr Werbe- spots: Seifenreklame womglich. Im Gegensatz zu Hammer- smiths schlechten Manieren entfaltete die Stimme den ange- nehmen Hauch feiner Lebensart. Mein Name ist Lieh Held. Ich erwarte freilich nicht, da das einem Mann in Ihrem zarten Alter viel sagt. Zartes Alter: Sieh mal an! Womglich war noch was vom Wunderkind in seinem Gesicht. Sind Sie Kritiker? wollte Calloway wissen. Das Lachen, das unter der makellos ausgebrsteten Hutkrempe hervordrang, war durchtrnkt von Ironie. Um Himmels willen, nein, antwortete Lichfield. Tut mir leid, aber dann bringen Sie mich tatschlich in Verlegenheit. Kein Grund zur Entschuldigung. Waren Sie heut nachmittag im Haus? Lichfield berhrte die Frage. Mir ist klar, Sie sind ein vielbeschftigter Mann, Mr. Calloway, und ich will Ihnen nicht Ihre Zeit stehlen. Das Theater ist mein Aufgabenbereich genau wie der Ihre. Ich finde, wir sollten einander ab Verbn- dete betrachten, auch wenn wir uns noch nie begegnet sind. Aha, die groe Verbrderung. Die altvertrauten Gefhlsan- spriiche; schon war Calloway so weit, da er am liebsten ausgespuckt htte. Er brauchte nur an die Zahl sogenannter Verbndeter zu denken, die ihm putzmunter in den Rcken gefallen waren, und umgekehrt an die Bhnenautoren, deren Werk er freundlich lchelnd in den Dreck gezogen hatte, und an die Schauspieler, die er mit einer beilufigen Witzelei zer- quetscht hatte. Die Verbrderung konnte ihn mal. Du ber meine Leiche, ich ber deine, so war das wie in jedem berlau- fenen Beruf sonst auch. Ich habe, sagte Lichfield jetzt, ein bleibendes Interesse am Elysium. Mit einer sonderbaren Hervorhebung des Wortes >bleibend<. Es kam unzweideutig begrbnishaft von Lichfields Lippen: Bleib du bei mir. Ach was? Ja, ich habe all die Jahre hindurch viele glckliche Stunden in diesem Theater verbracht, und es schmerzt mich, offen gestan- den, die unangenehme Nachricht zu berbringen. Was fr eine Nachricht? Mr. Calloway, ich mu Sie davon in Kenntnis setzen, da Ihre >Was-ihr-woIlt<-Inszenierung die letzte Produktion ist, die das Elysium erleben wird. Diese Behauptung kam gar nicht so berraschend, aber sie tat trotzdem weh, und das innerliche Zusammenzucken mute sich auf Calloways Gesicht abgezeichnet haben. Ach... dann haben Sie es also nicht gewut. Dacht' ich mir. Sie halten die Knstler immer in Unwissenheit, nicht? Das ist eine Genugtuung, auf die die apollinischen Vernnftlinge wohl nie verzichten werden. Die Rache des Buchhalters. Hammersmith, sagte Calloway. Hammersmith. Dreckskerl. Seinesgleichen darf man niemals trauen, aber das brauche ich Ihnen wohl kaum zu sagen. Sind Sie sich mit der Schlieung ganz sicher? Asolut, Noch morgen wrde er sie durchziehn, wenn er knnte. Aber warum eigentlich? Ich hab' Stoppard hier gemacht, Tennessee Williams - immer vor gut besetzten Husern gespielt. Es ergibt keinen Sinn. Finanziell ergibt es einen bewundernswrdigen Sinn, frchte ich, und wenn man in Zahlen denkt wie Hammersmith, dann ist gegen simple Rechnerei kein Kraut gewachsen. Das Elysium wird alt. Wir alle werden alt. Wir knarzen. Wir spren unser Alter in den Gelenken: Unwillkrlich treibt es uns, uns nieder- zulegen und fr immer dahinzugehen. Dahinzugehen: Die Stimme wurde melodramatisch leiser, ein sehnsuchtsvolles Geflster. Wieso wissen Sie das alles? Ich war viele Jahre Vermgensverwalter des Theaters, und seit meinem Ausscheiden habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, die - wie sagt man wieder? - die Augen berall zu haben. Es ist schwierig heutzutage, all die Triumphe, die diese Bhne gesehen hat, heraufzubeschwren... Seine Stimme verlor sich in Trumerei. Es schien wahr zu sein, keine Effekthascherei. Dann noch einmal geschftsmig: Dies Theater steht unmit- telbar vor seinem Ableben. Sie werden bei den Sterberiten' zugegen sein, ohne da Sie persnlich Schuld trifft. Ich hatte das Gefhl, man drfe Sie nicht... unvorbereitet lassen. Bedanke mich. Ich wei das zu schtzen. Sagen Sie, waren Sie selber irgendwann mal Schauspieler? >Wie kommen Sie darauf? Wegen Ihrer Stimme. Pathetisch bis zum Gehtnichtmehr, ich wei. Mein wunder Punkt, frchte ich. Ich kann kaum eine Tasse Kaffee bestellen, ohne da es sich anhrt wie Lear im Sturm. Er lachte herzlich, auf seine Kosten. Der Bursche wurde Callo- way langsam sympathisch. Womglich sah er ein wenig ange- staubt aus, vielleicht sogar ein bichen lcherlich, aber sein Verhalten hatte etwas ungebrochen Radikales, das Calloways Einbildungskraft fesselte. Lichfield brauchte seine Liebe zum Theater nicht zu rechtfertigen, im Gegensatz zu so vielen in dieser Branche, die in Ermanglung eines Bessern notgedrungen auf den Brettern standen, ihre Seele aber dem Film verschrie- ben hatten. Ich habe, mu ich gestehen, ein wenig in der hohen Kunst herumgestmpert, vertraute ihm Lichfield an. Aber mir fehlt dazu einfach das Stehvermgen, frchte ich. Meine Frau hingegen... Frau? Calloway war berrascht: Lichfield hatte also tatschlich einen Funken Heterosexualitt im Leib. ... meine Frau Constantia hat hier bei einer Anzahl Okkasio- nen gespielt, und sehr erfolgreich, will ich meinen. Freilich vor dem Krieg. Jammerschade, den Platz zuzumachen. In der Tat. Aber hier wird kein Deus ex machina auftauchen, frchte ich. Innerhalb von sechs Wochen wird das Elysium ein Schutthaufen sein, und damit ist dann alles aus. Ich wollte Sie nur wissen lassen, da es andere, mit den kra kommerziellen gar nicht vergleichbare Interessen an dieser Abschiedsinszenie- rung gibt. Betrachten Sie uns als Schutzengel. Wir wnschen Ihnen nur Gutes, Terence... Eine echte, ohne Umschweife geuerte Gefhlsregung. Callo- way war von der Anteilnahme dieses Mannes gerhrt und auch ein bichen gedemtigt. Sie rckte seine eigenen Sprungbrett- ambitionen in ein wenig schmeichelhaftes Licht. Lichficld fuhr fort: Uns liegt daran, da dieses Theater seine Tage in angemessenem Stil beschliet und dann einen anstn- digen Tod stirbt. Elende Schande. Viel zu spt zur Reue. Wir htten Dionysos nie zugunsten Apollos aufgeben sollen. Was? Uns nie an die Buchhalter verkaufen sollen, an die Vertreter von Rechtmigkeit und Folgerichtigkeit, an solche wie Ham- mersmith, dessen Seele, wenn er eine hat, so gro sein mu wie mein Fingernagel und grau wie ein Lusercken. Wren wir doch, so meine ich, so mutig gewesen, wie man uns schildert: im Dienst der Dichtkunst unter den Sternen leben. Calloway konnte den Anspielungen nicht ganz folgen, aber er erfate die Grundtendenz und respektierte den Standpunkt. Von links hinter der Bhne her zerschnitt Dianes Stimme wie ein Plastikmesser die erhabene Atmosphre. Terry? Bist du hier? Der Bann war gebrochen. Erst als diese andere Stimme sich zwischen sie drngte, wurde sich Calloway bewut, wie hypno- tisch Uchfields Gegenwart gewesen war. Ihm zu lauschen gab einem das Gefhl, in wohlbekannten Armen gewiegt zu wer- den. Lichfield trat zum Rand der Bhne und senkte seine Stimme zu einem verschwrerischen Schnarren. Noch ein letztes, Terence... Ja? Ihre Viola. Sie verzeihen, wenn ich ausdrcklich darauf hin- weise, aber ihr fehlen die besonderen Qualitten, die fr diese Rolle erforderlich sind. Calloway lie sich Zeit. Ich wei߫, fuhr Lichfield fort, da in solchen Fllen persnli- che Loyalitt die Aufrichtigkeit verhindert. Nein, antwortete Calloway, Sie haben recht. Aber sie ist populr. Das war die Brenhatz auch, Terence. Ein strahlendes Lcheln breitete sich unter der Hutkrempe aus und hing in dem Schatten wie ein beknacktes Grinsen. Ich mache nur Spa߫, sagte Lichfield. Sein Schnarren war jetzt ein Glucksen. Bren haben ihre Reize. Ach, da bist du ja, Terry, Diane tauchte zwischen den Kussenhngern auf, zu aufwen- dig angezogen wie gewhnlich. Sicher stand eine peinliche Gegenberstellung bevor. Aber Lichfield schlenderte die fal- sche Perspektive der Hecken entlang zum Bhnenhintergrund davon. Hier bin ich, sagte Terry. Mit wem hast du gerade geredet? Lichfield war abgegangen, so aalglatt und leise, wie er eingetre- ten war. Diane hatte ihn nicht gesehen. War nur ein Engel, sagte Calloway. Die erste Kostmprobe war, wenn man alles in Betracht zog, nicht so schlecht, wie Calloway es befrchtet hatte: sie war noch tausendmal schlechter. Stichworthilfen gingen unter, Requisiten wurden verlegt, Auftritte verpat; die komischen Pantomimen wirkten an den Haaren herbeigezogen und schwerfallig, die Darstellung entweder hoffnungslos ber- frachtet oder oberflchlich. Dies war eine Was-ihr-wollt- Inszenierung, die sich ber ein ganzes Jahr hinzuziehen schien. Nach ungefhr der Hlfte des dritten Aktes schaute Calloway flchtig auf seine Uhr und stellte fest, da eine ungekrzte Auffhrung von Macbeth (samt Pause) jetzt bereits zu Ende gewesen wre. Er sa im Parkett, den Kopf in die Hnde vergraben, und dachte darber nach, wieviel Arbeit ihm noch bevorstand, wenn er diese Inszenierung halbwegs anstndig ber die Bretter brin- gen wollte. Auch bei dieser Produktion waren es die Beset- zungsprobleme, mit denen er wieder einmal aufgeschmissen war. Stichworthilfen konnte man fixieren, die Requisiten pro- ben, Auftritte so lang durchspielen, bis sie sich ins Gedchtnis eingeprgt hatten, aber ein schlechter Schauspieler bleibt ein schlechter Schauspieler bleibt ein schlechter Schauspieler. Bis zum Jngsten Tag knnte er mhevoll polieren und feilen, und trotzdem wrde unmglich ein Diamant aus so einem Kiesel- stein, wie die Duvall einer war. Mit der Geschicklichkeit eines Akrobaten brachte sie es zustande, jede Bedeutsamkeit zu unterlaufen, jede Gelegen- heit, das Publikum zu rhren, auer acht zu lassen, jede Nuance zu vermeiden, die der Autor fr sie vorgesehen hatte. Es war eine in ihrer Verfehltheit heroische Darstellung, die die subtile Charakterzeichnung, die Calloway zu entwickeln sich bemht hatte, zum Gewinsel auf nur einer Note zusammen- stutzte. Diese Viola war steriler Soap-opera-Papp, weniger menschlich als die Hecken und in etwa so grn. Die Kritiker wrden sie in der Luft zerreien. Schlimmer noch, Lichfield wrde enttuscht sein. Zu seiner betrchtlichen berraschung hatte der starke Eindruck von Lichfields Erscheinung sich nicht verringert; Calloway konnte dieses schauspielerhafte Sich-in-Szene-Setzen, diese poseur- hafte Gestik, diese rhetorische Suada nicht vergessen. Das hatte ihn tiefer berhrt, als er einzugestehen bereit war, und die Vorstellung, da sein Was ihr wollt mit dieser Viola den Schwanengesang des von Lichfield heigeliebten Elysiums abgeben sollte, beunruhigte und beschmte ihn. Es kam ihm irgendwie undankbar vor. Oft genug war er vor den Brden, die ein Regisseur zu tragen hat, gewarnt worden, lange bevor er noch ernsthaft in den Beruf hineingeschlittert war. Sein geschtzter, dahingeschiedener Guru am Actor'sCentre,Webeloved (jener mitdem Glasauge), hatte Calloway von Anfang an eingeschrft: Ein Regisseur ist die einsamste Kreatur auf Gottes Erdboden. Er wei, was gut und schlecht ist in einer Auffhrung, zumindest sollte er es, wenn er seinen Namen verdient, und er mu diese Kenntnis mit sich herumschleppen und zugleich Haltung bewahren nach auen. Das war ihm damals nicht so schwierig vorgekommen. In diesem Job geht's nicht um Erfolg, sagte Wellbeloved gern, es geht darum zu lernen, da man nicht auf die Schnauze fllt. Ein guter Rat, wie sich herausstellte. Er sah Wellbeloved noch vor sich,wie er diese Weisheit quasi auf dem Tablett servierte, sein Glatzkopf schimmerte, und sein echtes Auge glitzerte vor zynischem Entzcken. Niemand auf der Welt, so hatte Calloway damals gedacht, liebte das Theater leidenschaftlicher als Wellbe- loved, und bestimmt gab es keinen, der seine Anmaungen vernichtender kritisierte. Es war fast ein Uhr frh, bis sie endlich den erbrmlichen Probedurchlauf hinter sich und die kritischen Anmerkungen abgehakt hatten; vermotzt und aufeinander sauer gingen sie auseinander, in die Nacht hinaus. Calloway wollte heute keinen von ihnen zur Gesellschaft: kein sptes Gesaufe auf der einen oder ndern Bude, keine wechselseitige Ego-Massage. Er war vllig von einer melancholischen Stimmung umfangen, und weder Wein noch Weib noch Gesang wrden sie vertreiben. Er brachte es kaum ber sich, Diane in die Augen zu sehen. Die kritischen Bemerkungen ihr gegenber, die er vor dem brigen Ensemble ausposaunte, waren atzend gewesen. Freilich wr- den sie nicht viel nutzen. Im Foyer stie er auf Tallulah; sie war noch hellwach, obwohl die Bettgehzeit fr alte Damen lngst vorbei war. Schlieen Sie zu heut nacht? fragte er sie, mehr um blo was zu sagen, als da es ihn wirklich interessiert htte. Ich schliee immer zu, sagte sie. Sie war weit ber siebzig; zu alt fr ihren Job an der Theaterkasse, aber zu zh auf ihn fixiert, als da man sie leicht htte entlassen knnen. Aber schlielich war das jetzt alles rein theoretisch geworden, oder? Er htte gern gewut, wie sie reagieren wrde, wenn sie das von der Schlieung erfhre. Wahrscheinlich htte es ihr das zerbrechliche Herz abgedrckt. Hatte ihm nicht Hammersmith einmal erzhlt, da Tallulah schon als Mdchen, seit ihrem fnfzehnten Lebensjahr, hier am Theater war? Also, gute Nacht, Tallulah! Sie bedachte ihn wie immer mit einem winzigen Nicken. Dann streckte sie die Hand aus und fate ihn am Arm. Ja? Mr. Lichfield... fing sie an. Was ist mit Mr. Lichfield? Die Probe hat ihm nicht gefallen. War er heute nacht im Haus? Ja doch, antwortete sie, als wre Calloway ein Trottel, weil er das Gegenteil fr mglich hielt. Natrlich war er im Haus. Hab' ihn nicht gesehn. Weil... Ach nichts! Er war nicht sehr angetan. Calloway versuchte, gleichgltig zu wirken. Da kann man nichts machen. Ihre Inszenierung liegt ihm sehr am Herzen. Ich nehm's zur Kenntnis, sagte Calloway und wich Tallulahs vorwurfsvollen Blicken aus. Es gab - auch ohne das Genrgel ihrer enttuschten Stimme in seinen Ohren - wirklich genug, was ihn heute nacht nicht schlafen lassen wrde. Er lste seinen Arm und steuerte auf die Tr zu, Tallulah machte keinen Versuch, ihn aufzuhalten. Sie sagte nur: Sie htten Constantia sehen sollen. Constantia? Wo hatte er den Namen schon gehrt? Natrlich, Lichfields Frau. Sie war eine wunderbare Viola. Er war zu mde fr dieses Rumgeschmachte ber tote Schau- spielerinnen. Sie war doch tot, oder? Er hatte gesagt, sie ist tot, oder? Wunderbar, sagte Tallulah nochmals. Gute Nacht, Tallulah! Bis morgen! Die alte Schreckschraube antwortete nicht. Wenn sie wegen seiner brsken Tour beleidigt war - bitteschn! Er berlie sie ihrem Gemkle und trat auf die Strae hinaus. Es war Ende November und frostig khl. Kein Balsamduft in der Nachtluft, nur der Teergeruch einer frisch asphaltierten Strae und Sandpartikel im Wind. Calloway stellte den Jacken- kragen auf und eilte fort zu Murphys Garni, einer ziemlich fragwrdigen Zufluchtssttte. Im Foyer kehrte Tallulah der Klte und Dunkelheit da drauen den Rcken zu und schlurfte in den Tempel der Trume zurck. Er roch jetzt so todmde: muffig von Abnutzung und Alter wie ihr eigener Krper. Es war an der Zeit, den natrli- chen Prozessen ihren Tribut zu zollen; es hatte keinen Zwei, die Dinge ber die ihnen zugeteilte Lebensspanne hinausschie- ben zu lassen. Auf Gebude traf dies genauso zu wie auf Menschen. Aber das Elysium sollte so sterben, wie es gelebt hatte, in Glanz und Gloria. Ehrerbietig zog sie die roten Vorhnge zurck, die die Portrts in dem Gang bedeckten, der vom Foyer zum Parkett fhrte, Barrymore, Irving: groe Namen und groe Schauspieler, fleckige und verblate Bilder vielleicht, aber die Erinnerungen waren so klar und erfrischend wie Quellwasser. Und am Ehrenplatz, als letztes in der Reihe, ein Portrt von Constantia Lichfield. Ein Gesicht von berirdischer Schnheit; eine Figur und Gelenke, um einen Anatom in Trnen der Rhrung ausbrechen zu lassen. Freilich war sie fr Lichfield viel zu jung gewesen, und das hatte auch zu der ganzen Tragdie mit beigetragen. Lichfield der Svengali, ein Mann, doppelt so alt wie sie, war in der Lage gewesen, seiner strahlenden Schnen alles zu geben, was sie begehrte: Ruhm, Geld, Gesellschaft. Alles bis auf die Gabe, derer sie am meisten bedurfte: das Leben selbst. Sie starb, noch bevor sie zwanzig war, an Brustkrebs. So jh hinweggerafft, da es noch immer schwerfiel zu glauben, da sie dahin war. Tallulahs Augen fllten sich mit Trnen, als sie sich an dies verlorene und ungentzte Genie erinnerte. So vielen Rollen htte Constantia, wre sie verschont geblieben, Glanz verlie- hen: Cleopatra, Hedda, Rosalind, Elektra... Aber es sollte nicht sein. Sie war dahingeschieden, ausgelscht wie eine Kerze im Orkan, und fr die Hinterbliebenen wurde das Leben ein langsamer und freudloser Marsch durch ein kaltes Land. Manchmal morgens, wenn sich der neue Tagesan- bruch langsam regte, drehte sich Tallulah auf die andere Seite und betete darum, im Schlaf zu sterben. Die Trnen blendeten sie jetzt vllig, ihr Gesicht war klitsch- na. Und, mein Gott, da stand jemand hinter ihr, wahrschein- lich Mr. Calloway, der noch irgendwas wollte - und sie hier, beinah aufgelst vor Schluchzen, benahm sich wie die dmliche Alte, fr die er sie, wie sie gut wute, hielt. Was verstand ein junger Mann wie er von der Qual der Jahre, vom tiefen Schmerz unwiederbringlichen Verlustes? Dies wrde noch eine Weile auf sich warten lassen. Nicht so lang, als er dachte, aber trotzdem noch eine Weile. Tallie, sagte jemand. Sie wute, wer es war. Richard Waiden Lichfield. Sie drehte sich um, und er stand keine zwei Meter von ihr entfernt, nach wie vor die vornehme Erscheinung eines Mannes, wie sie ihn seit je in Erinnerung hatte. Er mute zwanzig Jahre lter sein als sie, schien aber vom Alter ungebeugt. Sie schmte sich wegen ihrer Trnen. Tallie, sagte er freundlich, ich wei, es ist ein bichen spt, aber ich war der Meinung, du wrdest sicher noch gern guten Tag sagen. Guten Tag? Die Trnen versiegten, und jetzt sah sie Lichfields Begleitper- son. Sie stand, teilweise im Dunkeln, ungefhr einen ehrerbie- tigen halben Meter hinter ihm. Die Gestalt trat aus Lichfields Schatten heraus, eine leuchtende, zartgelenkige Schnheit, die Tallulah so unschwer erkannte wie ihr eigenes Spiegelbild. Die Zeit brach in Stcke, und die Vernunft entfloh der Welt. Ersehnte Gesichter waren pltzlich wieder da, um die leeren Nchte zu erfllen und einem mde gewordenen Leben neue Hoffnung anzubieten. Warum sollte sie an der Beweiskraft ihrer Augen zweifeln? Es war Constantia, die strahlenschimmernde Constantia, die ihren Arm durch den Lichfields schlang und Tallulah mit ernstem Nicken begrte. Teure, tote Constantia. Die vorletzte Probe war fr nchsten Morgen halb zehn ange- setzt. Diane Duvalls Auftritt versptete sich wie immer um eine halbe Stunde. Sie sah aus, als hatte sie die ganze Nacht nicht geschlafen. 'tschuldigung wegen der Versptung, sagte sie, und ihre offenen Vokale drangen den Mittelgang entlang nach vorn zur Bhne. Calloway war in keiner Weise zum Schuhekssen aufgelegt. Wir haben morgen 'ne Premiere, fegte er sie an, und alle haben deinetwegen warten mssen. Wirklich? tremolierte sie und versuchte, entwaffnend zu sein. Es war zu frh am Morgen, und der Effekt fiel auf steinigen Boden. Also dann, wir gehn alles von Anfang an durch, kndigte Calloway an, und da bitte jeder von euch seinen Text zur Hand hat und was zum Schreiben. Ich hab' ein paar Streichun- gen vor, und ich mchte, da sie bis zur Mittagspause sitzen. Ryan, hast du das Soufflierbuch da? Einer hastigen Rcksprache im Inspizientenbro folgte die entschuldigende Verneinung Ryans. Dann besorg es dir! Und ich will von niemand irgendwelche Beschwerden hren, wir sind schon spt dran. Der Durchlauf letzte Nacht war 'ne Totenwache, keine Auffhrung. Einstze und Zusammenspiel haben ewig gedauert; die Pantomimen waren ein wstes Gestopple. Ich werde streichen, und es wird bestimmt kein Honiglecken. Das war es dann wirklich nicht. Die Beschwerden kamen trotz des Verbots, die Einwnde, die Kompromivorschlge, die sauren Mienen und hingenuschelten Beschimpfungen. Callo- way wre lieber an den Zehen von einem Trapez gebaumelt, als vierzehn schwer berreizte Leute durch ein Stck zu lotsen, das zwei Drittel von ihnen kaum verstanden und mit dem das letzte Drittel nicht die Bohne anzufangen wute. Es ttete einem den Nerv, Verschlimmert wurde das Ganze noch dadurch, da er die ganze Zeit ber die stechende Empfindung harte, beobachtet zu werden, obwohl der Zuschauerraum von der Galerie bis zur ersten Parkettreihe leer war. Womglich hatte Lichfield irgendwo ein Guckloch, dachte er. Doch dann verwarf er die Vorstellung als erstes Anzeichen aufkeimenden Verfolgungs- wahns. Endlich dann Mittagspause. Calloway wute, wo Diane zu finden war, und er bereitete sich auf die Szene vor, die er mit ihr durchspielen mute: Vor- wrfe, Trnen, Versicherung ungebrochenen Vertrauens, nochmals Trnen, Ausshnung, Standardformat. Er klopfte an die Tr der Stargarderobe. Wer ist drauen? Weinte sie bereits, oder grummelte sie in ein Glas mit trost- spendendem Inhalt? Ichbin's. Ah. Kann ich rein? Ja. Sie harte eine Flasche Wodka, guten Wodka, und ein Glas. Bis jetzt keine Trnen. Ich bring' berhaupt nichts, oder? sagte sie, kaum hatte er die Tr hinter sich zugemacht. Ihre Augen bettelten um Widerspruch. Red keinen Unsinn! wich er aus. Mit Shakespeare bin ich nie klargekommen, schmollte sie, als ob der Barde schuld dran wre. All diese bekackten Wr- ter. Gewitter am Horizont, er sah es sich zusammenbrauen. Alles halb so wild, log er und legte den Arm um sie. Du brauchst nur noch ein bichen Zeit. Ihr Gesicht umwlkte sich. Morgen ist Premiere, sagte sie tonlos. Sie werden mich in Stcke reien, nicht? Er wollte nein sagen, aber seine Zunge hatte einen unvermute- ten Anfall von Ehrlichkeit. Ja. Auer... Ich trete nie wieder auf, nicht? Harry hat mir das eingeredet, dieser verdammte, schwachsinnige Jude: gut fr mein Image, hat er gesagt. Wrd' dadurch zwangslufig etwas mehr Kontur bekommen, hat er gesagt. Was wei der schon? Steckt seine dreckigen zehn Prozent ein, und ich hab' die Sache am Hals. Steh' da wie der allerletzte Idiot, nicht? Bei der Vorstellung, wie ein Idiot dazustehen, brach das Unwetter los. Das war kein leichter Schauer: Es handelte sich, wenn es berhaupt mit etwas zu vergleichen war, um einen Wolkenbruch. Er tat, was er konnte, aber er tat sich schwer. Die Perlen seiner Weisheit gingen unter in ihrem allzulauten Schluchzen. Also kte er sie ein wenig, wie es die Pflicht eine jeden anstndigen Regisseurs war, und (o Wunder) auf diese Art war es anscheinend zu schaffen. Er vollfhrte die Prozedur mit etwas mehr Feuer, seine Hnde verirrten sich zu ihren Brsten, stberten unter ihrer Bluse nach ihren Brustwarzen und spielten an ihnen mit Daumen und Zeigefinger. Das wirkte Wunder. Hie und da lugte jetzt die Sonne zwischen den Wolken hervor; sie schniefte, schnallte ihm den Grtel auf und lie seine Hitze die letzten Regentropfen auftrocknen. Seine Finger fanden den Spitzensaum ihres Hschens, und sie seufzte auf, als er sich vorantastete, sanft, aber nicht zu sanft, hartnckig, aber keinesfalls zu hartnckig. Im Eifer des Gefechts stie sie irgendwann die Wodkaflasche um, aber sie hatten beide keine Lust aufzuhren und sie abzufangen. Also ergo sie sich vom Tischrand auf den Boden und kontrapunk- tierte Dianes Anweisungen sowie sein Gekeuch. Da ffnete sich die verdammte Tr, und ein Luftzug khlte den strittigen Punkt zwischen ihnen. Calloway wollte sich umdrehen, bemerkte dann seinen offenen Grtel und blickte, um den Eindringling zu Gesicht zu bekom- men, in den Spiegel hinter Diane. Es war Lichfield. Mit ausdrucksloser Miene schaute er Calloway direkt an. Verzeihung. Ich htte anklopfen sollen. Seine Stimme war geschmeidig wie Schlagsahne und verriet nicht das geringste Flackern einer Verlegenheit. Calloway schnallte den Grtel zu und wandte sich an Lichfield; seine hochroten Wangen htte er verwnschen knnen. Ja... hart' sich schon gehrt, sagte er. Bitte nochmals um Entschuldigung. Ich htte gern kurz mit Ihrem,.,, Lichfields Augen, so tiefliegend, da sie uner- grndlich blieben, waren auf Diane gerichtet, ... Ihrem Star gesprochen. Calloway konnte praktisch fhlen, wie sich Dianes Ego bei diesem Wort aufblhte. Diese Art Annherung verwirrte ihn: Hatte Lichfield eine Hundertachtzig-Grad-Wendung gemacht ? Kam er als reuiger Bewunderer zurck, um zu Fen der Erhabenheit auf den Knien zu liegen? War es wohl mglich, mit der Lady ein Wort unter vier Augen zu reden ? Es lge mir viel dran, fuhr die sanfte Stimme fort. Also, wir wollten gerade... Selbstverstndlich, unterbrach ihn Diane. Wenn Sie sich nur einen Augenblick gedulden mchten, ja? Sofort hatte sie die Situation im Griff, die Trnen waren vergessen. Ich warte solange drauen, sagte Lichfield und entfernte sich bereits. Noch bevor er die Tr hinter sich zugemacht hatte, war Diane vor dem Spiegel und fuhr mit dem kleenexumwickelten Finger den Lidrand entlang, um ein Rinnsal Wimperntusche zum Verschwinden zu bringen. Richtig wohltuend, gurrte sie, auch mal 'nen Verehrer zu haben. Kennst du ihn? Heit Lichfield, informierte sie Calloway, er war frher Vermgensverwalter des Theaters. Vielleicht will er mir ein Angebot machen. Bezweifle ich. Ach, sei doch kein solches Ekel, Terence! zischte sie. Kannst es blo nicht ertragen, wenn man auer dir auch mal jemand anderen interessant findet, oder? Hast ja so recht. Sie prfte ihre Augen. Wie seh' ich aus? fragte sie. Bestens. Tut mir leid wegen vorhin. Vorhin? Weit schon. h... ja. Seh' dich dann im Pub, okay? Offensichtlich wurde er kurz und bndig entlassen, seine Rolle ab Liebhaber oder Vertrauter war nicht mehr gefragt. Uchfield wartete geduldig auf dem kalten Flur vor der Garde- robe. Obwohl die Beleuchtung hier besser war als auf der schlecht erhellten Bhne und auch der Abstand zwischen ihnen geringer war als gestern abend, konnte Calloway das Gesicht unter der weiten Hutkrempe noch immer nicht so recht ausma- chen. Irgendwas an Lichfields Zgen war - was raunte der Gedanke da in seinem Kopf ? - war knstlich. Das Fleisch seines Gesichts bewegte sich nicht wie ein ineinandergreifendes System aus Muskeln und Sehnen, es war zu starr, zu rosa, fast wie Narbengewebe. Sie ist noch nicht ganz soweit, sagte Calloway. Sie ist eine entzckende Frau, suselte Lichfield. Ja. Kann Ihnen nicht verdenken... Hm. Aber sie ist keine Schauspielerin. Sie wollen sich doch nicht etwa einmischen, Lichfield? Das wrde ich nicht zulassen. Aber nie und nimmer! Der voyeuristische Spa, den Lichfield offenkundig an seiner Verlegenheit gehabt hatte, machte Calloway weniger ehrerbie- tig als bisher. Bringen Sie sie mir ja nicht durcheinander... Wir ziehen beide am gleichen Strang, Terence. Mir liegt einzig und allein am glcklichen Fortgang dieser Inszenierung, glauben Sie mir. Wie knnte man unter solchen Umstnden von mir annehmen, da ich Ihre Hauptdarstellerin in Aufre- gung versetze? Ich werde so sanft wie ein Lamm sein, Te- rence. Ganz gleich, was Sie sind, kam die gereizte Antwort, ein Lamm sind Sie nicht. Wieder erschien das Lcheln auf Lichfields Gesicht, wobei sich das Gewebe um seinen Mund lediglich dehnte, um so seinem Ausdruckswillen nachzukommen. Calloway zog sich ins Pub zurck und hatte unablssig diese Sichel ruberischer Zhne vor Augen; er war beunruhigt, ohne da er wirklich htte sagen knnen, weshalb. In der Spiegelkammer ihrer Garderobe war Diane Duva gerade mit den Vorbereitungen fr ihren Auftritt so gut wie fertig. Sie knnen jetzt reinkommen, Mr. Lichfield, verkndete sie. Noch ehe die letzte Silbe seines Namens auf ihren Lippen verklungen war, stand er in der Tr. Miss Duvall. Er verbeugte sich vor ihr, leicht und voller Hochachtung. Sie lchelte; so galant. Knnen Sie mir mein Hereinplatzen von vorhin nochmal verzeihen? Sie machte auf schchtern-sprd; das brachte die Mnner immer zum Schmelzen. Mr. Calloway..., fing sie an, Ein sehr hartnckiger junger Mann, knnte ich mir denken. Ja. Und scheut sich womglich nicht, seiner Hauptdarstellerin ganz angelegentlich den Hof zu machen? Sie runzelte ein wenig die Stirn; wo die ausgezupften Bgen ihrer Brauen zusammenliefen, tanzte eine Falte. Ich frchte, ja. Alles andere als professionell, sagte Lichfield. Aber, Sie verzeihen - ein nur zu begreifliches Faible. Wie auf der Bhne bewegte sie sich von ihm weg, zur Beleuch- tung ihres Spiegels. Sie wute, da die Lampen, wenn sie sich jetzt umdrehte, ihr Haar noch vorteilhafter von hinten anstrahlen wrden. Also, Mr. Lichfield, was kann ich fr Sie tun? Es handelt sich, ehrlich gesagt, um eine delikate Angelegen- heit, sagte Lichfield. Die bittere Wahrheit ist, da - wie soll ich sagen? - Ihre Talente dieser Inszenierung nicht im besten Sinne zutrglich sind. Ihrem Stil fehlt es an Delikatesse. Sekundenlanges Schweigen. Sie schniefte, dachte ber die Tragweite der Bemerkung nach und bewegte sich dann aus dem Bhnenmittelpunkt Richtung Tr. Die. Art, wie sich diese Szene angelassen hatte, gefiel ihr ganz und gar nicht. Da erwartete sie einen Bewunderer, und statt dessen rckte ihr ein Kritiker auf die Pelle. Raus! sagte sie mit einer Stimme wie aus Schiefer. Miss Duvall... Ich wiederhole mich nicht gern. Sie fhlen sich nicht besonders wohl als Viola, oder? fuhr Lichfield fort, als htte der Star nichts gesagt. Das geht Sie einen Dreck an, fauchte sie zurck. Das tut es doch. Ich habe die Proben gesehen. Sie waren nicht berzeugend, ohne innere Wrme. Die Komdie ist geistlos, die Wiedervereinigungsszene, die uns zutiefst erschttern sollte, bleiern schwerfllig. Hab' Sie nicht nach Ihrer Meinung gefragt, danke. Sie haben keinen Stil... Verpissen Sie sich! Keine persnliche Ausstrahlung und keinen Stil. Mit Sicher- heit sind Sie am Fernseher die Ausstrahlung persnlich, aber die Bhne verlangt eine besondere Wahrhaftigkeit, eine Beseeltheit, die Ihnen, offen gestanden, abgeht. Die Szene heizte sich langsam auf. Sie wollte ihm eine rein- hauen, aber sie konnte keinen geeigneten Beweggrund dafr finden. Sie konnte diesen verwelkten Poseur unmglich ernst nehmen. Er pate mehr ins Musical als ins Rhrstck, mit seinen schnieken grauen Handschuhen und seiner schlucken grauen Krawatte. Doofe, giftige Schwuchtel, was wute er schon von Schauspielerei? Raus hier, bevor ich den Inspizienten rufe! sagte sie, aber er trat zwischen sie und die Tr. Eine Vergewaltigungsszene? War's das, was sie spielten? War er scharf auf sie? Gott bewahre! Meine Frau, sagte er jetzt, hat die Viola gespielt... Wie schn fr sie. ... und sie ist der Ansicht, da sie die Rolle mit ein bichen mehr Leben erfllen knnte als Sie. Wir haben morgen Premiere, antwortete sie unwillkrlich, als wolle sie ihr Vorhandensein verteidigen. Warum, ver- dammt, versuchte sie berhaupt, vernnftig mit ihm zu reden? Rumpelt hier rein und macht diese abscheulichen Bemerkun- gen. Womglich, weil sie ein bichen Angst hatte. Jetzt, aus der Nhe, roch sein Atem nach teurer Schokolade. Sie kann die Partie auswendig. Es ist meine Rolle, Und ich spiele sie auch. Ich spiele sie, selbst wenn ich die schlechteste Viola in der Geschichte des Theaters bin, klar? Sie versuchte, die Fassung zu bewahren, aber es fiel ihr schwer. Irgendwas an ihm machte sie nervs. Es war nicht Gewalt, was sie befrchtete: aber irgend etwas frchtete sie. Bedauerlicherweise habe ich den Part schon meiner Frau versprochen. Was ? Fast fielen ihr die Augen raus bei dieser Unverschmt- heit. Und Constantia bernimmt die Rolle. Sie lachte ber den Namen. Womglich war dies hier letztlich doch hochgestochene Komdie. Irgendwas von Shirdan oder Wilde, kesses, tzendes Zeug. Aber er sprach mit solch absolu- ter Gewiheit. Constantia bernimmt die Rolle; als ob die ganze Sache schon gelaufen wre. Ich will da nicht mehr drber reden, Sie Knacker, wenn also Ihre Frau die Viola spielen mchte, dann mu sie's eben drauen, auf der bekackten Strae tun. Klar? Sie wird morgen in der Premiere spielen. Sind Sie taub oder bld oder beides? Aufgepat, sagte ihr eine innere Stimme, du bertreibst dein Spiel, die Szene gert dir auer Kontrolle. Er trat auf sie zu, und die Spiegelbeleuchtung brachte das Gesicht unter der Krempe ganz zum Vorschein. Sie hatte nicht sorgfltig genug hingeschaut, als er sich zum erstenmal zeigte: Jetzt sah sie die tief eingegrabenen Linien, die Einsackungen um seine Augen und seinen Mund. Das war kein Fleisch, da war sie ganz sicher. Er trug aufgeklebte Latexteile, und sie saen nur schlecht ber den entsprechenden Stellen. Die Hand zuckte ihr fast vor Verlangen, danach zu greifen und sein wirkliches Gesicht aufzudecken. Aber ja. Das war es! Die Szene, die sie spielte, hie die Entlarvung. Mal schaun, wen wir da vor uns haben, sagte sie, und ihre Hand war an seiner Wange, bevor er sie zurckhalten konnte. Sein Lcheln wurde noch breiter, whrend sie ihn angriff. Er will es nicht anders, dachte sie, aber es war zu spt fr Skrupel oder Beschnigungen. Ihre Fingerspitzen hatten den Masken- saum am Rand seiner Augenhhle gefunden und hakten dahin- ter, um sich besseren Halt zu verschaffen. Ruckartig zog sie an. Die dnne Latexmaske lste sich, und seine wahre Physiogno- mie wurde rckhaltlos zur Schau gestellt. Diane versuchte zurckzuweichen, aber seine Hand war in ihrem Haar. Ihr blieb nur brig, in dies fast fleischlose Gesicht hinaufzusehen. Hie und da kringelten sich ein paar verdorrte Muskelstrnge, und die Andeutung eines Barts hing von einem ledrigen Lap- pen an seiner Kehle, Aber alles lebende Gewebe war schon seh langem verwest. Der grte Teil seines Gesichts bestand ein- fach aus Knochen: fleckig und verwittert. Man hat mich, sagte der Schdel, nicht einbalsamiert. Im Gegensatz zu Constantia. Die Erklrung entging Diane. Sie gab keinen Laut des Protests von sich, obschon ihn die Szene durchaus gerechtfertigt htte. Sie brachte nur noch ein Gewimmer heraus, als der Zugriff seiner Hand sich verschrfte und er ihr den Kopf zurckri. Frher oder spter mssen wir uns entscheiden, sagte Lich- field, und sein Atem roch nun weniger nach Schokolade ab nach profunder Fulnis, wem wir dienen wollen: uns selber oder unsrer Kunst. Sie begriff nicht so recht. Die Toten mssen ihre Wahl sorgfltiger treffen als die Lebenden. Wir knnen unseren Atem nicht vergeuden, wenn Sie die Redensart entschuldigen, es sei denn fr die allerrein- sten Wonnen. Die Kunst, denk' ich, willst du nicht, oder? Sie schttelte den Kopf und hoffte instndig, da das die erwartete Antwort war. Du willst das Leben des Fleisches, nicht das Leben der Phanta- sie. Und du sollst es haben. Danke... schn. Wenn du's durchaus willst, sollst du's auch haben. Pltzlich umschlo seine Hand, die so schmerzhaft an ihrem Haar gezerrt hatte, ihren Hinterkopf und brachte ihre Lippen nach oben, damit sie den seinen begegneten. Da htte sie nun wohl geschrien, als sein verrottender Mund sich auf den ihren heftete, aber sein Ku war so eindringlich, da er ihr zur Gnze den Atem verschlug. Ryan fand Diane ein paar Minuten vor zwei auf dem Boden ihrer Garderobe. Es war schwer herauszubekommen, was geschehen war. An Kopf oder Krper zeigten sich keinerlei Anzeichen einer Verwundung, und ganz tot war sie auch nicht. Sie war anscheinend in einer Art Koma. Vielleicht war sie ausgeglitten und hatte sich beim Fallen den Kopf angeschlagen. Egal, welche Ursache, jedenfalls war sie ausgezhlt, aus dem Spiel. Sie hatten nur noch Stunden bis zur Generalprobe, und die Viola lag im Rettungswagen auf dem Weg in die Intensivsta- tion. Je eher sie diesen Schuppen hier abreien, desto besser, sagte Hammersmith. Er hatte whrend der Dienstzeit getrunken; das hatte ihn Calloway noch nie vorher tun sehen. Die Whisky- flasche stand neben einem halbvollen Glas auf seinem Schreib- tisch. Ringfrmige Abdrcke des Glases verunzierten seine Geschftsbcher, und seine Hand war bedenklich vom Tatte- rich befallen. Was Neues vom Krankenhaus? Sie is'n schnes Weib, sagte Hammersmith und starrte das Glas an. Calloway htte schwren knnen, da er den Trnen nahe war. Hammersmith! Wie's ihr geht? Sie liegt im Koma. Aber ihr Zustand ist stabil. Das ist doch immerhin schon etwas. Hammersmith starrte zu Calloway hinauf, und seine eruptiven Brauen zogen sich vor Wut zusammen. Sie Miesling, sagte er, haben sie gebumst, ja? Bilden sich noch mords was drauf ein, ja ? Dann sag' ich Ihnen mal was: Ein Dutzend von Ihrer Sorte knnen Diane Duvall das Wasser nicht reichen. Ein Dutzend! Haben Sie deswegen diese letzte Inszenierung nicht abge- wrgt, Hammersmith ? Weil Sie sich in sie vergafft haben ? Sich eingebildet haben, Sie knnten sie in Ihre geilen kleinen Finger kriegen? Sie kapiern berhaupt nichts. Sie haben den Verstand zwi- schen den Beinen. Calloways Auslegung seiner Bewunderung fr Miss Duvall schien ihn ernstlich gekrnkt zu haben. Schon gut. Halten Sie's, wie Sie wollen. Jedenfalls haben wir noch immer keine Viola. Und deswegen setz' ich das Stck ab, sagte Hammersmith und senkte die Stimme, um den Augenblick auszukosten. Das hatte kommen mssen. Ohne Diane Duvall wrde es keine Was-ihr~wollt-Auffhrung geben; und womglich war es auch besser so. Jemand klopfte an die Tr. Welcher Scheier is'n das schon wieder? sagte Hammer- smith leise. Herein! Es war Lichfield. Calloway war fast froh, dieses fremdartige, vernarbte Gesicht zu sehen. Obwohl er Lichfield eine Menge Fragen stellen mute ber den Zustand, in dem er Diane zurckgelassen hatte und ber ihr Gesprch miteinander, so war das doch keine Unterredung, die er im Beisein von Ham- mersmith zu fhren gewillt war. Auerdem widersprach die Gegenwart des Mannes hier jeglichen unausgegorenen Ver- dchtigungen, die Calloway sich zurechtgelegt hatte. Gesetzt den Fall, Lichfield hatte, aus welchem Grund auch immer, gegen Diane Gewalt ausgebt, war es dann wahrscheinlich, da er so bald wieder aufkreuzte - und so quietschvergngt ? Wer sind Sie? wollte Hammersmith wissen. Richard Waiden Lichfield. Das sagt mir nichts. Ich war frher Vermgensverwalter des Elysium. Ach was. Ich betrachte es als meine Aufgabe... Was wollen Sie? fuhr Hammersmith dazwischen, irritiert von Lichfields Gelassenheit. Ich habe gehrt, die Inszenierung ist gefhrdet, antwortete Lichfield ungerhrt. Von wegen gefhrdet, sagte Hammersmith und gestattete sich ein Zucken um die Mundwinkel, berhaupt nicht gefhr- det, weil's nmlich keine Auffhrung geben wird. Sie ist abgesetzt. Wie? Lichfield sah Calloway an. Mit Ihrem Einverstnd- nis? fragte er. Er hat in dieser Angelegenheit nicht mitzureden; ich habe allein das Recht zur Absetzung, wenn es die Umstnde erfor- dern; steht in seinem Vertrag. Das Theater ist ab heute geschlossen - und es macht nie wieder auf. Das wird es doch, sagte Lichfield. Was? Hammersmith stand hinter seinem Schreibtisch auf, und Calloway bemerkte, da er den Mann nie zuvor hatte stehen sehen. Er war sehr kurz geraten. Wir spielen >Was ihr wollt< wie angekndigt, suselte lieh- fielJ. Meine Frau hat sich freundlicherweise bereit erklrt, die Partie der Viola ersatzweise fr Miss Duvall zu bernehmen. Hammersmith lachte, ein derbes Metzgerlachen. Es erstarb jedoch auf seinen Lippen, als das Bro von Lavendel durchflu- tet wurde und Constantia Lichfield, schimmernd in Pelz und Seide, ihren Auftritt hatte. Sie sah so vollendet aus wie an ihrem Sterbetag: Selbst Hammersmith stockten bei ihrem Anblick Atem und Rede. Unsere neue Viola, verkndete Lichfield. Einen Augenblick spter hatte Hammersmith seine Stimme wiedergefunden. Diese Frau kann nicht binnen eines halben Tages einspringen. Warum nicht? fragte Calloway, ohne seinen Blick von der Frau abzuwenden. Lichfield war zu beglckwnschen; Con- stantia war eine auerordentliche Schnheit. Er wagte in ihrer Gegenwart kaum zu atmen aus Angst, sie knne sich in nichts auflsen. Dann sprach sie. Verse aus dem fnften Akt, Szene i: Steht nichts im Weg, uns beide zu beglcken, Als diese angenommne Mnnertracht, Umarmt mich dennoch nicht, bis jeder Umstand Von Lage, Zeit und Ort sich fgt und trifft, Da ich Viola bin. Die Stimme war zart und melodisch, aber sie schien in ihrem Krper Widerhall zu finden und jede uerung mit dem Unterton verhaltener Leidenschaft zu erfllen. Und dies Gesicht. Es war wunderbar lebendig, mit kstlicher Dezenz spiegelten ihre Zge wider, was in ihrer Rede sich vollzog. Sie war hinreiend. Tut mir leid, sagte Hammersmith. Aber bei so 'ner Sache gibt es Satzungen und Statuten. Ist sie bei der Equity? Nein, sagte Lichfield. Na, da haben Sie's! Es ist unmglich. Die Genossenschah schliet solche Flle von vornherein aus. Die wrden uns total zur Schnecke machen. Was geht Sie das schon an, Hammersmith? fragte Calloway. Was scheien Sie sich drum? Sie brauchen nie mehr den Fu in ein Theater zu setzen, wenn dieser Schuppen einmal abgeris- sen ist. Meine Frau hat bei den Proben zugesehen. Sie ist rollenfest. Das reinste Wunder, sagte Calloway, der mit jedem begei- sterten Blick auf Constantia mehr Feuer und Flamme war. Sie riskieren Ihre Mitgliedschaft, Calloway, warnte ihn Hammersmith. Das Risiko nehm' ich auf mich. Wie Sie sagen, mir kann es ja egal sein. Aber wenn denen was zu Ohren kommt, dann sind Sie weg vom Fenster. Hammersmith: Geben Sie ihr eine Chance! Geben Sie uns allen eine Chance! Wenn die Equity mich boykottiert, dann ist das allein mein Bier. Hammersmith setzte sich wieder hin. Kein Schwein wird kommen, ist Ihnen doch klar, oder? Diane Duvall war ein Star; die Leute htten Ihre ganze geschwollene Inszenierung ber sich ergehn lassen, nur um sie zu sehen, Calloway. Aber eine Unbekannte... Na gut, ist ja Ihr Begrbnis. Vorwrts also, ziehn Sie's durch! Ich will mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Das geht auf Ihre Kappe, Calloway, vergessen Sie das nicht! Hoffentlich macht man Sie zur Sau deswegen. Danke sehr, sagte Lichfield. uerst hebenswrdig. Hammersmith nahm jetzt auf seinem Schreibtisch allerlei Umgruppierungen vor, damit Flasche und Glas deutlicher in den Vordergrund rckten. Die Unterredung war vorbei: Er hatte jegliches Interesse an diesen Schmetterlingen verloren. Gehn Sie, sagte er. Gehn Sie doch blo. Ich htte noch ein oder zwei Bitten, wandte sich Lichfield an Calloway, als sie das Bro verlieen. nderungen an der Inszenierung, die die Darstellung meiner Frau besser zur Geltung brchten. Zum Beispiel? Wegen Constantias Wohlbefinden mchte ich darum bitten, da man die Beleuchtungsstrke erheblich herabsetzt. Sie ist einfach das Spielen unter so heier, greller Beleuchtung nicht gewohnt. Geht in Ordnung. Ich mchte auch darum ersuchen, da wir eine Reihe Ram- penleuchten installieren. Rampenleuchten ? Ein sonderbares Ansinnen, das ist mir klar, aber mit Rampen- licht fhlt sie sich viel unbeschwerter. Sie blenden aber die Schauspieler, sagte Calloway, und es wird schwierig, das Publikum zu sehen. Trotzdem... Ich mu mir ihre Installierung ausbedingen. Okay. Als drittes mchte ich bitten, da alle Szenen, die mit Umar- men, Kssen oder sonstigem Berhren Constantias verbunden sind, neu einstudiert werden, um jedweden wie auch immer gearteten krperlichen Kontakt auszuschlieen. Ohne Ausnahme? Ohne Ausnahme. Warum, um Himmels willen? Zur dramatischen Gestaltung der Herzens-Arbeit braucht meine Frau keine zustzlich inszenierte Handlung, Terence. Diese komische Betonung auf dem Wort Herz. Herzens- Arbeit. Den Hauch eines Augenblicks lang lenkte Calloway Constan- tias Aufmerksamkeit auf sich. Ihm war, als wrde er gesegnet. Machen wir unsere neue Viola mit der Truppe bekannt? schlug Lichfield vor. Warum nicht. Das Trio ging in den Theatersaal. Die Neueinstudierung des szenischen Geschehens zur Aus- merzung jeglichen krperlichen Kontakts war einfach. Und obwohl sich die brigen Ensemblemitglieder gegenber ihrer neuen Kollegin anfangs zurckhaltend zeigten, lagen sie ihr wegen ihres ungeknstelten Benehmens und ihrer natrlichen Anmut bald zu Fen. Auerdem bedeutete ihr Mitwirken, da die Auffhrung stattfinden konnte. Um sechs ordnete Calloway eine Pause an. Er gab bekannt, da sie mit der Generalprobe um acht anfangen wrden, und forderte alle auf, sie sollten die nchste Stunde rausgehen und sich entspannen. Die Truppe machte sich auf den Weg und fibrierte vor wiedererwachter Begeisterung fr die Inszenie- rung. Was einen halben Tag zuvor wie ein wstes Durcheinan- der ausgesehen hatte, schien sich jetzt ganz gut zu entwickeln. Natrlich gab's noch tausenderlei Dinge auszumerzen: techni- sche Mngel, schlecht sitzende Kostme, Regieschwchen. Fr Profis mute das aber zu schaffen sein. Die Schauspieler waren tatschlich schon lange nicht mehr so aufgekratzt gewesen. Selbst Ed Cunningham war sich nicht zu gut, ein oder zwei anerkennende Bemerkungen fallenzulassen. Lichfield fand Tallulah beim Aufrumen im Knstlerzimmer. Heute abend... Ja, Sir. Du darfst keine Angst haben. Ich hab' keine Angst, antwortete Tallulah. Was fr ein Gedanke! Als ob... Es wird wohl nicht ganz ohne Schmerz abgehen, bedauerli- cherweise. Das betrifft dich, ja eigentlich uns alle. Ich verstehe. Freilich tust du das. Du liebst das Theater, wie ich es liebe: da kennst das Paradox dieses Berufs. Das Leben spielen... ach, Tallulah, das Leben spielen... das ist schon eine sonderbare Sache. Weit du, manchmal frage ich mich, wie lange ich die Illusion aufrechterhalten kann. Die Darbietung ist wunderbar, sagte sie. Findest du? Findest du das wirklich? Ihr wohlmeinendes Urteil machte ihm Mut. Es war so aufreibend, die ganze Zeit so tun zu mssen, als ob: das Fleisch vorzutuschen, den Atem, den Augenschein des Lebens. Voll Dankbarkeit fr Tallulahs Wohlwollen streckte er die Hand nach ihr aus. Mchtest du sterben, Tallulah? Tut es weh? Fast berhaupt nicht. Es wrde mich sehr glcklich machen. Und das soll es auch. Sein Mund bedeckte ihren Mund, und indem sie glcklich seiner forschenden Zunge nachgab, war sie in weniger als einer Minute tot. Er bettete sie auf die fadenscheinige Couch und verschlo die Tr des Knstlerzimmers mit ihrem eigenen Schlssel. In dem kalten Zimmer konnte sie mhelos auskh- len und bis zur Ankunft des Publikums wieder auf den Beinen sein. Um viertel sieben stieg Diane Duvall vor dem Elysium aus einem Taxi. Es war schon ganz dunkel, ein windiger Novem- berabend, aber sie fhlte sich bestens. Nichts konnte sie heute abend deprimieren. Nicht die Dunkelheit, nicht die Klte. Ungesehen ging sie an den Plakaten vorbei, die ihr Gesicht und ihren Namen trugen, und durch den leeren Zuschauerraum gelangte sie bis zu ihrer Garderobe. Dort fand sie das Objekt ihrer Zuneigung, das sich durch eine Packung Zigaretten tauchte. Terry. Im Trrahmen stellte sie sich einen Augenblick lang in Positur und lie die Tatsache ihres Wiedererscheinens einwirken. Er wurde ganz wei bei ihrem Anblick, deshalb schmollte sie ein bichen. Es war nicht leicht, einen Schmollmund zu ziehen. Starre sa in ihren Gesichtsmuskeln, aber sie bekam den Effekt zu ihrer Zufriedenheit hin. Calloway blieb die Sprache weg. Diane schaute krank aus, da gab es nichts dran zu deuteln, und wenn sie das Krankenhaus verlassen hatte, um bei der Generalprobe ihre Partie zu ber- nehmen, dann wrde er sie umgehend vom Gegenteil berzeu- gen mssen. Sie trug kein Make-up, und ihr aschblondes Haar hatte das Waschen dringend ntig. Was tust du hier? fragte er, als sie die Tr hinter sich zumachte. Unerledigte Arbeit, sagte sie. Hr mal... Ich mu dir was sagen... Mann, das wrde ganz schn ekelhaft werden. Wir haben einen Ersatz gefunden, fr die Inszenierung. Sie sah ihn ausdruckslos an. Er hastete weiter, stolperte ber die eigenen Worte: Wir haben gedacht, du fllst aus, ich meine, nicht auf Dauer, aber, du weit schon, zumindest fr die Premiere... Vergi es, sagte sie. Der Unterkiefer fiel ihm ein Stck runter. Vergi es? Was geht's mich an? Du hast gesagt, du bist zurckgekommen, die Arbeit sei unerledi... Er hielt inne. Sie knpfte das Oberteil ihres Kleides auf. Das ist nicht ihr Ernst, dachte er, das kann nicht ihr Ernst sein! Sex? Jetzt? Ich hab' viel nachgedacht in den letzten paar Stunden, sagte sie, whrend sie das verkrumpelte Kleid ber die Hften zwngte, es fallen lie und aus ihm herausstieg. Sie trug einen weien BH und versuchte vergebens, ihn aufzuhaken. Ich bin zu dem Schlu gekommen, da mir nichts am Theater liegt. Hilfst du mir, bitte? Sie drehte sich um und prsentierte ihm den Rcken. Automa- tisch hakte er den BH auf, ohne wirklich abzuklren, ob er das wollte oder nicht. Sah danach aus, als wolle sie ihn vor vollendete Tatsachen stellen. Sie war zurckgekommen, um das zu Ende zu bringen, bei dem sie beide unterbrochen worden waren, so einfach war das. Und trotz der absonderlichen Gerusche, die sie tief im Hals von sich gab, und des verglasten Ausdrucks ihrer Augen war sie noch immer eine attraktive Frau. Eine nochmalige Drehung ihrerseits, und Calloway blickte auf ihre ppigen Brste. Sie waren bleicher, als er sie in Erinnerung hatte, aber bildschn. Unangenehm eng wurde es ihm in der Hose, und ihre Bewegungen verschlimmerten seine Lage nur: Wie die ordinrste Soho-Stripperin lie sie die Hften kreisen und fuhr sich dabei mit den Hnden zwischen die Beine. Mach dir um mich keine Gedanken, sagte sie. Mein Ent- schlu steht fest. Das einzige, was ich wirklich will... Sie legte ihm die Hnde, die gerade noch an ihrer Scham spielten, aufs Gesicht. Sie waren eisig kalt. Das einzige, was ich wirklich will, bist du. Sex oder Bhne; nur eins von beiden kann ich haben... Im Leben eines jeden kommt die Zeit, wo man Entscheidungen treffen mu. Sie leckte sich den Mund. Nicht eine Spur Feuchtigkeit blieb auf den Lippen zurck, als ihre Zunge ber sie geglitten war. Der Unfall hat mich darber nachdenken lassen, woran mir wirklich etwas liegt. Und offen gestanden... Sie schnallte ihm den Grtel auf. ...ich schei auf... Und jetzt der Reiverschlu. ... dieses bekackte Theater und auf jedes andere auch. Die Hose rutschte ihm runter. Ich werd' dir zeigen, woran mir was liegt. Sie fate in seinen Slip und griff entschlossen zu. Irgendwie machte die Klte ihrer Finger die Berhrung sexuell noch erregender. Er lachte und schlo die Augen, als sie ihm den Slip bis zur Schenkelmitte runterzog und sich vor ihn hinkniete. Sie war so versiert wie immer, ihr Schlund offen wie ein Abflukanal. Ihr Mund war etwas trockener als blich, ihre Zunge scheuerte ihn, aber die Sinnesreize trieben ihn zur Raserei. Es tat so wohl, da er kaum die Leichtigkeit bemerkte, mit der sie ihn verschlang, ihn tiefer in sich aufnahm, als sie's je zuvor geschafft hatte, und jeden ihr bekannten Trick anwen- dete, um ihn immer hher aufzustacheln. Langsam und tief machte sie's, beschleunigte dann das Tempo, bis es ihm fast kam, bremste dann wieder ab, bis die Bedrngnis vorbei war. Er war ihr vollstndig ausgeliefert. Er ffnete die Augen, um ihr bei der Arbeit zuzusehen. Mit verzcktem Gesicht spiete sie sich auf an ihm. Gott, keuchte er, tut das guuut! Aah-ja, aah-ja. Nicht mal mit einem Zucken reagierte ihr Gesicht auf seine Worte. Sie fuhr einfach fort, ihn lautlos zu bearbeiten. Sie gab nicht die blichen Gerusche von sich, die kleinen Grunzer der Zufriedenheit, das schwere Atmen durch die Nase. Sie lutschte blo sein Fleisch in absolutem Schweigen. Einen Augenblick, whrend sich in seinem Bauch eine Idee festsetzte, hielt er den Atem an. Der auf und nieder pumpende Kopf pumpte weiter, mit geschlossenen Augen und ums Glied gekrampften Lippen, extrem in seine Ttigkeit vertieft. Eine halbe Minute verstrich; eine Minute; eineinhalb Minuten. Und jetzt sa ihm blankes Entsetzen im Bauch. Sie atmete nicht. Sie blies ihn so unvergleichlich, weil sie keinen Augenblick lang zum Einatmen oder Ausatmen unter- brechen mute. Calloway fhlte seinen Krper erstarren, whrend seine Erek- tion in ihrem Schlund erschlaffte. Sie lie in ihrer Mhe nicht nach; das schonungslose Saugen an seiner Schamgegend hrte nicht auf, auch dann nicht, als sich in seinem Bewutsein der undenkbare Gedanke formte: Sie ist tot. Sie hat mich in ihrem Mund, in ihrem kalten Mund, und sie ist tot. Deswegen war sie zurckgekommen, von ihrem Leichen- sockel aufgestanden und zurckgekommen. Sie brannte drauf zu beenden, was sie begonnen hatte, und kmmerte sich nicht mehr um das Schauspiel oder um ihre Thronruberin. Dieser Akt hier hatte ihre Wertschtzung, dieser Akt allein. Sie hatte die Wahl getroffen, ihn in alle Ewigkeit auszufhren. Aber diese Erkenntnis half Calloway auch nicht weiter: Er konnte nur wie der letzte Idiot an sich runterstarren, whrend diese Leiche ihm einen abkaute. Dann schien es, als spre sie sein Grauen. Sie ffnete die Augen und sah auf zu ihm. Wie hatte er dies tote Starren jemals mit dem Leben verwechseln knnen? Behutsam nahm sie seine eingeschrumpfte Mnnlichkeit aus ihrem Mund. Was hast du ? fragte sie, und ihr Geflte tuschte immer noch Leben vor. Du... du atmest... nicht. Sie machte ein langes Gesicht und lie ihn los. Ach Schatz, sagte sie und lie alle Lebensanmaung ver- schwinden. Ich spiel' die Rolle nicht besonders gut, oder? Ihre Stimme war eine Geisterstimme: dnn, hilflos-verlassen. Ihre Haut, die er fr so schmeichelhaft bla gehalten hatte, war bei genauerem Hinsehen wei wie Wachs. Du bist tot? sagte er. Ich frchte, ja. Vor zwei Stunden: im Schlaf. Aber ich mute kommen, Terry; so viel unerledigte Arbeit. Ich hab' meine Wahl getroffen. Es sollte dir eigentlich schmeicheln. Es schmeichelt dir doch, ja? Sie stand .auf und griff in ihre Handtasche, die sie neben dem Spiegel gelassen hatte. Calloway schaute zur Tr und ver- suchte, seine Gliedmaen in Bewegung zu bringen, aber sie versagten ihren Dienst. Auerdem hing ihm die Hose um die Fugelenke. Zwei Schritte, und er wrde voll aufs Gesicht fallen. Sie wandte sich ihm wieder zu, mit etwas Silbrigem, Spitzem in der Hand. Wie sehr er sich auch anstrengte, er konnte es nicht genau identifizieren. Aber was es auch war, sie hatte es ihm zugedacht. Seit dem Bau des neuen Krematoriums im Jahre 1934 war dem Friedhof eine Schmach nach der anderen widerfahren. Die Grber hatte man nach bleiernen Sargauskleidungen durch- plndert, die Steine umgestrzt und zertrmmert; sie waren von Hunden und Graffiti besudelt. Nur ganz wenige Trau- ernde kamen noch, um nach den Grbern zu sehen. Die Generationen waren zusammengeschrumpft, und die paar Leutchen, die hier noch immer die Ruhesttte eines ihrer Lieben haben mochten, waren entweder zu schwach, um sich die von Trmmern verstellten Gehwege zuzumuten, oder zu zartbesaitet, um den Anblick solchen Vandalismus' zu er- tragen. Es war nicht immer so gewesen. Illustre und einflureiche Familien waren hinter den Marmorfassaden der viktoriani- schen Mausoleen in die Erde gebettet. Grndervter, ortsan- sssige Industrielle und Wrdentrger, jedweder, der die Stadt durch seine Leistung zu Ehren gebracht hatte. Der Leib der Schauspielerin Constantia Lichfield war hier bestattet worden (Bis der Morgen dmmert und die Schatten fliehn), und ihr Grab stand hinsichtlich der Aufmerksamkeit, die ihm ein geheimer Bewunderer zollte, fast einzigartig da. In dieser Nacht gab es keinen Beobachter, sie war zu rauh fr Liebende. So sah auch niemand Charlotte Hancock die Tr ihrer Gruft ffnen; die schlagenden Taubenflgel darauf ap- plaudierten ihrer Rstigkeit, als sie herauswatschelte, um den Mond zu begren. Ihr Gatte Gerard war mit ihr, er weniger kregel als sie, war er doch dreizehn Jahre lnger tot. Joseph Jardine, en famille, war nicht weit hinter den Hancocks; das galt gleicherweise fr Mariott Fletcher und Anne Snell und die Gebrder Peacock; die Liste ging immer weiter. Dort in der Ecke half Alfred Crawshaw (Captain im 17. Lancer-Regiment) seiner lieben Ehefrau Emma aus der Fulnis ihres gemein- schaftlichen Bettes auf. berall drngten sich Gesichter an die Spalten der Grabdeckel - war das nicht Kezia Reynolds mit ihrem Kind, das nur einen Tag in ihren Armen gelebt hatte ? Und Martin van de Linde (Gesegnet sei das Gedchtnis der Gerech- ten), dessen Weib man nie gefunden hatte; Rosa und Seiina Goldfinch: aufrechte Frauen beide; und Thomas Jerrey und... Zu viele Namen, um sie alle zu erwhnen. Zu viele Stadien der Verwesung, um sie alle zu beschreiben. Es reicht zu sagen, da sie sich erhoben: ihr Begrbnisstaat aus Fliegenbrut gewirkt, ihre Gesichter bis aufs bloe Fundament der Schnheit kahlge- fegt. Noch immer kamen sie, stieen das Hintertor des Friedhofs auf und schlngelten sich durch das dland Richtung Elysium. In der Ferne Verkehrsgerusch. Oben donnerte ein Jet landein- wrts. Einer der Peacock-Brder verlor, als er hinauf starrte zu dem blinkenden Giganten, der vorbeiflog, den Halt, fiel aufs Gesicht und zerschmetterte sich den Kiefer. Liebevoll lasen sie ihn auf und geleiteten ihn auf seinem Weg. Niemand kam da zu Schaden; und was wre denn eine Auferstehung ohne ein bichen was zum Lachen? Die Inszenierung ging also weiter. Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, Spielt weiter! gebt mir volles Ma! da so Die bersatte Lust erkrank' und sterbe... Calloway war zu Spielbeginn unauffindbar; aber Ryan hatte Anweisungen von Hammersmith (durch den allgegenwrtigen Mr. Lichfield), die Vorstellung mit oder ohne den Regisseur in Angriff zu nehmen. Er wird oben sein auf der Galerie, sagte Lichfield. Tatsch- lich, ich glaube, ich kann ihn von hier aus sehen. Lchelt er? fragte Eddie. Grinst von einem Ohr zum ndern. Dann ist er blau. Die Schauspieler lachten. Es wurde ziemlich viel gelacht an diesem Abend. Die Vorstellung verlief reibungslos, und obwohl sie das Publikum wegen des grellen Scheins der neu installierten Rampenlichter nicht sehen konnten, sprten sie sehr wohl die Wogen von Zuneigung und Entzcken, die ihnen aus dem Auditorium entgegenschlugen. Die Schauspieler kamen ganz euphorisch von der Bhne. Sie sitzen alle auf der Galerie, sagte Eddie, aber Ihre Freunde, Mr. Lichfield, sind eine Wohltat fr 'nen alten Schmierenfritzen. Leise sind sie schon, aber alle ein Mordsl- cheln im Gesicht. Akt I, Szene 2; und der erste Auftritt von Constantia Lichfield wurde mit spontanem Beifall aufgenommen. Sagenhafter Bei- fall. Wie das dumpfe Schnarren von Wirbeltrommeln, wie das sprde Schlagen von tausend Stcken auf tausend gespannten Huten. berschwenglicher, ungezgelter Applaus. Und, mein Gott, sie zeigte sich der Herausforderung gewach- sen. Sie fing gleich so zu spielen an, wie sie es fortzusetzen gedachte: Sie erfllte die Rolle ganz mit ihrem Herzblut, sie brauchte keine Krperlichkeit, um die Tiefe ihrer Empfindun- gen mitzuteilen, sondern artikulierte des Dichters Worte mit solcher Verstndigkeit und Leidenschaft, da das geringste Flattern ihrer Hand mehr wert war als hundert aufwendigere Gesten. Nach dieser ersten Szene brauste ihr bei jedem Auftritt derselbe Beifall aus dem Publikum entgegen, dem beinah ehrfrchtiges Schweigen folgte. Hinter der Bhne bekam die Zuversicht allmhlich Oberhand. Alle aus der Truppe witterten den Erfolg, einen Erfolg, der wie durch ein Wunder den Fngen der Katastrophe entrissen wor- den war. Da, schon wieder! Applaus! Applaus! Verschwommen registrierte Hammersmith in seinem Bro durch einen trben Besufnisschleier das brchige Gerassel der Beifallssalven. Er war gerade dabei, sich seinen achten Drink einzuschenken, ab die Tr aufging. Er schaute einen Augenblick lang auf und registrierte, da der Besucher dieser Parven Calloway war. Wetten, der kommt blo, um es mir hinzureiben, dachte Hammersmith, kommt, um mir zu sagen, wie sehr ich mich geirrt habe. Was wollen Sie? Der Drecksack antwortete nicht. Aus dem Augenwinkel nahm Hammersmith so etwas wie breites, strahlendes Lcheln auf Calloways Gesicht wahr. Sffisanter Schwachkopf, kommt hier rein und strt einen beim Trauern. Nehm' an, Sie wissen's schon? Der andere grunzte. Sie ist gestorben, sagte Hammersmith und begann zu wei- nen. Sie ist vor wenigen Stunden gestorben, ohne das Bewutsein wiedererlangt zu haben. Den Schauspielern hab' ich nichts gesagt. Wozu auch. Calloway erwiderte nichts auf diese Neuigkeit. War das dem Scheikerl egal? Kapierte er nicht, da damit alles Sense war? Die Frau war tot. Hier mitten im Elysium war sie zu Tod gekommen. Man wrde ffentliche Nachforschungen anstel- len, die Versicherung wrde berprft, eine Obduktion, die Feststellung der Todesursache: Zu viel kme ans Licht. Er nahm einen groen Schluck aus seinem Glas und machte sich nicht mehr die Mhe, Calloway nochmals anzusehen. Ihre Karriere wird im Keller landen, mein Sohn, nach dem hier. Nicht blo ich hng' drin, o nein, mein Guter! Noch immer verharrte Calloway in Schweigen. Macht Ihnen das nichts aus? bohrte Hammersmith weiter. Einen Moment lang Schweigen, dann antwortete Calloway. Ist mir furzegal. Ein raufgerutschter kleiner Inspizient sind Sie, sonst nichts. Keiner von euch Scheiregisseuren is' was andres! Eine gute Kritik, und ihr seid ein Geschenk Gottes fr die Kunst. Jetzt werd' ich Ihnen mal Bescheid stoen... Er schaute Calloway an, seine in Alkohol schwimmenden Augen taten sich schwer mit der Scharfeinstellung. Aber schlielich kriegte er es hin. Calloway, der dreckige Sauhund, war von der Grtellinie abwrts nackt. Er hatte seine Schuhe und seine Socken an, aber weder Hose noch Slip. Seine Selbstentblung htte man fr komisch halten knnen, wre nicht dieser Ausdruck in seinem Gesicht gewesen. Der Mann war verrckt geworden: Stier und haltlos rollten seine Augen herum, Speichel und Rotz liefen ihm aus Mund und Nase, seine Zunge hing ihm raus wie die eines hechelnden Hundes. Hammersmith stellte sein Glas auf seine Schreibunterlage und sah auch das Schlimmste. Auf Calloways Hemd war Blut, und eine Spur fhrte seinen Hals entlang zum linken Ohr hinauf, aus dem das Ende von Diane Duvalls Nagelfeile ragte. Man hatte sie tief in Calloways Hirn hineingetrieben. Der Mann war mit Sicherheit tot. Aber er stand, sprach und ging herum. Vom Theatersaal stieg eine neue, durch die Entfernung gedmpfte Beifallssalve herauf. Irgendwie war das kein wirkli- ches Gerusch; es kam aus einer anderen Welt, einem Bezirk, wo die Gefhle herrschten. Es war dies eine Welt, aus der sich Hammersmith immer ausgeschlossen gefhlt hatte. Ein nen- nenswerter Schauspieler war er nie gewesen, obwohl er's wei Gott versucht hatte, und die zwei Stcke, die er verfat hatte, waren kmmerlich, das wute er. Die Buchhaltung war seine Strke; er hatte sie dazu genutzt, so nah wie mglich im Bereich der Bhne bleiben zu knnen; dabei hate er seinen eigenen Mangel an knstlerischer Begabung ebensosehr, wie ihn ihr Vorhandensein bei anderen rgerte. Der Applaus erstarb, und Calloway ging wie auf das Stichwort eines unsichtbaren Souffleurs hin los auf ihn. Die Maske, die er zur Schau trug, war weder komisch noch tragisch, sie war Blut und Gelchter in einem. In die Enge getrieben, kauerte Ham- mersmith hinter seinem Schreibtisch. Auf den sprang jetzt Calloway (er sah so lcherlich aus mit seinen baumelnden Hemdschen und Eiern) und packte Hammersmith an der Krawatte. >Spieerseele, sagte Calloway, der Hammersmiths Herz nun nie mehr kennenlernen sollte, und brach - knacks! - dem Mann das Genick, whrend drunten erneut der Beifall ein- setzte. Umarmt mich dennoch nicht, bis jeder Umstand Von Lage, Zeit und Ort sich fgt und trifft, Da ich Viola bin. Aus Constantias Mund waren die Verse eine Offenbarung. Es war fast so, als ob Was ihr wollt diesmal ein neues Stck und die Rolle der Viola allein fr Constantia Lichfield geschrieben worden wre. Die Schauspieler, die mit ihr auf der Bhne standen, fhlten, wie ihr Ego angesichts einer solchen Bega- bung in sich zusammenschrumpfte. Der letzte Akt nherte sich seinem bittersen Abschlu, und das Publikum war, seiner atemlosen Aufmerksamkeit nach zu urteilen, so bezaubert wie immer. Der Herzog sprach: Gib mir deine Hand, Und la mich dich in Mdchenkleidern sehn. Bei der Probe hatte man die in diesem Vers steckende Aufforde- rung nicht beachtet: Kein Mensch durfte diese Viola berhren, noch viel weniger sie bei der Hand nehmen. Aber in der Hitze der Auffhrung waren solche Tabus vergessen. berwltigt von der Leidenschaft des Augenblicks langte der Schauspieler nach Constantia. Sie verga ebenfalls das Tabu und strecke die Hand aus, um seine Berhrung zu erwidern. In der Seitenkulisse hauchte Lichfield ein geflstertes Nein, aber seine Anordnung blieb ungehrt. Der Herzog umschlo Violas Hand in der seinen, Leben und Tod hielten gemeinsam Hof unter diesem gemalten Himmel. Es war eine frostige Hand, eine Hand ohne Blut in den Adern, ohne Rtung der Haut. Aber hier und jetzt war sie so gut wie lebendig. Sie waren einander gleich, der Lebende und die Tote, und niemand konnte sich veranlat sehen, sie zu trennen. In der Seitenkulisse seufzte Lichfield auf und gestattete sich ein Lcheln. Er hatte diese Berhrung gefrchtet, befrchtet, sie wrde den Bann brechen. Aber heute nacht war Dionysos auf ihrer Seite. Es wrde alles gutgehen, das sprte er. Der Akt ging zu Ende, und Malvolio, der immer noch, selbst in der Niederlage, seine Drohungen hinausposaunte, wurde fort- gekarrt. Die Truppe trat ab, einer nach dem anderen, und berlie es dem Narren, den Schlupunkt zu setzen. Die Welt steht schon eine hbsche Weil', Hopp heisa, bei Regen und Wind! Doch das Stck ist nun aus, und ich wnsch euch viel Heil; Und da es euch knftig so gefallen mag. Die Szene verdmmerte, bis es vllig dunkel war und der Vorhang fiel. Auf der Galerie erhob sich strmischer Beifall, es war jener rasselnde, hohle Beifall. Die Schauspieler, deren Gesichter vom Erfolg der Generalprobe erstrahlten, formierten sich hinterm Vorhang zur Verneigung. Der Vorhang hob sich: der Applaus schwoll an. In der Seitenkulisse stie Calloway zu Lichfield. Er war jetzt angezogen; und er hatte sich das Blut vom Hals gewaschen. Tja, wir machen absolut Furore, sagte der Schdel. Ist schon wirklich ein Jammer, da diese Truppe so bald aufgelst wer- den soll. Ja, wirklich, sagte die Leiche. Die Schauspieler riefen jetzt in die Seitenkulisse nach Cal- loway, forderten ihn auf, sich ihnen anzuschlieen. Sie klatschten ihm Beifall und ermunterten ihn, sich sehen zu lassen. Er legte die Hand auf Lichfields Schulter. Wir gehen zusammen, Sir, sagte er. Nein, nein, wie knnte ich. Sie mssen einfach. Es ist ebensogut Ihr Triumph wie meiner. Lichfield nickte, und zusammen gingen sie hinaus, um inmit- ten der Truppe ihre Verbeugungen zu machen. Hinter der Bhne war Tallulah an der Arbeit. Nach ihrem Schlaf im Knstlerzimmer fhlte sie sich wiederhergestellt. So viele Unannehmlichkeiten waren hingeschwunden, fortge- rumt samt ihrem Leben. Sie litt nicht mehr an den Schmerzen in der Hfte oder an der schleichenden Neuralgie in ihrer Kopfhaut. Sie brauchte nicht mehr durch Luftrhren Atem holen, die mit siebzigjhrigem Schmutz berkrustet waren, oder sich die Handrcken massieren, um die Durchblutung in Gang zu bringen; nicht einmal der Drang zu zwinkern plagte sie. Sie legte das Feuer mit einer neuen Kraft, fhrte die berbleibsel vergangener Inszenierungen einer neuen Bestim- mung zu: alte Prospekte, Requisiten, Kostmteile. Als sie gengend Brennmaterial angehuft hatte, entzndete sie ein Streichholz und hielt die Flamme daran. Das Elysium begann zu brennen. ber den Beifall hinweg rief jemand: Einsame Spitze, meine Sen, einsame Spitze! Es war Diane, sie erkannten sie alle an der Stimme, wenn sie sie auch nicht so recht sehen konnten. Sie torkelte den Mittelgang entlang auf die Bhne zu und gab eine ziemlich lcherliche Figur ab. Bldes Luder, sagte Eddie. Hoppla, sagte Calloway. Sie war jetzt am Bhnenrand und geiferte ihn an: Wunschlos glcklich jetzt, ja ? Mit deiner neuen Herzensflamme da, ja? Ist sie doch, oder? Sie versuchte hinaufzuklettern und hielt sich mit den Hnden an der heien Metallabschirmung der Rampenleuchten fest. Gleich fing die Haut zu schmoren an: der Teufel war wirklich und wahrhaftig los. Reit sie doch jemand da weg, um Gottes willen! rief Eddie. Aber sie sprte augenscheinlich nicht, da ihre Hnde verseng- ten; sie lachte ihm nur ins Gesicht. Der Geruch verbrannten Fleisches stieg von den Rampenleuchten auf. Die Truppe stob auseinander, der Triumph war vergessen. Jemand gellte: Die Beleuchtung aus! Ein Schlag, dann war die Bhnenbeleuchtung gelscht. Diane fiel mit qualmenden Hnden auf den Rcken. Einer wurde ohnmchtig, ein anderer lief in die Seitenkulissen, um sich zu erbrechen. Irgendwo im Hintergrund war schwaches Flam- mengeknister zu hren, aber aller Aufmerksamkeit war ander- weitig in Anspruch genommen. Da die Rampenlichter abgeschaltet waren, konnten sie das Publikum genauer sehen. Das Parkett war leer, aber der erste Rang und die Galerie waren zum Bersten voll mit glhenden Bewunderern. In den Reihen staute sich das Publikum, jeder verfgbare Zentimeter war vollgestopft. Wieder fing droben jemand zu klatschen an, ein paar Sekunden lang allein, bis die Beifallwoge erneut einsetzte. Aber jetzt hatten nur wenige aus der Truppe ihre Freude daran. Selbst von der Bhne aus, selbst mit beranstrengten, licht- berreizten Augen war es offensichtlich, da kein Mann, keine Frau und kein Kind in dieser Schwrmermenge am Leben war. Sie winkten den Schauspielern zu mit feinen Seidentaschent- chern in verwesten Fusten, einige von ihnen trommelten Salut auf die Rcklehne des Vordersitzes, die meisten klatsch- ten einfach, Knochen gegen Knochen. Calloway lchelte, verneigte sich tief und nahm ihre Bewunde- rung mit Dankbarkeit entgegen. In den fnfzehn Jahren seiner Arbeit am Theater war ihm noch nie ein derart anerkennendes Publikum vergnnt gewesen. In der Liebe ihrer Bewunderer badend, reichten sich Constantia und Richard Lichfield die Hand und schritten auf der Bhne nach vorn, um sich nochmals zu verneigen. Die lebenden Schauspieler hingegen wichen zurck vor Grausen. Sie fingen an zu kreischen oder zu beten, sie brachen in Geheul aus und rannten irr umher wie frisch ertappte Ehebrecher in einer Farce. Aber wie in der Farce gab es keinen Ausweg aus der Lage. Grelle Flammen zngelten an den Dachquerbalken, und Leinwandwogen strzten in Kaskaden links und rechts herab, als der Schnrboden Feuer fing. Vorn: die Toten; hinten: der Tod. Der Rauch lie die Luft knapp werden. Man konnte berhaupt nicht mehr sehen, wo man den nchsten Schritt hinsetzte. Jemand trug eine Toga aus brennender Leinwand und seine Rezitation waren Schreie. Ein andrer schwang einen Feuerlscher gegen das Inferno. Alles vergeblich: eine mde Pantomime, schlecht bewltigt. Als das Dach nachzugeben begann, strzten Bauholz und Eisentrger todbringend herab und brachten das meiste zum Schweigen. Auf der Galerie war die Besucherschar mehr oder minder dahingeschwunden. Lang bevor noch die Feuerwehr auf- tauchte, schlenderten alle gemchlich zu ihren Grbern zurck; die Feuersglut beleuchtete ihre Totenhemden und ihre Gesichter, wenn sie ber die Schulter zurckblickten, um dem Untergang des Elysiums zuzusehen. Es war eine blendende Inszenierung gewesen, und sie waren froh, nach Hause zu kommen, durchaus bereit, wieder eine Zeitlang in der Dunkel- heit zu tratschen. Das Feuer brannte die ganze Nacht, ungeachtet der stets tapferen Anstrengungen der Feuerwehr, es zu lschen. Gegen vier Uhr morgens gab man den Kampf auf und lie die Feuersbrunst gewhren. Sie war bei Tagesanbruch mit dem Elysium fertig. In den Trmmern entdeckte man die sterblichen berreste mehrerer Personen, die meisten Leichen waren in einem Zustand, der eine einfache Identifizierung unmglich machte. Zahnrztliche Unterlagen wurden zugezogen, und man bestimmte einen Leichnam als den von Giles Hammersmith (Geschftsfhrer), einen weiteren als den von Ryan Xavier (Bhneninspizient) und, schockierenderweise, einen dritten als den von Diane Duvall. STAR VON DAS KIND DER LIEBE VERBRANNT, hie es in der Boulevardpresse. Innerhalb einer Woche war sie vergessen. Es gab keine berlebenden. Mehrere Opfer wurden einfach nie gefunden. Sie standen neben der Autobahn und sahen zu, wie die Wagen durch die Nacht jagten. chfield war selbstverstndlich dabei und Constantia, strah- lend wie immer. Calloway hatte sich entschlossen, mit ihnen zu gehen, ebenso Eddie und Tallulah. Auch drei oder vier andere hatten sich der Truppe angeschlossen. Es war die erste Nacht ihrer Freiheit, und schon waren sie hier auf der Strae, reisende Schauspieler. Eddie hatte allein der Rauch gettet, aber es gab in ihrem Kreis welche mit ernst- hafteren, im Feuer davongetragenen Verletzungen. Ver- brannte Leiber, zerbrochene Glieder. Aber das Publikum, fr das sie in Zukunft spielen wollten, wrde ihnen die geringfgi- gen Verstmmelungen verzeihen. Man kann ein Leben fr die Liebe leben, sagte Lichfield zu seinem neuen Ensemble, und ein Leben fr die Kunst. Wir glckliche Schar sind von letzterem berzeugt. Leiser Beifall unter den Schauspielern. Zu euch, die nie gestorben sind, darf ich wohl sagen: Will- kommen in der Welt! Gelchter, weiterer Applaus. Die Lichter der Wagen, die auf der Autobahn nach Norden rasten, lieen die Schattenrisse der Truppenmitglieder hervor- treten. Sie sahen praktisch und letztlich wie lebende Mnner und Frauen aus. Aber war das schlielich nicht das A und O ihres Handwerks? Das Leben so gut nachzuahmen, da das Trugbild vom Original ununterscheidbar war? Und ihre neue Theatergemeinde, die sie in den Leichenhallen, Friedhfen und Beinhusern erwartete, wrde diese Kunstfertigkeit mehr als die meisten zu schtzen wissen. Wer sollte wohl das Blendwerk von Leidenschaft und Schmerz, das sie auffhren wollten, beiflliger begren als die Toten, die solche Gefhle am eignen Leib erlebt und am Ende von sich geworfen hatten? Die Toten. Sie brauchten Unterhaltung geradesogut wie die Lebenden; und sie waren ein strflich vernachlssigter Markt. Was freilich nicht hie, da diese Truppe um Geld spielen wollte; sie wollte um der Liebe zu ihrer Kunst willen spielen. Lichfield hatte das gleich zu Anfang klargemacht: Apollo war mit sofortiger Wirkung der Dienst aufgekndigt. Also, sagte er, welche Route nehmen wir, nach Norden oder Sden? Nach Norden, sagte Eddie. Meine Mutter liegt in Glasgow begraben, sie ist gestorben, ehe ich noch Berufsschauspieler war. Ich htte gern, da sie mich sieht. Gut dann, nach Norden! sagte Lichfield. Jetzt brauchen wir nur noch ein Gefhrt. Er ging ihnen Richtung Autobahnraststtte voran; die Neon- lichter flackerten unruhig und verbannten die Nacht aus ihrem Umkreis. Die Farben waren theatralisch grell: Scharlach, Zitrusgrn, Kobalt und ein verwaschenes Wei, das sich aus den Fenstern auf den Parkplatz ergo, wo sie standen. Die automatischen Tren zischten, als ein Reisender herauskam, der dem Kind auf dem Rcksitz seines Wagens Kuchen und Hamburger mitbrachte. Bestimmt hat irgendein netter Fahrer noch ein Pltzchen fr uns frei, sagte Lichfield. Fr uns alle? fragte Calloway. In einem Lastwagen schon; Bettler drfen keine zu hohen Ansprche stellen, sagte Lichfield. Und Bettler sind wir jetzt: den Launen unsrer Gnner ausgeliefert. Wir knnen immer noch ein Auto klauen, sagte Tallulah. Zu Diebstahl besteht kein Anla, auer in extremen Notfl- len, sagte Lichfield. Es sollte mich wundern, wenn Constan- tia und ich keinen Chauffeur auftreiben. Er nahm seine Frau bei der Hand. Der Schnheit kann keiner was abschlagen, sagteer. Und was sollen wir machen, wenn jemand fragt, was wir hier treiben? fragte Eddie nervs. Er hatte sich in dieser Rolle noch nicht zurechtgefunden; er brauchte moralische Unter- sttzung. Lichfield wandte sich der Truppe zu, und seine Stimme drhnte in der Nacht: Was sollt ihr wohl machen? sagte er. Das Leben spielen, selbstverstndlich! Und lcheln! Erst nach der ersten Woche ihrer Jugoslawienfahrt entdeckte Mick, was fr einen politisch verbohrten Dogmatiker er sich als Lover zugelegt hatte. Sicher, man hatte ihn gewarnt. Eine der Schwuchteln in der Badeanstalt hatte ihm gesagt, Judd wre ppstlicher als der Papst, der reine Kommunistenfresser, aber der Typ war einer von Judds Verflossenen gewesen, und Mick hatte angenommen, da dieser Rufmord mehr auf Gehssig- keit als auf Erfahrung basierte. Htte er doch drauf gehrt! Dann wrde er jetzt nicht in einem Volkswagen, der mit einem Mal die Gre eines Sarges zu haben schien, eine endlose Strae entlangfahren und sich Judds Ansichten ber den Expansionsdrang der Sowjets anhren. Gott, wie der ihn andete! Der redete nicht normal mit ihm, der hielt Vortrge, und das endlos. In Italien war der Sermon mehr oder minder darauf hinausgelaufen, da die Kommuni- sten den buerlichen Whlerauftrag ausgentzt htten. Jetzt, in Jugoslawien, hatte sich Judd so richtig fr sein Thema erwrmt, und Mick war drauf und dran, ihm mit dem Hammer eins ber den restlos von sich eingenommenen Schdel zu braten. Nicht da er alles, was Judd sagte, abgelehnt htte. Manche seiner Argumente (diejenigen, die Mick verstand) klangen ganz vernnftig. Aber andererseits, was konnte er schon beur- teilen? Er war Tanzlehrer. Judd war Journalist, ein professio- neller Besserwisser. Wie die meisten Journalisten, die Mick untergekommen waren, fhlte er sich verpflichtet, zu allem und jedem eine Meinung parat zu haben. Politik ganz obenan; das war der beste Trog zum Sich-drin-Suhlen. Man konnte den Rssel samt Augen, Kopf und Vorderfen in diesen Dreckfra stecken, ihn in der Gegend rumspritzen und sich auf die Weise bestens amsieren. Ein zum Runterschlabbern unerschpfli- cher Gegenstand, ein Schweinetrank mit einem bichen von allem drin, denn schlielich war Judd zufolge alles politisch. Die Knste waren politisch. Sex war politisch. Religion, Han- del, Gartenarbeit, essen, trinken und furzen - alles politisch. Mann, war das zum Verrcktwerden andend; ttete einem den Nerv, vergraulte einem die Liebe; mrderisch andend. Und, schlimmer noch, Judd bemerkte anscheinend nicht, wie angedet Mick mittlerweile war, oder wenn er es bemerkte, dann war's ihm egal. Er schwafelte einfach weiter, seine Argu- mente wurden immer fadenscheiniger, seine Stze mit jedem Kilometer, den sie fuhren, lnger. Judd war, das stand fr Mick jetzt fest, ein egoistischer Schei- er, und sobald ihre Hochzeitsreise vorbei wre, wrde er den Kerl sausenlassen. Erst bei ihrer Tour, jener endlosen, sinn- und zwecklosen Karawane durch die Friedhfe mitteleuropischer Kultur, erkannte Judd, was fr einen politischen Blindgnger er sich mit Mick eingehandelt hatte. Der Bursche zeigte herzlich wenig Interesse an der Wirtschaft oder Politik der Lnder, durch die sie kamen. Gegenber den der Situation Italiens zugrunde liegenden knallharten Fakten erwies er sich als gleichgltig, und er ghnte, ja, ghnte, wenn er (freilich ver- geblich) versuchte, die Bedrohung des Weltfriedens durch Ruland zu errtern. Er mute der bitteren Wahrheit ins Auge sehen: Mick war eine Schwuchtel; das war die einzig passende Bezeichnung fr ihn. Schn, vielleicht knstelte er nicht wei- bisch nun oder behngte sich bermig mit Schmuck, aber trotzdem war er 'ne Schwuchtel, die sich berglcklich in einer Traumwelt aus Frhrenaissancefreskos und jugoslawischen Ikonen suhlte. Die komplexen Faktoren, die Widersprche, ja die Qualen, die jene Kulturen erblhen und welken lieen, langweilten ihn blo. Seine geistige Substanz war um nichts bedeutsamer als sein Aussehen; er war eine appetitliche Null. Nette Hochzeitsreise, das. Die Strae sdlich von Belgrad nach Novi Pazar war, nach jugoslawischen Mastben, gut. Es gab weniger Schlaglcher als auf vielen Straen ihrer bisherigen Reise, und sie war verhltnismig gerade. Das Stdtchen Novi Pazar lag im Tal der Raska, sdlich der Stadt, die nach dem Flu benannt war. Die Gegend schien bei den Touristen nicht besonders beliebt. Trotz der guten Strae war sie noch immer unzugnglich und hatte auch keine berragenden Attraktionen zu bieten; aber Mick wollte unbedingt das Kloster westlich des Stdtchens Sopocani besichtigen, und nach einigem erbitterten Wortge- plnkel hatte er sich durchgesetzt. Der Abstecher erwies sich als wenig anregend. Die bebauten Felder zu beiden Seiten der Strae sahen versengt und staubig aus. Der Sommer war ungewhnlich hei gewesen, und Dr- reperioden machten vielen Drfern zu schaffen. Es hatte Mi- ernten gegeben, und oft mute der Viehbestand vorzeitig geschlachtet werden, um zu verhindern, da er an Unterernh- rung einging. Ein entmutigter Ausdruck lag ber den wenigen Gesichtern, die sie flchtig am Straenrand zu sehen bekamen. Selbst die Kinder hatten dstere Mienen; Stirnen so druend wie die abgestandene Hitze, die ber dem Tal lastete. Nach einem Krach bei Belgrad waren die Karten auf dem Tisch; jetzt fuhren sie die meiste Zeit ber schweigend dahin. Aber die gerade Strae forderte wie die meisten geraden Straen zum Disput heraus. Wenn das Fahren keine Probleme bereitete, stberte das Bewutsein nach etwas herum, womit es sich inzwischen beschftigen konnte. Und was ist besser als ein Streit? Warum, verdammt, mut du dieses elende Kloster besichti- gen? begehrte Judd auf. Eine unmiverstndliche Herausforderung. Wo wir jetzt schon so weit gekommen sind... Mick ver- suchte, einen harmlosen Plauderton beizubehalten. Er hatte keine Lust, sich rumzuzanken. Noch so'n paar bekackte Jungfrauen, oder? Mick nahm den Reisefhrer zur Hand und las, die Stimme so cool, wie es irgend ging, laut daraus vor: ... fr den Kunst- liebhaber sind dort bis heute einige der grten Werke serbi- scher Malerei zu besichtigen, insbesondere die >Ruhesttte der Jungfrau<, nach einhelliger Meinung vieler Kommentatoren das bleibende Meisterwerk der Raska-Schule. Schweigen. Dann Judd: Mir stehn die Kirchen bis hier oben. Es ist ein Meisterwerk. Sind immer Meisterwerke, wenn's nach diesem Scheibuch geht. Mick sprte, wie er langsam die Beherrschung verlor. Hch- stens zweieinhalb Stunden... Ich hab' dir's gesagt, ich will keine Kirche mehr sehen; bringt mich zum Kotzen, wie's dort riecht. Kalter Weihrauch, alter Schwei und Lgenmrchen... Ist doch nur ein kurzer Umweg; wir knnen dann wieder auf die Hauptstrecke, und du kannst mir die nchste Vorlesung ber Landwirtschaftssubventionen im Sandzak-Gebiet hal- ten. Ich versuch' lediglich, irgendeine halbwegs passable Unter- haltung in Gang zu bringen - statt diesem endlosen Geseiche ber bekackte serbische Meisterwerke... Halt an! Was? Halt an! Judd lenkte den Volkswagen an den Straenrand. Mick stieg aus. Die Strae war hei, aber es ging eine leichte Brise. Er holte tief Luft und schlenderte zur Straenmitte. Leer in beiden Rich- tungen, kein Verkehr, kein Mensch. Leer nach allen Richtun- gen. Die Berge schimmerten in der Hitze, die von den Feldern aufstieg. Mohnblumen wuchsen in den Grben. Mick ber- querte die Strae, ging in die Hocke und pflckte eine. Hinter sich hrte er die VW-Tr zuknallen. Wozu haben wir hier eigentlich halten mssen? fragte Judd. Seine Stimme klang gereizt, hoffte noch immer auf den Streit, bettelte darum. Mick stand auf und spielte dabei mit der Mohnblume. Sie war kurz vor dem Ausstreuen der Samen, fast reif. Die Bltenblt- ter fielen von der Kapsel ab, sobald er sie berhrte; kleine Spritzer Rot flatterten auf den grauen Straenbelag hinunter. Ich hab' dich was gefragt, sagte Judd wieder. Mick schaute sich um. Judd stand auf der anderen Seite des Wagens, seine Augenbrauen eine zusammengezogene Linie, aus der die Wut hervorsprote. Aber bildhbsch; o ja; ein Gesicht, das Frauen zum Weinen brachte vor Frustriertheit, da er schwul war. Ein dichter schwarzer Schnurrbart (vollen- det gestutzt) und Augen, die man ewig betrachten konnte, ohne zweimal dasselbe Leuchten in ihnen zu sehen. Warum, um Himmels willen, dachte Mick, mu ein so prachtvoller Mann solch ein unsensibler kleiner Scheier sein? Judd starrte ber die Strae zu dem hbschen schmollenden Jungen hinber und erwiderte dessen verchtlichen, abscht- zenden Blick. Er bekam das kalte Kotzen angesichts des Thea- ters, mit dem sich Mick da produzierte. Bei einer sechzehnjh- rigen Jungfrau htte man sich das allenfalls noch eingehn lassen. Bei einem Fnfundzwanzigjhrigen war es einfach unglaubwrdig. Mick lie die Blume fallen und zog sein T-Shirt aus den Jeans. Ein fester Bauch, dann ein schlanker, glatter Brustkorb kamen zum Vorschein, whrend er es auszog. Als sein Kopf wieder auftauchte, war sein Haar zerrauft und ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. Judd sah den Torso an. Gerade richtig, nicht zu muskuls. Eine Blinddarmnarbe lugte ber den Rand der verwaschenen Jeans. Eine goldene Kette - schmal zwar, aber die Sonne fing sich in ihr - senkte sich in seine Kehlgrube. Ohne da er es beabsichtigte, erwiderte er Micks Grinsen, und eine Art Frieden wurde zwischen ihnen geschlossen. Mick schnallte jetzt den Grtel auf. Magst du ficken? fragte er, und das Grinsen blieb unvern- dert. Es hat keinen Sinn, kam die Antwort, wenn auch nicht auf diese Frage. Was hat keinen?! Wir passen einfach nicht zusammen. Wetten, da? Jetzt hatte er den Reiverschlu auf und wandte sich fort zu dem Weizenfeld, das bis an die Strae heranreichte. Judd sah zu, wie Mick sich eine Schneise durch den wogenden See bahnte; sein Rcken hatte die Farbe des Getreides, so da er fast in dieser Tarnung verschwand. Ganz schn riskant, im Freien zu bumsen - sie waren hier nicht in San Francisco, nicht mal in Hampstead Heath. Nervs schaute Judd die Strae runter. Noch immer menschenleer in beiden Richtungen. Und Mick drehte sich um, tief drinnen im Feld, drehte sich um und winkte wie ein Schwimmer, der in einer goldenen Brandung nach oben geschnellt wird. Schei drauf... niemand wrde was mitkriegen, niemand was erfahren. Blo die Berge, vom Hitzeschleier verflssigt, die ihre bewaldeten Rcken dem ersten Tun der Erde zugeneigt hatten, und ein verlorener Hund, der am Straenrand sa und auf irgendeinen verlorenen Herrn wartete. Judd folgte Micks Pfad durch den Weizen und knpfte beim Gehen das Hemd auf. Feldmuse liefen vor ihm her, huschten durch die Halme, als der Riese mit Donnerfen des Weges kam. Judd lchelte angesichts ihres Entsetzens. Er wollte ihnen nichts Bses, aber woher konnten sie das schlielich wissen? Womglich hatte er hundert Leben - Muse, Kfer, Wrmer - ausgelscht, bevor er die Stelle erreichte, wo Mick auf einem Bett aus zertrampeltem Getreide lag, splitternackt bis auf die Eier, und noch immer grinste. Nichts auszusetzen an der Art, wie sie sich liebten: gekonnt und kraftvoll - fr jeden gleich viel Lust. Ihre Leidenschaft hatte etwas Przises, sprte den Moment heraus, von dem ab mhelose Wonne dringlich wurde, Begierde umschlug in Not- wendigkeit. Sie waren ineinander verschlungen, Glied um Glied, Zunge um Zunge, zu einem Knuel, das nur der Orgas- mus auflsen konnte; abwechselnd versengten und zerkratzten sie sich den Rcken, wenn sie sich umherwlzten und Schwanz- und Lippenksse tauschten. Auf dem Hhepunkt, als sie gemeinsam abspritzten, hrten sie das Tuff-Tuff-Tuff eines vorbeifahrenden Traktors, aber das kmmerte sie lngst nicht mehr. Dann machten sie sich wieder auf den Weg zum Volkswagen, vom Krper zerdroschenen Weizen in Haar und Ohren, in den Socken und zwischen den Zehen. Ein entspanntes Lcheln hatte ihr Grinsen ersetzt: Der Waffenstillstand wrde, wenn er auch nicht endgltig war, zumindest ein paar Stunden dauern. Im Wagen war es kochendhei, und sie muten, ehe sie nach Novi Pazar weiterfuhren, alle Fenster und Tren ffnen, damit ihn der Luftzug abkhlte. Es war vier Uhr, und sie hatten noch eine Stunde Fahrt vor sich. Als sie ins Auto stiegen, sagte Mick: Das Kloster schenken wir uns, ja? Judd war baff. Ich hab' gedacht... Noch so 'ne bekackte Jungfrau halt' ich nicht mehr aus... Beide lachten sie herzlich, kten sich dann, schmeckten ein- ander und sich selbst, ein Sich-Vermischen von Speichel mit dem Nachgeschmack salzigen Samens. Der folgende Tag war blendend hell, aber nicht besonders warm. Kein blauer Himmel: nur eine gleichmige weie Wolkendecke. Die Morgenluft drang beiend in die Nasen- schleimhaut wie ther oder Pfefferminz. Auf dem Hauptplatz von Popolac sah Vaslav Jelovsek den Tauben zu: Sie forderten den Tod heraus mit ihrem Gehpfe und Geflatter vor den herumsausenden Fahrzeugen, die milit- rische oder zivile Aufgaben zu erledigen hatten. Die Atmo- sphre nchterner Zweckmigkeit unterdrckte kaum die Erregung, die er an diesem Tag versprte, eine Erregung, von der er wute, da sie von jedem Mann, jeder Frau, jedem Kind in Popolac geteilt wurde. Auch von den Tauben wurde sie geteilt, soviel er wute. Mglicherweise spielten sie deswegen so beraus geschickt zwischen den Rdern, wohl wissend, da ihnen an diesem Tag der Tage nichts Bses geschehen konnte. Er musterte nochmals den Himmel, jenen weien Himmel, den erseit Tagesanbruch beguckt hatte. Die Wolkendecke hing tief; nicht ideal fr die Feierlichkeiten. Eine Redewendung kam ihm in den Sinn, eine englische Redewendung, die er einen Freund hatte sagen hren: den Kopf in den Wolken haben. Sie bedeutete, schlo er intuitiv, von trumerischer Geistesabwe- senheit, einem weien gesichtslosen Traum umfangen zu sein. Das war alles, was der Westen ber Wolken wute, dachte er sarkastisch: da sie ein Sinnbild fr Trume waren. Es bedurfte schon einer Vorstellungskraft, die den Westlern fehlte, um diese beilufige Redewendung buchstbliche Wahrheit werden zu lassen. Wrden sie nicht hier, in diesem abgelegenen Berg- land, diesen leeren Worten zu einer aufsehenerregenden Wirk- lichkeit verhelfen? Sozusagen eine fleischgewordene Redens- art: Ein Kopf in den Wolken. Schon stellte sich das erste Kontingent auf dem Platz auf. Einer oder zwei waren aus Krankheitsgrnden nicht angetreten, aber Reserveleute standen bereit und warteten darauf, ihre Pltze einzunehmen. Solcher Eifer! Solch tiefzufriedenes Lcheln, wenn ein Reservist beziehungsweise eine Reservistin sich mit Name und Zahl aufgerufen hrte und aus der Formation trat, um sich in das Glied zu fgen, das bereits Gestalt annahm. Ringsum wahre Wunder an Organisation. Jeder hatte seine spezielle Aufgabe zu erledigen, seinen besonderen Platz einzu- nehmen. Kein Geschrei oder Gedrnge: In der Tat, der Stimm- pegel hob sich kaum ber ein eifriges Geflster. Voll Bewunde- rung sah er zu, wie die Arbeit des In-Stellung-Bringens und Anschnallens, des Stauchens und Vertuens voranging. Es wrde ein langer, anstrengender Tag werden. Vaslav war seit einer Stunde vor Tagesanbruch auf dem Platz; er trank Kaffee aus importierten Plastikbechern, errterte die halbstndigen Wettermeldungen, die aus Pristina und Mitrovica hereinkamen und hatte den sternenlosen Himmel beobachtet, als diesen das graue Morgenlicht berkroch. Jetzt trank er schon seine sechste Tasse Kaffee an diesem Tag, und es war noch kaum sieben Uhr. Metzinger, drben auf der anderen Seite des Platzes, wirkte ebenso mde und besorgt, wie sich Vaslav fhlte. Gemeinsam hatten sie die Dmmerung aus dem Osten hervor- sickern sehen, Metzinger und er. Aber jetzt hatten sie sich, unter Hintansetzung ihrer Kameradschaft, getrennt und wrden nicht mehr miteinander reden, bis der Wettstreit vorbei war. Schlielich war er aus Podujevo. Im bevorstehenden Kampf hatte er seine eigene Stadt zu untersttzen. Morgen wrden er und Metzinger die Erfahrungsberichte ihrer Abenteuer austau- schen, aber heute muten sie sich so verhalten, als ob sie sich nicht kennen wrden, durften zwischen sich nicht einmal ein Lcheln aufkommen lassen. Heute hatten sie absolute Partei- gnger zu sein und sich nur um den Sieg ihrer eignen Stadt bers gegnerische Lager zu kmmern. Jetzt war, zur beiderseitigen Genugtuung von Metzinger und Vaslav, das erste Bein von Popolac aufgerichtet. Alle Sicher- heitskontrollen waren peinlich genau eingehalten worden, und das Bein verlie den Platz, riesig fiel sein Schatten ber die Vorderfront des Rathauses. Vaslav schlrfte seinen sen, sen Kaffee und gestattete sich ein kleines zufriedenes Grunzen. Sagenhaft, unbe- schreiblich diese Tage, Tage voller Ruhm und voll knatternder Flaggen; und dieser Blick in die Hhe, da es einem im Magen schwindlig wurde. Davon konnte ein Mann sein ganzes Leben lang zehren. Es war ein goldner Vorgeschmack auf den Himmel. Soll Amerika mit seinen unbedarften Freunden selig werden, mit seinen Zeichentrickmusen, seinen Zuckerguschlssern, seinen Kulten und Technologien - er konnte darauf verzich- ten. Das grte Wunder der Welt war hier, im Bergland verborgen. Ach, diese sagenhaften Tage. Auf dem Hauptplatz von Podujevo war die Szene nicht weni- ger lebendig und nicht weniger mitreiend. Vielleicht lag der diesjhrigen Feier eine gedmpfte Traurigkeit zugrunde, aber das war verstndlich. Nita Obrenovic, Podujevos geliebte und hochgeschtzte Organisatorin, war nicht mehr am Leben. Der vorangegangene Winter hatte sie im Alter von vierundneun- zig hinweggerafft, wodurch die Stadt ihrer rigorosen Ansich- ten und noch rigoroseren Grenverhltnisse beraubt worden war. Sechzig Jahre lang hatte Nita mit den Brgern von Podujevo zusammengearbeitet, immer schon den nchsten Wettstreit vorausgeplant und an den Baukonstruktionen Ver- besserungen vorgenommen; ihre ganze Energie hatte sie dar- auf verwendet, die nchste Kreation noch anspruchsvoller und noch lebensnher zu gestalten als die letzte. Jetzt war sie tot, und man vermite sie schmerzlich. Zwar griffen in den Straen auch ohne sie keine Auflsungserschei- nungen um sich, dazu waren die Leute viel zu gut geschult, aber sie kamen bereits mit dem Zeitplan in Verzug, und dabei war es erst fnf vor halb acht. Nitas Tochter hatte anstelle ihrer Mutter die Leitung bernommen, aber ihr fehlte Nitas Autori- tt, um die Leute in Schwung zu bringen. Sie war, mit einem Wort, zu weich fr diese Aufgabe. Die erforderte einen Anfh- rer, der die Brger mit Schmeicheln, Zwang und Begeisterung ihren Platz einnehmen lie, der zum Teil Prophet und zum Teil Zirkusdirektor war. Womglich wrde es Nita Obrenovics Tochter nach zwei oder drei Jahrzehnten und mit ein paar Wettstreiten mehr in der Tasche schaffen. Aber fr den heuti- gen Tag befand sich Podujevo im Rckstand; man war dabei, ber Sicherheitskontrollen hinwegzusehen; nervse Blicke verdrngten die Zuversicht frherer Jahre. Nichtsdestoweniger rckte sechs Minuten vor acht das erste Krperglied von Podujevo zur Stadt hinaus Richtung Sammel- punkt, um dort auf seinen Genossen zu warten. Ungefhr zur selben Zeit wurden in Popolac bereits die Flanken miteinander verzurrt, und bewaffnete Kontingente erwarteten auf dem Hauptplatz ihre Befehle. Mick erwachte pnktlich um sieben, obwohl es in ihrem einfach mblierten Zimmer im Hotel Beograd keinen Wecker gab. Er lag in seinem Bett und lauschte Judds regelmigen Atemzgen aus dem Bett an der gegenberliegenden Wand. Ein trbes Morgenlicht flirrte durch die dnnen Vorhnge und ermunterte nicht gerade zu einem frhen Aufbruch. Nachdem er ein paar Minuten die von Sprngen durchzogene Decke und etwas lnger das grob geschnitzte Kruzifix an der gegenberlie- genden Wand angestarrt hatte, stand Mick auf und ging zum Fenster. Es war, wie vermutet, ein trber Tag. Der Himmel war bedeckt, und die Dcher von Novi Pazar lagen grau und verwaschen in dem glanzlosen Morgenlicht. Aber ber die Dcher hinaus, weiter stlich, konnte er die Hgel sehen. Dort schien Sonne. Er konnte sehen, wie Lichtbndel das Blaugrn des Waldes streiften und zu einem Besuch der Hnge einluden. Heute wrden sie womglich Richtung Sden nah Kosovska Mitrovica reisen. Gab's dort nicht einen Markt und ein Museum? Und sie knnten das Ibar-Tal runterfahren, der Strae neben dem Flu folgen, wo auf beiden Seiten die Berge wild und leuchtend in die Hhe stiegen. Die Berge, ja: Heute wrden sie sich die Berge ansehen, sein Entschlu stand fest. Es war viertel neun. Gegen neun waren die Krperrmpfe von Popolac und Podu- jevo im groen und ganzen montiert. In ihren zugeteilten Bezirken warteten die Gliedmaen beider Stdte einsatzbereit darauf, sich ihren Torsi in spe anzuschlieen. Vaslav Jelovsek beschirmte mit behandschuhten Hnden seine Augen und inspizierte den Himmel. Die Wolkenbasis war ganz zweifellos in der letzten Stunde gestiegen, und gegen Westen zeigten sich Risse in der Wolkendecke; gelegentlich blinzelte sogar flchtig die Sonne durch. Vielleicht wrde es nicht gerade ein idealer Tag fr den Wettkampf werden, ein ange- messener jedoch mit Sicherheit. Mick und Judd frhstckten spt, Sinkenmittai - was man halbwegs als Schinken mit Ei gelten lassen konnte - und mehrere Tassen guten schwarzen Kaffee. Selbst in Novi Pazar hellte es sich jetzt auf, und ihre Ziele waren weit gesteckt: Kosovska Mitrovica gegen Mittag und eventuell nachmittags eine Besichtigung der Bergfeste Zvecan. Gegen halb zehn verlieen sie Novi Pazar Richtung Sden und *nahmen die Strae nach Srbovac zum Ibar-Tal. Keine gute Strae, aber die Ste und Schlaglcher konnten ihnen den neuen Tag nicht vermiesen. Bis auf einen gelegentlichen Fugnger war die Strae leer; anstelle der Mais- und Getreidefelder, an denen sie am Vortag vorbeigekommen waren, sumten hier wellenfrmig gestaf- felte Hgel mit dicht und dunkel bewaldeten Hngen die Strae. Auer ein paar Vgeln sahen sie kein Tier. Selbst die sporadischen Passanten fehlten nach ein paar Kilometern vl- lig, und die vereinzelten Bauernhuser, an denen sie vorbei- fuhren, waren augenscheinlich abgesperrt und dichtgemacht. Schwarze Schweine tummelten sich vernachlssigt im Hof, kein Kind war da, sie zu fttern. Wsche flappte und blhte sich an durchhngenden Leinen, keine Wscherin war in Sicht. Anfangs war diese einsame Reise ohne jeden menschlichen Kontakt durch das Bergland erfrischend, aber als der Morgen fortschritt, berkam sie allmhlich ein Unbehagen. Htte da nicht ein Wegweiser nach Mitrovica kommen ms- sen, Mick? Er studierte die Karte. Womglich... ... sind wir auf der falschen Strae. Also, wenn ein Wegweiser dagewesen wre, dann htte ich ihn auch gesehen. Am besten, wir schauen, da wir von dieser Strae runterkommen und uns ein bichen mehr nach Sden halten - dann stoen wir nher bei Mitrovica auf das Tal. Und wie kommen wir von dieser elenden Strae runter? Sind schon an einigen Abzweigungen vorbei... Dreckpisten. Ja, entweder die, oder wir mssen weiter geradeaus. Judd verkniff die Lippen. Bitte 'ne Zigarette, sagte er. Sind schon seit Kilometern alle. Vor ihnen bildeten die Berge eine undurchdringliche Linie. Kein Lebenszeichen gab's da; keinen zartgekruselten Kamin- rauch, kein Stimmen- oder Fahrzeuggerusch. >Also gut, sagte Judd, wir nehmen die nchste Abzweigung. Schlimmer kann's auf keinen Fall werden. Sie fuhren weiter. Der Straenzustand verschlechterte sich rapide, aus den Schlaglchern wurden Krater, die Bodenerhe- bungen sprte man wie Krper unter den Rdern. Dann: Da! Eine Abzweigung: eine mit Hnden zu greifende Abzweigung. Freilich, keine Hauptstrae. Genaugenommen nicht einmal die Dreckpiste, als die Judd die anderen Straen eingestuft hatte, aber ein Ausweg aus der endlosen Perspektive der Strae, von der sie nicht mehr runtergekommen waren. Wchst sich zu 'ner elenden Safari aus, sagte Judd, als der VW sich auf der trbseligen Fahrspur voranzustoen und voranzuschrfen begann. Wo bleibt dein Sinn frs Abenteuer? Den hab' ich vergessen einzupacken. Jetzt ging es bergauf: Der Pfad wand sich hinein in die Berge. Der Wald schlo sich ber ihnen, lschte den Himmel aus, und beim Fahren huschte ein schillerndes Flickwerk aus Licht und Schatten ber die Motorhaube. Pltzlich der Gesang eines Vogels, sinnleer und optimistisch, und der Geruch junger Kiefern und unberhrter Erde. Droben, weiter vorn, ber- querte ein Fuchs den Weg und verhielt, whrend der Wagen auf ihn zubrummte, einen langen Augenblick beobachtend. Dann schlenderte er mit dem gemchlichen Schritt eines furchtlosen Prinzen ins Dickicht. Egal, wo wir hinkommen, dachte Mick, jedenfalls besser als die Strae, die wir verlassen haben. Schlimmstenfalls wrden sie bald anhalten und ein Stck zu Fu gehen, um eine Anhhe zu finden, von der aus sie das Tal sehen konnten - und vielleicht Novi Pazar, friedlich hinter ihnen hingekuschelt. Die zwei Mnner waren noch eine Fahrtstunde von Popolac entfernt, als der Kopf des Kontingents endlich vom Hauptplatz abmarschierte und seinen Platz am Krperrumpf einnahm. Nach diesem letzten Abgang blieb die Stadt vollkommen aus- gestorben zurck. Nicht einmal die Kranken oder die Alten blieben an diesem Tag zurck; keinem einzigen sollten das Schauspiel und der Triumph des Wettstreits vorenthalten wer- den. Jeder Brger, wie jung oder gebrechlich auch immer-die Blinden, die Verkrppelten, die Suglinge auf den Armen, schwangere Frauen -, alle kamen aus ihrer stolzen Stadt hinauf zum Festplatz. Das Gesetz verlangte ihr Zugegensein. Aber es htte des Nachdrucks nicht bedurft. Kein Brger der beiden Stdte htte die Gelegenheit versumt, sich diese Sehenswr- digkeit anzusehen - den Erregungsschauer dieses Wettstreits mitzuerleben. Die Konfrontation mute allumfassend sein, Stadt gegen Stadt. So hatte es sich immer abgespielt. Dergestalt gingen die Stdte hinauf in die Berge. Gegen Mittag waren sie versam- melt, die Brger von Popolac und Podujevo, im geheimen Geviert der Hgel, vor zivilisierten Augen verborgen, um den alten rituellen Zweikampf auszutragen. Zehntausende Herzen schlugen schneller. Zehntausende Lei- ber dehnten und strafften sich und schwitzten, als die Zwil- lingsstdte ihre Stellungen bezogen. Die Schatten der Krper verdunkelten Gelndeflchen vom Ausma ganzer Marktflek- ken; das Gewicht ihrer Fe zertrampelte das Gras zu grner Milch; ihre Bewegung ttete Tiere, zermalmte Buschwerk und warf Bume nieder. Die Erde widerhallte buchstblich bei ihrem Vorbeizug. Das Echo der Berge verdoppelte das drh- nende Getse ihrer Schritte. Im sich auftrmenden Krper Podujevos traten ein paar techni- sche Mngel ans Licht. Ein leichter Fehler im Verknpfungssy- stem der linken Flanke hatte dort eine Schwche zur Folge gehabt, was wiederum Probleme im Schwenkmechanismus der Hften nach sich zog. Sie waren starrer, als sie sein sollten, und die Bewegungen verliefen nicht stofrei-flssig. Infolgedessen war jetzt dieser Bereich der Stadt einer erheblichen Beanspru- chung ausgesetzt. Unerschrocken versuchte man, mit ihr zurechtzukommen; schlielich war der Wettstreit dazu be- stimmt, den Kmpfern das uerste abzuverlangen. Aber die Zerreischwelle war nher, als irgend jemand zuzugeben gewagt htte. Die Brger waren nicht so krftig, wie sie es bei vorangehenden Wettkmpfen gewesen waren. Ein Jahrzehnt der Miernten hatte weniger wohlgenhrte Krper, weniger biegsame Rckgrate, weniger entschlossene Willenskrfte zur Folge gehabt. Die schlecht verknpfte Flanke htte, fr sich genommen, noch keinen Unfall zu verursachen brauchen, aber angesichts der Schwchen der Kampf teilnehmer wurde sie zum Ausgangspunkt eines Todesspektakels von noch nie dagewese- nem Ausma. Sie hielten an. Hrst du das? Mick schttelte den Kopf. Schon als Jugendlicher hatte er nicht gut gehrt. Zu viele Rockkonzerte hatten seine Trommelfelle kaputtgedrhnt. Judd stieg aus. Die Vgel waren jetzt leiser. Das Gerusch, das er beim Fahren gehrt hatte, wiederholte sich. Es war nicht einfach ein Gerusch: Es war eher ein Beben in der Erde, ein Gebrll, das seinen Sitz im Mark der Hgel zu haben schien. Donner vielleicht? Nein, zu rhythmisch. Und wieder, durch die Fusohlen. Rums. Diesmal hrte es Mick. Er lehnte sich zum Autofenster raus, s' ist irgendwo weiter droben. Ich hr's jetzt auch. Judd nickte. Rums. Wieder rollte der Erdendonner. Was is'n das, verdammt? sagte Mick. Keine Ahnung, jedenfalls schau ich's mir an! Judd setzte sich wieder in den Volkswagen und lchelte. Klingt fast wie Geschtze, sagte er und lie den Wagen an. Schwere Ge- schtze. Durch seinen Feldstecher, russisches Fabrikat, beobachtete Vaslav Jelovsek den Startwart beim Heben der Pistole. Er sah die Feder aus weiem Rauch vom Lauf aufsteigen und hrte eine Sekunde spter den Schu von der anderen Talseite. Der Wettstreit hatte begonnen. Er schaute hinauf zu den Zwillingstrmen aus Popolac und Podujevo. Kpfe in den Wolken - na, beinahe. So hoch reichten sie, da sie praktisch den Himmel berhrten. Es war ein bengstigender Anblick, ein den Atem drosselnder, schlafmor- dender Anblick. Zwei Stdte, die schwankten und sich wanden und sich anschickten, bei diesem rituellen Kampf ihre ersten Schritte aufeinander zu zu machen. Podujevo schien weniger standfest zu sein. Es kam zu einem leichten Stocken, als die Stadt ihr linkes Bein anhob, um den Vormarsch zu beginnen. Nichts Ernstes, nur eine kleine Schwierigkeit beim Aufeinanderabstimmen von Hft- und Schenkelmuskeln. Ein paar Schritte, und sie wrde ihren Rhythmus finden; noch ein paar mehr, und ihre Einwohner wrden sich wie ein einziges Wesen, ein einziger makelloser Kolo bewegen, mit dem Ziel, dessen Anmut und Kraft gegen sein Spiegelbild ins Feld zu fhren. Der Pistolenschu hatte Schwrme von Vgeln aus den Bu- men, die den verborgenen Talkessel eindmmten, hochgejagt. Sie stiegen auf zur Feier des groen Wettkampfs und schnatter- ten ihre Aufregung hinaus, als sie ber den Turnierplatz schwirrten. Hast du den Schu gehrt? fragte Judd. Mick nickte. Manver... Judds Lchern war breiter geworden. Er sah schon die Schlagzeilen vor sich - ein Exklusivbericht ber geheime Manver mitten im lndlichen Jugoslawien. Russi- sche Panzer vielleicht, taktische bungen, abgehalten auer Sichtweite westlicher Spitzel. Mit etwas Glck konnte er der Berichterstatter sein. Rums. Rums. In der Luft waren Vgel. Der Donner rollte jetzt lauter. Es klang eindeutig wie Geschtze. Hinter dem nchsten Bergkamm... sagte Judd. Ich finde, wir sollten keinen Schritt weiter gehn. Ich mu das sehen. Ich nicht. Wir drften uns hier gar nicht aufhalten. Kann keinerlei Schilder entdecken. Sie werden uns verhaften; deportieren - was wei ich. Ich find' nur... Rums. Ich mu mir das einfach ansehn. Die Worte waren kaum aus seinem Mund, als gellend das Gekreisch begann. Podujevo war's, das kreischte: ein Todesschrei. Irgendein in der anflligen Flanke Verborgener war an beranstrengung gestorben und hatte im System eine Kettenreaktion des Ver- falls ausgelst. Einer lie seinen Nebenmann los und dieser Nebenmann wiederum den seinen, so da sich ein Krebsge- schwr des Chaos durch den Krper der Stadt ausbreitete. Der Zusammenhalt des aufgetrmten Gefges ging mit erschrek- kender Geschwindigkeit verloren, weil das Versagen eines anatomischen Abschnitts unertrglichen Druck auf den nch- sten ausbte. Das Meisterstck, das die guten Brger von Podujevo aus ihrem eigenen Fleisch und Blut errichtet hatten, torkelte, und dann begann es gleich einem in die Luft gesprengten Wolken- kratzer einzustrzen. Die geborstene Flanke erbrach Brger, wie eine aufgeschlitzte Arterie Blut ausspeit. Dann neigte sich das Riesenwerk mit wrdevoller Trgheit, die jedoch die Todespein der Brger noch grausiger gestaltete, der Erde zu, und alle seine Glieder fielen auseinander, als es niederstrzte. Der kolossale Kopf, der gerade noch die Wolken gestreift hatte, wurde auf seinen dicken Hals nach hinten geschleudert. Aus zehntausend Mndern gellte einstimmig der Aufschrei dieses ungeheuren Mundes, ein unartikulierter, unendlich bejam- mernswrdiger Appell an den Himmel. Ein Geheul des Verlo- renseins, ein Geheul der Vorwegnahme, ein Geheul der Ver- strung. Wie knnte denn, fragte der Schrei instndig, der Tag der Tage solchermaen enden, in einem tobenden Tumult niederstrzender Leiber? Hast du das gehrt? Das Kreischen war unverkennbar menschlich, wenngleich fast ohrenbetubend laut. Judds Magen krampfte sich zusammen. Er schaute rber zu Mick, der war kreidebleich. Judd hielt an. Nicht, sagte Mick. Hr dir das an, mein Gott... Das markerschtternde Rhren Sterbender, ihr Gesthn und Flehen, ihre Verwnschungen berschwemmten die Luft. Ganz in ihrer Nhe war's. Komm jetzt weg von hier! beschwor ihn Mick. Judd schttelte den Kopf. Er hatte mit irgendeinem militri- schen Spektakel gerechnet - die gesamte Sowjetarmee hinter dem nchsten Hgel auf einem Haufen beisammen -, aber dieses Getse in seinen Ohren war das Getse menschlichen, unsagbar menschlichen Fleisches. Es erinnerte ihn an die Vorstellungen, die er als Kind von der Hlle gehabt hatte; an die unablssigen, unaussprechlichen Qualen, mit denen ihm seine Mutter gedroht hatte, wenn er's unterliee, Jesus in sein Herz zu schlieen. Es war eine Schreckensvision, die er zwan- zig Jahre vergessen hatte. Aber bitte, pltzlich war sie wieder da, in alter Frische. Vielleicht tat sich gleich hinter der nchsten Horizontlinie der Hllenschlund selber auf, und seine Mutter stand an seinem Rand und forderte ihn auf, das Strafgericht kennenzulernen. Wenn du nicht willst, dann fahr' ich eben allein. Mick stieg aus und ging vorn um den Wagen herum dabei schaute er flchtig den Weg hinauf. Einen Moment, nicht lnger als einen Moment, zgerte er, und unglubig flackerte es in seinen Augen, ehe er sich, mit noch bleicherem Gesichtals vorher, zur Windschutzscheibe wandte und mit vor unter- drcktem Ekel heiserer Stimme Gott im Himmel... sagte. Sein Lover sa noch immer hinterm Steuer, hielt den Kopf in den Hnden und versuchte, Erinnerungen auszulschen. Judd... Judd blickte langsam auf. Mick starrte ihn an wie ein Rasender, sein Gesicht glnzte pltzlich vor eisigem Schwei. Judd sah an ihm vorbei. Wenige Meter weiter vorn hatte sich die Wegspur rtselhaft verdunkelt, denn eine Flutwelle schob sich auf den Wagen zu, eine dicke, hohe Flutwelle Blut. Judd drehte und wendete seine Gedanken, um dem Anblick irgendeinen ande- ren Sinn abzugewinnen, nur nicht diesen einen, unausweichli- chen. Aber es gab keine vernnftige Erklrung. Es war Blut, in unertrglichem berflu, Blut ohne Ende. Und jetzt trug der leichte Wind die Wrze frisch nach dem Tod geffneter Leichen heran: den Geruch aus der Tiefe des menschlichen Lebens, s zum Teil, zum Teil pikant. Mick wankte zur Beifahrerseite des VW zurck und hantierte schwach am Trgriff herum. Die Tr ffnete sich unversehens, und er taumelte hinein mit glasigen Augen. Sto zurck, sagte er. Judd langte nach dem Anlasser. Die Blutflut schwappte schon gegen die Vorderrder. Weiter vorn war die ganze Welt rot. Fahr los, verdammte Scheie, fahr! Judd machte keine Anstalten, den Wagen zu starten. Wir mssen nachsehen, sagte er ohne berzeugung, bleibt uns nichts brig. Gar nichts mssen wir, sagte Mick. Blo hier raus ums Verrecken. Was geht's uns an... Ein Flugzeugabsturz... Kein Rauch zu sehn. Aber das sind menschliche Stimmen. Instinktiv wollte Mick die Sache auf sich beruhen lassen. Er konnte ber die Tragdie in der Zeitung lesen - er konnte sich die Bilder morgen anschauen, wenn sie grau und grobgerastert waren. Heute war's zu nah und neu, zu unvorhersehbar. Alles mgliche konnte einen am Ende dieses Weges erwarten, blut- berstrmt... Wir mssen... Judd lie den Wagen an, whrend Mick neben ihm leise zu jammern anfing. Der VW schob sich vorwrts, bahnte sich vorsichtig einen Weg durch diesen Strom aus Blut. In der ekligen, schaumigen Flut drehten die Rder durch. Nicht, sagte Mick ganz leise. Bitte, nicht... Wir mssen, war Judds Antwort. Wir mssen einfach. Nur wenige Meter entfernt erholte sich die berlebende Stadt Popolac vom ersten Schreck. Sie starrte mit tausend Augen auf die Ruinen ihres rituellen Feindes, der jetzt in einem Gewirr aus Stricken und Leibern ber den von Einschlgen bersten Boden verstreut war, zerschmettert fr immer. Popolac wankte zurck vor diesem Anblick, seine riesenhaften Beine ebneten den Wald ein, der den Festplatz umsumte, seine Arme zerdro- schen die Luft. Aber Popolac hielt sein Gleichgewicht, selbst dann noch, als ein kollektiver Wahn, hervorgerufen durch den Greuel ihm zu Fen, seine Muskeln durchbrandete und sein Gehirn lahmte. Die Ordnung lie nach: Der Krper schlug um sich, bumte sich auf und wandte sich ab von dem grlichen Podujevo-Teppich, um in die Berge zu fliehen. Als er fortstampfte ins Vergessen, schob sich seine hochge- trmte Gestalt vorbergehend zwischen den Wagen .und die Sonne und warf ihren kalten Schatten ber den blutigen Pfad. Mick sah nichts durch seinen Trnenschleier, und Judd, der die Augen in Erwartung des Anblicks, der ihn um die nchste Wegbiegung erwartete, zusammengezogen hatte, registrierte nur verschwommen, da etwas das Taglicht eine Minute lang verdunkelt hatte. Eine Wolke vielleicht. Ein Vogelschwarm. Htte er in diesem Moment aufgeschaut, nur einen verstohle- nen, flchtigen Blick gewagt hinaus nach Nordwest, dann htte er Popolacs Kopf gesehen, den riesenhaften, wimmelnden Kopf einer irrsinnig gewordenen Stadt, die in die Berge hineinmar- schierte und aus seinem Gesichtsfeld verschwand. Er htte dann sehr wohl begriffen, da dieses Territorium seinen Hori- zont berstieg; und da jede Hilfe zu spt kam in diesem Hllenwinkel. Aber er sah die Stadt nicht, und damit war seine und Micks letzte Mglichkeit zur Umkehr dahin. Von jetzt ab waren sie wie Popolac und ihre tote Zwillingsschwester fr gesunde Verstandesregungen nicht mehr empfnglich und aller Lebenshoffnung ledig. Sie bogen um die Wegkurve, und die Trmmer Podujevos kamen in Sicht. Nie htte sich ihre zivilisierte Einbildungskraft etwas so unaussprechlich Grausames trumen lassen. Vielleicht waren auch auf den Schlachtfeldern der Weltkriege so viele Leichen aufgetrmt gewesen: Aber waren, zusammen- gekeilt mit den toten Mnnern, so viele Frauen und Kinder darunter gewesen? Es hatte derart hohe Stapel von Toten gegeben, aber wann jemals solche, die so kurz vorher noch bergeschumt waren vor Leben? Es hatte so rasch verwstete Stdte gegeben, aber wann jemals eine ganze Stadt, die dem bloen Gebot der Schwerkraft zum Opfer gefallen war? Das war kein Anblick mehr, der belkeit verursachte. Kon- frontiert mit ihm, verlangsamte sich das Denkvermgen bis zum Schneckentempo, die Verstandeskrfte nahmen den Augenschein penibel unter die Lupe, durchsuchten ihn nach einer fehlerhaften Stelle, nach einem Defekt, bei dem sie konstatieren konnten: Dies hier geschieht nicht wirklich. Es ist ein Traum vom Tod, nicht der Tod selbst. Aber der Verstand konnte keinen Schwachpunkt in der Mauer finden. Dies hier war wahr. Es war der Tod, unleugbar. Podujevo war gefallen. Achtunddreiigtausendsiebenhundertfnfundsechzig Brger waren ber den Boden verstreut oder vielmehr roh in plumpen, sickernden Stapeln hingeschleudert. Jene, die nicht beim Sturz oder durch Ersticken gestorben waren, lagen im Sterben. Von dieser Stadt wrde es keine berlebenden geben, bis auf das Hufchen Zuschauer, die aus ihren Wohnsttten hergekrochen waren, um dem Wettkampf zuzusehen. Diese wenigen Poduje- vianer - Verkrppelte, Kranke, ein paar Hochbetagte - begaff- ten jetzt wie Mick und Judd das Gemetzel und wollten es einfach nicht wahrhaben. Judd war als erster aus dem Wagen. Der Boden unter seinen Wildlederschuhen war klebrig vor verldumpendem Blutge- rinnsel. Es inspizierte das Blutbad. Keinerlei Wrackteile: kein Hinweis auf einen Flugzeugabsturz, kein Brand, kein Treib- stoffgeruch. Nur Zehntausende warmer Leichen, die alle, Mnner, Frauen und Kinder gleichermaen, entweder nackt oder uniform mit grauem Serge bekleidet waren. Einige von ihnen trugen, wie er sehen konnte, ledernes Gurtzeug, das straff um den Oberkrper geschnallt war, und aus diesen absonderlichen Vorrichtungen schlngelten sich Seenden, Idlometer- und aberkilometerlang. Je genauer er hinschaute, desto deutlicher sah er das auerordentliche System von Ver- knotungen und Vertuungen, das die Krper noch immer zusammenhielt. Aus irgendeinem Grund waren diese Men- schen zusammengebunden worden, einer an den anderen. Manche waren auf die Schultern ihrer Genossen gejocht, saen rittlings auf ihnen wie Jungen beim Pferd-und-Reiter-Spiel. Andere waren Arm in Arm verzurrt, mit Seilfden zu einer Wandung aus Muskeln und Knochen zusammengeschweit. Wieder andere waren mit zwischen den Knien eingeklemmten Kpfen zu einem Ball verschnrt. Alle waren auf irgendeine Weise ganz mit ihrem Nchsten verkoppelt wie bei einem wahnsinnigen kollektiven Fesselungsspiel. Wieder ein Schu. Mick schaute auf. Auf der anderen Seite des Feldes ging ein einzelner, mit einem erdgrauen, schweren Mantel bekleideter Mann zwischen den Leichen herum und befrderte die Sterbenden mit einem Revolver ins Jenseits. Es war ein bejammernswrdig unzu- lnglicher Mitleidsakt, aber trotzdem machte er weiter, suchte als erstes die leidenden Kinder heraus. Er leerte den Revolver, lud ihn wieder, leerte ihn, lud ihn, leerte ihn... Mick konnte nicht mehr an sich halten. Aus vollem Halse berbrllte er das Sthnen der Verletzten: Was ist hier los?* Der Mann blickte von seiner traurig-entsetzlichen Pflicht auf, sein Gesicht war so todgrau wie sein Mantel. Ha? brummte er und blickte die zwei Eindringlinge durch seine dicke Brille finster an. Was ist hier passiert? brllte Mick. Es tat wohl zu brllen, es tat wohl, den Mann wtend anzuherrschen. Womglich hatte er schuld. Es wre eine feine Sache gewesen, jemand zu haben, dem man einfach die Schuld anhngen konnte. Reden Sie... sagte Mick. Er konnte die Trnen in seiner Stimme zittern hren. Reden Sie, um Himmels willen! Erkl- ren Sie, was geschah! Graumantel schttelte den Kopf. Er verstand kein Wort von dem, was der junge Idiot da sagte. Er bekam lediglich mit, da er Englisch redete, sonst nichts. Mick ging zu ihm und sprte dabei fortwhrend die Augen der Toten auf sich. Augen wie schimmernde schwarze Edelsteine, eingefat in zerbrochene Gesichter: Augen, die ihn verkehrt herum anblickten aus Kpfen, die abgetrennt waren. Augen in Kpfen, die pures Geheul statt einer Stimme hatten. Augen in Kpfen, die nicht mehr heulten und atmeten. Tausende Augen. Mick erreichte Graumantel, dessen Waffe fast leer war. Er hatte die Brille abgenommen und beiseite geworfen. Auch er weinte, leichte Zuckungen durchliefen seinen groen, plum- pen Krper. Am Boden unten langte jemand nach Micks Fen. Er wollte nicht hinschauen, aber die Hand berhrte seinen Schuh, und er konnte nicht umhin, ihren Eigner zu sehen. Ein junger Mann, wie ein Hakenkreuz aus Fleisch hingeschlagen, jedes Gelenk zerschmettert. Ein kleines Mdchen lag unter ihm, seine bluti- gen Beule staksten heraus wie zwei rosa Stcke. Er wnschte sich den Revolver des Mannes, um die Hand davon abzubringen, ihn weiter zu berhren. Noch besser, er wnschte sich gleich ein Maschinengewehr, einen Flammen- werfer, irgend etwas Passendes, um die Todesqual wegzu- Als Mick von dem zermalmten Krper aufblickte, sah er Graumantel seinen Revolver heben. Judd... sagte er, aber das Wort war kaum ber seine Lippen, da wurde die Revolver- mndung schon in Graumantels Mund geschoben und der Abzug durchgedrckt. Graumantel hatte die letzte Kugel fr sich selber aufgespart. Sein Hinterkopf ffnete sich wie ein fallengelassenes Ei, die Schale seines Schdels flog weg. Sein Krper erschlaffte und sank zu Boden, der Revolver steckte noch immer zwischen den Lippen. Wir mssen... fing Mick an und sprach ins Leere. Wir mssen... Wie lautete das Gebot? Was muten sie tun in dieser Lage? Wir mssen... Judd war hinter ihm. ... helfen, sagte er zu Mick. Ja. Wir mssen Hilfe holen. Wir mssen... ...gehn. Gehn! Das war's, was sie tun muten. Ganz gleich, unter welchem Vorwand, aus welchem noch so fadenscheinigen, erbrmlichen Grund: Sie muten gehn. Rauskommen aus dem Schlachtfeld, rauskommen aus der Reichweite einer sterben- den Hand mit einer Wunde anstelle eines Krpers. Wir mssen die Behrden informieren. Eine Stadt finden. Hilfe holen... Priester, sagte Mick. Sie brauchen Priester. Die Versorgung so vieler Menschen mit den Sterbesakramen- ten - eine absurde Vorstellung. Dazu htte es einer ganzen Armee von Priestern, eines Wasserwerfers voll Weihwasser, eines Lautsprechers zur Erteilung des Segens bedurft. Gemeinsam wandten sie sich ab von dem Grauen. Sie schlan- gen die Arme umeinander und lavierten sich dann durch das Blutbad zum Wagen. Er war besetzt. Vaslav Jelovsek sa hinterm Steuer und versuchte, den Volks- wagen zu starten. Er drehte den Zndschlssel einmal. Zwei- mal. Beim dritten Mal sprang der Motor an, und die Rder drehten durch in dem scharlachroten Schlamm, als Jelovsek den Rckwrtsgang einlegte und den Weg bergab zurckstie. Er sah die Englnder auf den Wagen zulaufen und Verwn- schungen gegen ihn ausstoen. Da konnte man nichts machen - er wollte das Fahrzeug nicht stehlen, aber er hatte Lebens- wichtiges zu erledigen. Er war Schiedsrichter gewesen, er war fr den Wettkampf verantwortlich gewesen und ebenso fr die Sicherheit der Wettkmpfer. Eine der beiden heroischen Stdte war bereits gefallen. Er mute alles in seiner Macht Liegende tun, um zu verhindern, da Popolac seiner Zwillingsschwester folgte. Er mute Popolac nachjagen, um vernnftig mit ihm zu reden. Es mit beruhigenden Worten und Versprechungen unermdlich bearbeiten und ihm die Schreckensngste ausre- den. Milang dies, so wrde es zu einer weiteren Katastrophe kommen, die der hier in nichts nachstnde, und sein Gewissen war schon zerrttet genug. Mick jagte mit Protestgebrll dem VW hinterher. Der Dieb achtete nicht darauf, er war vollauf damit beschftigt, den Wagen im Rckwrtsgang den engen schlpfrigen Pfad hinun- ter zu manvrieren. Mick mute seine Verfolgungsjagd sehr schnell aufgeben. Der Wagen war allmhlich auf Touren gekommen. Rasend vor Wut, aber ohne den ntigen Atem, sie auch zu uern, stand Mick auf dem Weg, die Hnde auf den Knien, und keuchte und schluchzte. Sauhund! sagte Judd. Mick schaute den Pfad runter. Ihr Wagen war bereits ver- schwunden. Hat nicht mal richtig fahren knnen, das Arschloch. Wir mssen ... ihn ... einholen ... unbedingt... wrgte Mick atemlos hervor. Wie denn? Zu Fu ... Wir haben nicht mal 'ne Karte... liegt im Wagen. Mein Gott... um ... Himmels willen. Zusammen gingen sie den Pfad hinunter, fort vom Schlacht- feld. Nach wenigen Metern begann der Blutstrom zu versanden. Nur ein paar stockende Rinnsale sickerten Richtung Haupt- strae weiter. Mick und Judd folgten den blutigen Reifenspu- ren bis zur Kreuzung. Die Strecke nach Srbovac war leer in beiden Richtungen. Die Reifenspuren verliefen nach links. Er ist noch tiefer in die Berge rein, sagte Judd und starrte die wunderhbsche Strae entlang zum blaugrnen Horizont. Der hat sie nicht mehr alle! Gehn wir den Weg zurck, den wir gekommen sind? Da sind wir die ganze Nacht auf den Beinen. Per Anhalter nicht. Judd schttelte den Kopf: Sein Gesicht war schlaff, sein Blick wirr, verloren. Ist doch klar, Mick, da die alle mitgekriegt haben, was da vor sich ging. Die Leute auf den Bauernhfen, die sind todsicher abgehauen, whrend die Menschen da dro- ben durchgedreht sind. Auf dieser Strae findest du kein Auto, jede Wette - hchstens vielleicht ein paar saublde Touristen wie uns, und von denen fllt keinem ein, jemand wie uns mitzunehmen. Er hatte recht. Sie sahen wie Metzger aus: blutbesudelt. Fettverschmiert glnzten ihre Gesichter, irrsinnig ihre Augen. Bleibt uns nur ein Weg brig, sagte Judd, seiner. Er deutete die Strae rauf. Die Berge waren jetzt dunkler; das Sonnenlicht auf den Hngen war pltzlich verloschen. Mick zuckte mit den Achseln. So oder so hatten sie eine Nacht auf der Strae vor sich, das war klar. Aber irgendwohin gehen wollte er - egal wohin -, Hauptsache, er vergrerte dabei den Abstand zwischen sich und den Toten. In Popolac war eine Art Friede eingetreten. Anstelle tobschti- gen Entsetzens herrschte eine dumpfe Starre, eine schafsartige Hinnhme der Welt, wie sie nun mal war. Verkeilt in ihre Positionen, allseitig aneinandergeschnallt, -gefesselt und -geschirrt in einem lebenden System, das es keiner einzelnen Stimme erlaubte, vernehmbarer als irgendeine andere zu sein, und keinem Rcken, sich weniger abzuschinden als der seines Nachbarn, lieen alle es zu, da die ruhige Stimme der Ver- nunft einem umnachtenden Konsens wich. Krampfartig wur- den sie zu einem Sinnen, einem Denken, einem Wollen ver- schweit. Im Verlauf weniger Augenblicke wurden sie der eigen-sinnige Kolo, dessen Kultbild sie so glnzend neu- geschaffen hatten. Die Illusion kleinlicher Individualitt wurde von einem unwiderstehlichen Ansturm kollektiven Empfin- dens hinweggefegt. Das war nicht die rohe Leidenschaft eines Menschenhaufens, sondern eine telepathische Aufwallung, die die Stimmen Tausender zu einem einzigen, unwiderstehlichen Befehl verschmolz. Und die Stimme sagte: Geh! Die Stimme sagte: Schaff diesen grauenhaften Anblick fort, mir fr immer aus den Augen. Popolac lief in die Berge, und seine Beine machten Schritte von bald einem Kilometer Lnge. Jeder einzelne, ob Mann, Frau oder Kind, war augenlos in diesem brodelnden Turm. Sie sahen nur durch die Augen der Stadt. Sie waren gedankenlos, aber dazu bestimmt, die Gedanken der Stadt zu denken. Und sich selbst, in ihrer schwer dahinstapfenden, gnadenlosen Kraft, hielten sie fr unsterblich. Riesenhaft und wahnverwirrt und unsterblich. Nach drei Kilometern Fumarsch rochen Mick und Judd Ben- zin in der Luft, und nicht sehr viel spter stieen sie auf den VW. Er hatte sich in dem schilfverwucherten Entwsserungs- graben seitlich der Strae berschlagen. Und war nicht in Brand geraten. Die Fahrertr stand offen, und der Krper von Vaslav Jelovsek war herausgefallen. Sein Gesicht spiegelte ruhig-gefate Bewutlosigkeit. uerlich waren keinerlei Anzeichen einer Verletzung zu sehen, bis auf die ein, zwei kleinen Schnittwun- den in seinem unaufflligen Gesicht. Behutsam zogen sie den Dieb aus den Unfalltrmmern und aus dem Dreck des Grabens hoch auf die Strae. Er sthnte ein bichen, als sie an ihm herummachten: Micks Pulli zu einem Kissen zusammenroll- ten, seinen Kopf damit absttzten, ihm Jacke und Krawatte abnahmen. Ganz unvermittelt ffnete er die Augen. Er starrte sie beide an. Sind Sie okay? fragte Mick. Einen Moment lang sagte der Mann nichts. Er schien nicht zu verstehen. Dann: Englisch? Schwerer Akzent, aber die Frage war ganz klar. Ja. Habe Sie reden gehrt. Englisch. Er runzelte die Stirn und zuckte zusammen. Haben Sie Schmerzen? fragte Judd. Der Mann fand das anscheinend amsant. Hab' ich Schmerzen? wiederholte er; Qual und Belustigung hielten sich die Waage in seinem verzerrten Gesicht. Ich werde sterben, sagte er zwischen zusammengebissenen Zhnen. Nein, sagte Mick, Sie sind okay. Der Mann schttelte den Kopf; seine Nachdrcklichkeit war absolut. Ich werde sterben, sagte er nochmals vllig ent- schieden. Ich mchte sterben. Judd bckte sich nher zu ihm hinunter. Die Stimme des Mannes wurde zunehmend schwcher. Sagen Sie uns, was wir tun sollen, verlangte Judd. Der Mann hatte die Augen geschlossen. Rcksichtslos schttelte Judd ihn wach. Sagen Sie's uns! verlangte er nochmals, und alles Mitleid verschwand rapide. Sagen Sie uns, worum es sich bei dem Ganzen handelt! Worum? sagte der Mann und hielt die Augen immer noch geschlossen. Es war ein Fall, das ist alles. Einfach ein Fall... Was ist gefallen? Die Stadt. Podujevo. Meine Stadt. Und was hat sie zu Fall gebracht? Sie selbst natrlich. Der Mann erklrte gar nichts; lste blo ein Rtsel mit einem neuen. Und wohin waren sie unterwegs? erkundete Mick und ver- suchte, so unaggressiv wie mglich zu klingen. Hinter Popolac her, sagte der Mann. Popolac? fragte Judd. Mick entdeckte allmhlich etwas Sinn in der Geschichte. Popolac ist auch eine Stadt. Wie Podujevo. Zwillingsstdte. Sie sind auf der Karte... Wo ist die Stadt jetzt? fragte Judd. Vaslav Jelovsek zog es anscheinend vor, die Wahrheit zu sagen. Einen Augenblick schwankte er zwischen der Mglichkeit, mit einem Rtsel auf den Lippen zu sterben, und jener, noch so lange zu leben, um seine Geschichte loszuwerden. Was tat es schon, wenn man die Sache jetzt erfuhr? Es konnte nie mehr einen neuen Wettstreit geben: Das war alles vorbei. Sie sind zum Kampf angetreten, sagte er, und seine Stimme war jetzt sehr schwach. Popolac und Podujevo. Alle zehn Jahre treten sie an... Kampf? fragte ]udd. Wollen Sie damit sagen, da all diese Menschen niedergemetzelt wurden? Vaslav schttelte den Kopf. Nein, nein. Sie sind gefallen. Wie ich gesagt habe. Also, wie kmpfen sie dann? fragte Mick. Gehn in die Berge, war die lapidare Antwort. Vaslav ffnete ein wenig die Augen. Die Gesichter, die sich da undeutlich ber ihn beugten, waren erschpft und krank. Sie hatten gelitten, diese Unschuldigen. Sie hatten etwas Aufkl- rung verdient. Als Giganten, sagte er. Sie kmpften als Giganten. Sie haben einen Krper aus ihren Krpern gemacht, verstehen Sie? Der Bau, die Muskeln, die Knochen, die Augen, Nase, Zhne: alles aus Mnnern und Frauen. Er redet irre, sagte Judd. Dann gehn Sie in die Berge, wiederholte der Mann. Sehn Sie selbst, wie wahr es ist. Sogar, wenn man annimmt... fing Mick an. Vaslav unterbrach ihn, brannte darauf, zu Ende zu kommen. Sie waren gut im Gigantenwettstreit. Es hat viele Jahrhun- derte bung gekostet. Die Proportionen sind dabei alle zehn Jahre grer geworden. Jedesmal hat man sie unbedingt grer haben wollen als die vorherigen. Seile hat's gebraucht, um sie alle einwandfrei zusammenzubinden. Sehnen... Bnder... Essen war im Riesenbauch... Rohre auf Lendenhhe, um den Abfall zu beseitigen. Der mit den besten Augen sa in den Augenhhlen, der mit der besten Stimme in Mund und Kehle. Technisch eine Meisterleistung, Sie wrden's nicht fr mg- lich halten. Tu ich auch nicht, sagte Judd und stand auf. Er ist der Leib des Gemeinwesens, sagte Vaslav, seine leise Stimme war kaum noch mehr als ein Flstern. Er ist die Gestalt unseres Lebens. Schweigen. Kleine Wolken trieben ber die Strae hin. Es war ein Wunder, sagte er, als wrde ihm zum erstenmal die Ungeheuerlichkeit des Faktums in voller Tragweite bewut. Es war ein Wunder. Jetzt war es genug. Wirklich genug. Nach den letzten Worten schlo sich sein Mund, und er starb. Diesen einen Tod empfand Mick schmerzlicher als den der Abertausende, vor denen sie geflohen waren; oder vielmehr war dieser Tod der Schlssel, der die schreckliche Qual auf- schlieen sollte, die er fr sie alle empfand. Ob der Mann es nun vorgezogen hatte, eine phantastische Lge zu erzhlen, oder ob diese Geschichte in gewisser Hinsicht der Wahrheit entsprach, Mick fhlte sich angesichts solcher Dimensionen total berfordert. Sein Vorstellungsvermgen war zu beschrnkt, um sich wirklich ein Bild zu machen. Sein Hirn schmerzte vom Drandenken, und sein Mitleid brach unter der Jammerlast zusammen, die er sprte. Sie standen auf der Strae, whrend die Wolken vorbeijagten; die vagen grauen Schatten zogen ber ihnen weiter zu den rtselhaften Hgeln. Der Abend dmmerte. Popolac konnte nicht mehr weiter. Es fhlte sich erschpft in jedem Muskel. Innerhalb seiner riesigen Krperkonstruktion war es hie und da schon zu Todesfllen gekommen; aber in der Stadt kam kein Sichgrmen auf um die abgelebten Zellen. Soweit die Toten im Leibesinnern waren, konnten die Leichen an ihren Gurtgeschirren hngen bleiben. Soweit sie die Haut der Stadt bildeten, wurden sie aus ihren Positionen losge- schnallt, damit sie in den Wald darunter strzten. Der Gigant war des Mitgefhls nicht fhig. Er kannte nur ein Streben: weiterzumachen, bis es mit ihm zu Ende ging. Als die Sonne langsam verschwand, sa Popolac zur Rast auf einem kleinen Hgel und schmiegte schtzend seinen Riesen- kopf in seine Riesenhnde. Die Sterne kamen hervor, behutsam wie gewhnlich. Die Nacht rckte heran, verband barmherzig die Verwundungen des Tages, beschattete die Augen, die zu viel gesehen hatten. Popolac erhob sich wieder auf seine Beine und setzte sich donnernd Schritt fr Schritt in Bewegung. Gewi, es wrde nicht mehr lange dauern, bis die Ermattung es berwltigte: bis es sich in der Gruft eines abgelegenen Tals niederlegen konnte, um zu sterben. Aber eine Zeitlang mute es weitergehen, jeder Schritt qulen- der in seiner Langsamkeit als der vorangegangene, whrend die Nacht schwarz um seinen Kopf strahlte. Mick wollte den Autodieb irgendwo am Waldrand begraben. Judd hingegen wies darauf hin, da im nchterneren Licht des morgigen Tages das Vergraben einer Leiche ein bichen ver- dchtig erscheinen knnte. Und auerdem, war es nicht absurd, sich mit einer einzelnen Leiche zu befassen, wo doch buchstblich Tausende ein paar Kilometer von ihrem Standort entfernt lagen? Demzufolge belie man es dabei: Der Krper blieb liegen, und der Wagen sank immer tiefer in den Graben. Sie setzten ihren Fumarsch fort. Es war kalt, und es wurde zunehmend klter, und sie hatten Hunger. Aber die wenigen Huser, an denen sie vorbeikamen, waren alle verlassen, die Tren versperrt, die Lden verschlossen, ohne Ausnahme. Weit du, was er hat sagen wollen? fragte Mick, als sie gerade wieder vor einer versperrten Tr standen. Alles rein metaphorisch... Das ganze Zeugs ber die Giganten? Irgend so ein Trotzkisten-Geseiche, insistierte Judd. Das glaub' ich nicht. Wenn ich's dir sage. Das war seine Totenbettrede, hat sich wahrscheinlich jahrelang darauf vorbereitet. Glaub' ich nicht, sagte Mick nochmals und kletterte zur Strae hinauf. Ach, und wieso nicht? Judd war hinter ihm. Jedenfalls hat er keine Parteidoktrin wiedergekut. Willst du damit vielleicht ernstlich behaupten, es schleicht hier irgendwo in der Gegend so'n Riese rum? Du lieber Hei- land! Mick wandte sich um. Sein Gesicht war in der Dmmerung schlecht zu erkennen, aber seine Stimme war nchtern vor berzeugung. Ja. Ich glaube, er hat die Wahrheit gesagt. Das ist hirnrissig. Absolut lcherlich. Nein. Judd hate Mick in diesem Augenblick. Hate seine Naivitt, sein leidenschaftliches Bedrfnis, jede schwachsinnige Ge- schichte fr wahr zu halten, wenn sie nur einen Hauch Ro- mantik an sich hatte. Und dies hier? Das war das Schlimmste, das Abstruseste... Nein, sagte er nochmals. Nein. Nein. Nein. Der Himmel war porzellanglatt und die Silhouette der Hgel pechschwarz. Ich frier saumig, kam's von Mick aus der Dmmerung. Willst du hierbleiben, oder marschierst du mit mir weiter? Judd brllte: Die Tour fhrt zu nichts und niemand. Klar ist es 'n weiter Weg zurck. Wir kommen blo tiefer in die Berge rein. Mach, was du willst! Ich geh' jetzt. Seine Schritte entfernten sich. Das Dunkel umfing ihn. Nach einer Minute folgte ihm Judd. Die Nacht war wolkenlos und rauh. Sie schritten voran, hatten den Kragen hochgeschlagen gegen die Klte; die Fe in den Schuhen waren angeschwollen. Der Himmel ber ihnen war eine einzige Sternenparade. Ein Triumph verschtteten Lichts, aus dem das Auge so viele Muster machen konnte, wie seine Geduld es zulie. Nach einer Weile schlangen sie die mden Arme umeinander, zum Trost und um sich zu wrmen. Gegen elf Uhr sahen sie in der Ferne ein Fenster leuchten. Die Frau am Eingang des einfachen Steinhauses lchelte nicht, aber sie hatte Verstndnis fr ihren Zustand und lie sie herein. Es schien vergeblich, versuchen zu wollen, der Frau oder ihrem gelhmten Mann zu erklren, was sie gesehen hatten. Das Haus hatte kein Telefon, und von einem Fahrzeug war nichts zu sehen; also konnte man, selbst wenn es ihnen irgendwie gelungen wre, sich verstndlich zu machen, nichts weiter ausrichten. Mit Pantomimik und Gesichterschneiden erklrten sie, da sie hungrig und erschpft waren. Weiterhin versuchten sie zu erklren, da sie sich verirrt hatten, und sie htten sich dafr ohrfeigen knnen, da sie ihren Sprachfhrer im VW gelassen hatten. Die Frau schien nicht sehr viel zu verstehen von dem, was sie sagten, aber sie lie sie neben einem prasselnden Kaminfeuer Platz nehmen und stellte eine Pfanne Essen zum Heiwerden auf den Herd. Sie aen dicke, ungesalzene Erbsensuppe und Eier und lchel- ten die Gastgeberin hin und wieder dankbar an. Ihr Mann sa neben dem Feuer und versuchte erst gar nicht, mit den Frem- den zu reden oder sie auch nur anzusehen. Das Essen tat gut. Es gab ihren Lebensgeistern neuen Auftrieb. Sie wollten bis zum Morgen schlafen und dann den langen, strapazisen Rckmarsch antreten. Bei Tagesanbruch wrden die Leiber auf dem Schlachtfeld gezhlt, identifiziert, einge- packt und ihren Familien berfhrt werden. Die Luft wre voll von beruhigenden Geruschen, die das Sthnen austilgen wr- den,das ihnen noch immer in den Ohren klang. Hubschrauber wren da, lastwagenweise Mnner, die die Auf rumungsarbei- ten organisierten. All die Gepflogenheiten, all das Drum und Dran einer Katastrophe in der zivilisierten Welt. Und nach einer Weile wre dann alles annehmbar, wrde Bestandteil ihrer Geschichte werden: Eine Tragdie freilich, aber eine, die sie erklren, klassifizieren und mit der zu leben sie lernen konnten. Alles wrde gut werden, ja, alles wrde gut werden. Wenn es erst mal Morgen war. Der Schlaf aus reiner Ermdung berkam sie urpltzlich. Sie blieben, wo sie hingesunken waren, saen noch immer am Tisch, den Kopf auf den verschrnkten Armen, inmitten eines Durcheinanders aus leeren Schsseln und Brotrinden. Sie wuten nichts. Trumten nichts. Sprten nichts. Dann setzte der Donner ein. In der Erde, tief in der Erde, ein rhythmischer Tritt, wie der eines Titanen, der lauter wurde und immer nher kam. Die Frau weckte ihren Mann auf. Sie blies die Lampe aus und ging zur Tr. Der Nachthimmel war von Sternen hell erleuch- tet: ringsum schwarz die Berge. Der Donner hallte noch immer nach: eine volle halbe Minute zwischen jedem wummernden Paukenschlag, aber lauter jetzt. Und lauter mit jedem weiteren Schritt. Sie standen zusammen an der Tr, Ehemann und Frau, und lauschten hinber zu den Nachthgeln, die das Echo des Getses hin- und herwarfen zwischen ihren Hngen. Kein Blitz war da, der dem Donner vorausgegangen wre. Nur das wummernde Gedrhn. Rums... Rums... Es lie den Boden erbeben: Es warf den Staub vom Trsturz und rttelte an den Fensterriegeln. Rums... Rums... Sie wuten nicht, was da nher kam. Aber welche Gestalt es auch annahm, und was es auch vorhatte, es schien sinnlos, vor ihm davonzulaufen. Der Ort, an dem sie standen, die jmmer- liche Zuflucht ihres Hauses, war genauso sicher wie irgendein Schlupfwinkel im Wald. Wie sollten sie unter hunderttausend Bumen den finden, der noch stand, wenn der Donner vorbei- gekommen war? Besser warten: und zusehen. Die Augen der Frau waren schwach, und sie konnte nicht glauben, was sie sah, als die Schwrze des Hgels ihre Gestalt vernderte und sich hinaufbumte, um die Sterne zu verdec- ken. Aber ihr Mann hatte ihn auch gesehen, den unvorstellbar riesigen Kopf, ungeheuerlicher noch in der trgerischen Dun- kelheit, der immer weiter sich hinauftrmte und dessen Aus- ma die Hgel zu Zwergen verkmmern lie. Der Mann fiel auf die Knie und brabbelte ein Gebet, seine arthritischen Beine verkrmmten sich unter ihm. Seine Frau kreischte auf: Keine ihr bekannten Worte konnten dieses Ungeheuer in Schach halten - kein Gebet, kein Flehen hatten Gewalt ber es. Drinnen erwachte Mick, und sein ausgestreckter Arm, den ein pltzlicher Krampt durchzuckte, wischte den Teller und die Lampe vom Tisch. Sie zersprangen in Stcke. Judd wachte auf. Das Gekreisch drauen hatte aufgehrt. Die Frau war im Wald verschwunden. Jeder, aber auch wirklich jeder Baum war besser als dieser Anblick. Ihr Mann lie noch immer ein Stogebet nach dem anderen von seinen schlaffen Lippen trufeln, als das gewaltige Bein des Riesen sich hob und zum nchsten Schritt ansetzte. Rums... Das Haus wankte. Teller tanzten und krachten von der Anrichte. Eine Tonpfeife rollte vom Kaminsims und ging in der Herdasche zu Bruch. Dies Erdgedonner, den Lrm, der da erdrhnte, kannten die beiden Lover nur zu gut. Mick langte nach Judd und packte ihn an der Schulter. Siehst du, sagte er, und blaugrau schimmerten seine Zhne in der Finsternis. Siehst du! Siehst du's jetzt? Etwas Hysterisches brodelte hinter seinen Worten. Er lief zur Tr, stolperte im Dunkeln ber einen Stuhl. Fluchend und angeschlagen taumelte er in die Nacht hinaus. Rums... Ohrenbetubender Donner. Diesmal zertrmmerte er alle Fenster im Haus. Im Schlafzimmer brach einer der Bodenquer- balken und schleuderte Schutt ins untere Stockwerk. Judd fand seinen Lover vor der Tr. Der Alte lag nun auf dem Boden, das Gesicht nach unten; die kranken angeschwollenen Finger krallten ins Leere, die bettelnden Lippen drckte er auf die feuchte Erde. Mick schaute jetzt auf zum Himmel. Judd folgte seiner Blick- richtung. Da war ein Bereich, wo keine Sterne zu sehen waren. Eine Finsternis in Gestalt eines Mannes. Ungeheuerliche, weit aus- ladende Formen eines menschlichen Krpers, eines Kolosses, der sich emporschwang, um an den Himmel zu rhren. Kein ganz makelloser Riese. Seine Silhouette war nicht klar-suber- lich; sie waberte und wuselte. Auch war er augenscheinlich breiter, dieser Riese, als jeder reale Mensch. Seine Beine waren abnorm dick und plump gestaucht, und seine Arme eher kurz. Die sich zur Faust ballenden und wieder ffnenden Hnde schienen absonderlich gegliedert und fr seinen Rumpf viel zu zart zu sein. Dann machte er einen Schritt auf sie zu, hob einen riesigen, ausladenden Fu und setzte ihn auf die Erde. Rums... Der Tritt brachte das Dach auf dem Haus zum Einsturz. Alles entsprach der Wahrheit, was der Autodieb gesagt hatte. Popo- lac war eine Stadt und ein Riese; und er war ins Bergland gegangen... Jetzt gewhnten sich ihre Augen allmhlich an das Nachtlicht. In zunehmend grlicherer Deutlichkeit konnten sie erkennen, wie dieses Ungeheuer gebaut war. Es war ein Meisterstck menschlicher Konstruktionstechnik: ein Mann, von Kopf bis Fu aus Mnnern. Oder vielmehr ein geschlechtsloser Gigant aus Mnnern, Frauen und Kindern. Smtliche Brger Popolacs wanden sich und mhten sich ab in dem Krper dieses fleisch- gestrickten Giganten, ihre Muskeln dehnten sich bis zum Zerreien, ihre Knochen waren nahe daran zu brechen. Die beiden konnten sehen, auf welch subtile Weise die Archi- tekten Popolacs die Proportionen des menschlichen Krpers vernden hatten: da man dieses Gebilde mehr in die Breite gestaucht hatte, um seinen Schwerpunkt nach unten zu verla- gern; da man seine Beine ins Elefantenhafte vergrert hatte, damit sie das Gewicht des Rumpfes tragen konnten; da man den Kopfansatz auf die Hhe der breiten Schultern abgesenkt hatte, um so, logischerweise, die Probleme eines schwachen Halses auf ein Minimum zu reduzieren. Ungeachtet dieser Mibildungen war das Monster grauenhaft lebensecht. Die Krper, die zusammengebunden waren, um seine Oberflche zu bilden, waren bis auf ihr Gurtzeug nackt, so da seine Oberflche im Sternenlicht wie ein einziger riesenhafter Menschentorso schimmerte. Sogar die Muskula- tur war, obzwar vereinfacht, trefflich nachgebaut. Sie konnten sehen, wie sich die verstrickten Krper in kompakten Strngen aus Fleisch und Knochen gegeneinanderschoben und auseinan- derzogen. Das Menschengeflecht, das den Rumpf bildete, konnten sie sehen: die Rcken wie Schildkrtenpanzer anein- andergepfercht, um den Schwung der Brustmuskulatur darzu- bieten; die verzurrten und verknoteten Akrobaten an den Arm- und Beingelenken, die sich einrollten und abspulten, um die Regungen der Stadt in Bewegung umzusetzen. Mit Sicherheit aber bot den allerunglaublichsten Anblick das Gesicht. Wangen aus Krpern; grottentiefe Augenhhlen, in denen Kpfe starrten, fnf jeweils zu einem Augapfel zusammenge- bunden; eine breite flache Nase und ein Mund, gesumt mit Zhrten aus kahlkpfigen Kindern, der sich beim rhythmischen Hervorschwellen und Einsinken der Kiefermuskeln ffnete und schlo. Und aus diesem Mund lie die Stimme des Gigan- ten, jetzt nur noch ein schwacher Abklatsch ihrer frheren Gewalt, ein monotones idiotisches Gelalle erschallen. Popolac bewegte sich und Popolac sang, Gab es je in Europa eine Sehenswrdigkeit, die ihm das Wasser reichen konnte? Sie schauten zu, Mick und Judd, als ihnen Popolac einen weiteren Schritt nher kam. Der alte Mann hatte sich die Hosen na gemacht. Plrrend und flehentlich sabbernd robbte er fort von dem zugrundegerichte- ten Haus unter die umstehenden Bume und schleppte seine toten Beine hinter sich her. Die Englnder blieben stehen, wo sie waren, und schauten zu, wie das Titanenspektakel heranrckte. Weder Angst noch Horror erfaten sie jetzt, nur eine tiefe Ehrfurcht hielt sie an der Stelle festgebannt. Sie wuten, da dies ein Anblick war, den ein zweites Mal zu sehen sie sich nie erhoffen durften. Dies war der absolute Gipfel - danach kam nur mehr x-beliebige Erfahrung. Besser also standzuhalten, obwohl jeder Schritt den Tod nherbrachte, besser also standzuhalten und den Anblick zu genieen, solange er noch da war und sich sehen lie. Und wenn es sie mordete, dieses Ungeheuer, dann htten sie zumin- dest flchtig ein Wunder geschaut, diese schreckliche Majestt einen kurzen Augenblick gekannt. Der Einsatz schien nur angemessen. Popolac war hchstens ein paar Schritte vom Haus entfernt. Sie konnten nun die Vielgestaltigkeit des Baugefges ganz klar erkennen. Die Gesichter der einzelnen Brger wurden in ihren Details allmhlich deutlich: wei, schweina und zufrieden in ihrer Mdigkeit. Manche hingen tot in ihrem Gurtgeschirr, und ihre Beine schwangen hin und her wie bei Gehenkten. Andere, insbesondere Kinder, hatten aufgehrt, ihrer Abrich- tung Folge zu leisten. Sie hatten ihre Positionen gelockert, so da die Form des Krpers entartete, rebellische Zellen wie Schwren auf ihm. Doch noch immer war das Stadtmirakel unterwegs, jeder Schritt eine unvorhergesehene Leistung an Koordination und Strke. Rums.., Der Schritt, der das Haus zertrat, kam eher als sie dachten. Mick sah, wie das Bein angehoben wurde; sah die Gesichter der Menschen in Schienbein und Fessel und Fu- sie waren jetzt so gro wie er: lauter hnenhafte Mnner, dazu ausersehen, die volle Last dieser gewaltigen Schpfung auf sich zu nehmen. Viele waren tot. Die Fusohle war, wie er sehen konnte, ein Flickenteppich aus zermalmten und blutigen Leibern, zu Tode gequetscht unter dem Gewicht ihrer Mitbrger. Mit krachendem Getse kam der Fu herab. In Sekundenschnelle war das Haus zu Splittern und Staub verwandelt. Popolac lschte restlos den Himmel aus. Einen Moment lang war es die ganze Welt, Himmel und Erde. Bis zum berflieen erfllte seine Gegenwart die Sinne. Aus dieser Nhe konnte man es mit nur einem Blick nicht erfassen; das Auge mute hin- und herschweifen ber seine Masse, um es voll in sich aufzunehmen, und selbst dann weigerte sich der Verstand, die ganze Wahrheit anzuerkennen. Ein herumwirbelnder Steinbrocken, der vom Haus beim Ein- sturz weggeschleudert worden war, schlug Judd voll ins Gesicht. In seinem Kopf hrte er den vernichtenden Schlag wie den Aufprall eines Balls gegen eine Wand: ein Squash-Tod. Kein Schmerz, keine Reue. Aus - wie ein Licht, ein winziges bedeutungsloses Licht. Seinen Todesschrei verschluckte der Hllenlrm, seinen Leib verbargen Qualm und Finsternis. Mick sah und hrte Judd nicht sterben. Zu sehr war er damit beschftigt, den Fu anzustarren: wie er einen Augenblick lang in den Trmmern des Hauses zur Ruhe kam, whrend das andere Bein sich zur Fortbewegung ent- schlo. Mick versuchte sein Glck. Heulend wie ein Wrgengel lief er auf das Bein zu, brannte darauf, das Ungeheuer zu umklam- mern. Er strauchelte in den Trmmern und kam wieder hoch, blutbefleckt, um nach dem Fu zu greifen, bevor der angeho- ben wurde und er allein zurckblieb. Gleich einem Tumult durchschauerte zermartertes Gekeuch den Fu, als an ihn der unwiderrufliche Bescheid zum Weitergehen erging. Mick sah die Schienbeinmuskeln sich bndeln und zusammenschlieen, als das Bein anfing abzuheben. Er machte einen allerletzten Satz auf das Glied zu, als es begann, den Boden zu verlassen, und schnappte mit beiden Hnden nach einem Gurtgeschirr oder einem Seil oder nach Menschenhaar oder blankem Fleisch - blindlings nach irgend etwas, um dies vorbergehende Wun- der zu erhschen und ein Teil davon zu sein. Besser war's, mit ihm zu gehen, ganz gleich, wohin, ihm dienlich zu sein bei seinem Vorhaben, ganz gleich, was das sein mochte; besser, mit ihm zu sterben, als ohne es zu leben. Er bekam den Fu zu fassen und fand einen festen Halt an seinem Knchel. Er schrie seine nackte Verzckung hinaus bei diesem Erfolg, sprte zugleich die Aufwrtsbewegung des gewaltigen Beins und blickte durch den strudelnden Staub zu der beim Hherklimmen des Glieds schon entschwindenden Stelle hinunter, an der er gestanden hatte. Die Erde unter ihm war fort. Er fuhr als Anhalter bei einem Gott mit: Das Leben, das ihm noch verblieb, zhlte jetzt, fr sich genommen, nicht mehr. Er wrde mit diesem Wesen leben, ja, dank ihm wrde er leben - es vor Augen haben und es mit Blicken verschlingen, bis er strbe an purer Unersttlichkeit. Er kreischte und jaulte und schaukelte in den Seilen, kostete so seinen Triumph aus. Unten, weit unten sah er flchtig Judds Krper, bleich und ftushaft in sich verkrmmt auf dem dunklen Boden, unwiederbringlich. Liebe und Leben und gesunde Vernunft waren dahin, dahin wie die Erinnerung an seinen Namen oder sein Geschlecht oder sein Wollen. Das alles bedeutete nichts. Rein gar nichts. Rums... Rums... Popolac war unterwegs, der Lrm seiner Schritte verhallte gen Osten. Popolac war unterwegs, das Lallen seiner Stimme verlor sich in der Nacht. Tags darauf kamen Vgel, Fchse kamen, Fliegen, Falter und Wespen. Judd rhrte sich, Judd verschob sich, Judd schenkte Leben. Maden wrmten sich in seinem Bauch, im Bau einer Fchsin kmpfte man sich durch sein gutes Schenkelfleisch, Danach ging es schnell. Die Knochen noch, ihr Gilben, ihr Zerbrckeln: bald dann nur noch ein leerer Raum, den er einst mit seinem Atem, seinen Ansichten ausgefllt hatte. Dunkel, Licht, Dunkel, Licht. Beide strte er mit seinem Namen nicht mehr. Danksagung Mein aufrichtiger Dank gilt folgenden Personen: Norman Russell, meinem Englischtutor in Liverpool, fr seine frhzei- tige Bestrkung und Ermutigung sowie Pete Atkins, Julie Blake, Doug Bradley und Oliver Parker fr die gleiche Unter- sttzung in der Zeit danach; James Burr und Kathy Yorke fr ihren hilfreichen Rat; Bill Henry fr seinen professionellen Scharfblick und Sachverstand; Ramsey Campbell fr seine Grozgigkeit und Begeisterung; Mary Roscoe fr die gewis- senhafte Entzifferung und Umschrift meiner Hieroglyphen und Marie Noelle Dada aus demselben Grund; Vernon Con- way und Bryn Newton fr Glaube, Liebe und Hoffnung; und Nann du Sautoy und Barbara Boote von Sphere Books.